Veröffentlicht am 18.07.2014TEXT: Claudia KuhnFOTO: Simone Gloor

Vor allem bei Grossfirmen sind Assessments und Eignungstests für angehende Lehrlinge Standard.

Ohne Test keine Lehrstelle

Immer mehr grosse Unternehmen setzen bei der Rekrutierung ihrer Lehrlinge auf Tests und Assessments. Was sich für die Unternehmen bewährt hat, erntet auch Kritik, insbesondere von den Gewerkschaften.

Im August starten Tausende Schweizer Jugendliche in einen neuen Lebensabschnitt. Die Lehre beginnt. Getreu dem Motto: Vor den Erfolg ist der Schweiss gestellt, durchliefen die Jugendlichen im Vorfeld komplexe Bewerbungsprozesse. Wie komplex, zeigen beispielsweise die beiden Grossfirmen IBM und Siemens, bei denen die Jugendlichen neben den üblichen Bewerbungsverfahren mit Lebenslauf, Motivationsschreiben, Zeugnissen und Bewerbungsgespräch auch ein Assessment durchlaufen müssen. 

Für Grossfirmen sind die Assessments ein taugliches Instrument, um aus der Vielzahl der Bewerbenden innert kurzer Zeit eine Auswahl zu treffen. Doch dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) sind solche Verfahren seit Jahren ein Dorn im Auge, da die Messlatte so immer höher gesetzt wird. Ausserdem hätten Assessments wenig Aussagekraft: «Das sind künstlich geschaffene Situationen», sagt Véronique Polito, Zentralsekretärin Bildungs- und Jugendpolitik beim SGB.

Schritt für Schritt zum Erfolg

In einem ersten Schritt prüfen die Unternehmen die Bewerbungen. Bei Siemens etwa nach einem Punktesystem. Die Firma lädt diejenigen mit den meisten Punkten zu einem Assessment von dreieinhalb Stunden ein. Dort ersetzen die Jugendlichen Begriffe in einem Flussdiagramm, schreiben einen Aufsatz, lösen eine technische Aufgabe und müssen sich in einem Vorstellungsgespräch bewähren. Die Erfolgreichen dürfen dann einen halben Tag in der Abteilung schnuppern, in der sie voraussichtlich ausgebildet werden. Laut Auskunft der Medienstelle möchte Siemens mit dem Assessment das Arbeiten unter Zeitdruck, den sprachlichen Ausdruck, das logische Denken und das technische Geschick der Bewerber und Bewerberinnen testen.

Die IBM setzt ebenfalls auf ein eigenes Assessment, um die zukünftigen Lehrlinge besser kennenzulernen. Sie lädt 60 Bewerberinnen und Bewerber in kleinen Gruppen zu einem Selektionsnachmittag. Auf die Jugendlichen warten Rollenspiele, Gruppenübungen und individuelle Aufgaben wie Aufsatzschreiben und Tests zum Kommunikationsverhalten. Das Assessment soll Auskunft geben über Merkmale der Persönlichkeit, den Auftritt, die Eigenverantwortung, Integrations- und Teamfähigkeit, die Leistungsbereitschaft sowie das Engagement. Dieses Verfahren habe sich bewährt, so Susan Orozco, Medienverantwortliche der IBM.

Schnupperlehre mit Hürde

Nach Meinung von Véronique Polito vom Gewerkschaftsbund sollten Unternehmen eher auf Schnupperlehren setzen, um die Jugendlichen besser kennenzulernen. Dies wird vielerorts bereits gemacht. Einige Grossfirmen integrieren in den Bewerbungsprozess nach der Vorselektion eine Schnupperlehre von zwei bis drei Tagen. So auch Coop, Migros, UBS und AMAG. Bei AMAG müssen die Jugendlichen zusätzlich interne Eignungstests absolvieren.

Doch vor die Schnupperlehre haben die meisten Firmen inzwischen eine zusätzliche Hürde gesetzt: den Multicheck. Hierbei handelt es sich um einen standardisierten Test der Firma Multicheck, den die Jugendlichen den Bewerbungsunterlagen beilegen müssen. Jährlich absolvieren über 30 000 Jugendliche einen solchen Test. Abgefragt werden dabei Fähigkeiten für die Berufsfelder Kaufleute, Technologie, Einzelhandel, Gewerbe, Gesundheit und Soziales sowie Beauty. 

Sind die Schulnoten für die Firmen nicht mehr aussagekräftig genug? «Die Schulnoten sind schwer zu interpretieren», sagt der Arbeitsmarktexperte der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), Michael Siegenthaler. «Eine Schulnote sagt nicht nur etwas über die effektiven schulischen Fähigkeiten des Schülers in einem Fach aus. Sie sagt auch etwas über die Leistungsentwicklung aus, die der Schüler durchgemacht hat. Wenn ein schlechter Schüler bessere Leistungen bringt und deshalb eine bessere Note bekommt, dann heisst das noch lange nicht, dass er ein guter Schüler ist.» Das Zeugnis der Schule sage zudem etwas über die Schüler-Lehrer-Beziehung, über die Eltern oder das Geschlecht der Schüler aus, ist Michael Siegentaler überzeugt: «Mädchen bekommen bei gleichen Fähigkeiten beispielsweise bessere Noten als Jungs. Kinder aus bildungsfremdem Hintergrund bekommen schlechtere Noten, als Kinder mit bildungsnahem Hintergrund.»

Auch der Schultyp spiele eine Rolle. So ist eine Schulnote, die ein Jugendlicher am Gymnasium bekommt, nicht mit einer Schulnote der Realschule vergleichbar. Dazu kommt, dass in der Schweiz jeder Kanton ein eigenes Schulsystem hat. All dies erschwert die Beurteilung im Auswahlverfahren: «Am Schluss hat ein Lehrbetrieb ein Zeugnis vor Augen und weiss noch nicht einmal genau, welchen Schultyp der Jugendliche besucht hat. Wenn er den Kontext nicht richtig beurteilen kann, sagt die Schulnote nicht mehr viel aus.»

Die Unternehmen versprechen sich von Tests wie Multicheck einheitliche Massstäbe. Vor allem aber wünschen sie sich einen Test, der ihnen sagt, ob der Jugendliche im Bezug auf seine schulischen und kognitiven Fähigkeiten dazu in der Lage ist, diese Berufslehre zu machen.

Schmähpreis für den Multicheck

2013 verlieh die Unia-Jugend den «Apprentice Simply Ignored-Award» an die Firma Multicheck. Dieser Preis geht an Unternehmen, die die Rechte, Arbeits- und Lebensbedingungen von Lehrlingen missachten. Die Unia-Jugend kritisiert, dass der Test wissenschaftlichen Massstäben nicht Stand halte und der Stellenwert der Zeugnisse durch den Test weiter abnähme.

Michael Siegenthaler hält diese Aussage für zu pauschal. In seiner Masterarbeit zum Detailhandelsmulticheck kam er zwar zum Ergebnis, dass dieser die Berufseignung nicht attestieren kann. Dies vor allem deshalb, weil für den Beruf neben schulischen Leistungen und kognitiven Fähigkeiten, auch andere Faktoren wie etwa Motivation, Sozialkompetenz, Offenheit und Freundlichkeit wichtig sind. Doch könnten seine Erkenntnisse bezüglich Detailhandel nicht auf andere Berufszweige und andere Tests übertragen werden, sagt Michael Sigenthaler. «Allein schon, dass der Test von den Unternehmen so zahlreich angewendet wird, spricht dafür, dass er teilweise sinnvoll ist.» Zudem könne der Test bei der Vorvorselektion für den Betrieb Sinn machen. Denn Jugendliche, die sich die Mühe machten, den Test zu absolvieren und auch noch dafür zu zahlen, überlegten sich genau, ob sie die Lehre wirklich machen wollten. 

Der Umstand, dass die Jugendlichen für den Test zahlen müssen – er kostet 100 Franken – stösst bei den Gewerkschaften auf weitere Kritik. «Das ist eine Diskriminierung Jugendlichen gegenüber, die finanziell nicht so gut dastehen», sagt Véronique Polito. Der Gewerkschaftsbund fordert, dass die Tests auf nationaler Ebene streng reglementiert werden und dass sie für die Jugendlichen gratis sind. Laut SGB müssten Lehrbetriebe den Jugendlichen die Kosten für den geforderten Eignungstest zurückerstatten, unabhängig davon, ob es zu einem Lehrvertrag kommt oder nicht.  

Michael Siegenthaler steht den Kosten für Eignungstests zwar ebenfalls kritisch gegenüber. Doch ist er auch der Meinung, dass der Multicheck gerade benachteiligten Schülern helfen könnte. «Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Elternhäusern landen bei gleichen effektiven schulischen Fähigkeiten häufiger in der Realschule. Das ist spätestens seit den PISA-Tests bekannt.» Weil die Jugendlichen die Realschule anstatt eines höheren Schultyps absolvierten, würden sie von Lehrbetrieben oft als weniger geeignet wahrgenommen, obwohl sie das gar nicht wären. Mit Hilfe des Multicheck könnten sie zeigen, dass Sie genauso viel können wie die Jugendlichen mit Sekundarabschluss.

Einheitlicher Schultest gefordert

Die Vorselektion mittels Eignungstest müsste jedoch nicht zwingend über private Firmen wie Multicheck laufen. Die junge evangelische Volkspartei fordert auf Ihrer Homepage, dass Schülerinnen und Schüler zu Beginn des neunten Schuljahres einen einheitlichen Test machen, der der Bewerbung beizulegen sei. Dieser Test würde den Multicheck ersetzen.  

Einige Kantone haben bereits auf die anhaltende Kritik am Multicheck reagiert. St. Gallen, Obwalden, Aargau, Basel-Stadt, Basel-Land und Solothurn haben eigene Tests initiiert. Im Kanton Genf sind die Unternehmen aufgrund eines Rechtsgutachtens dazu verpflichtet, die Kosten von Eignungstestes zu übernehmen.

Ein gesamtschweizerischer Test würde laut Michael Siegenthaler dem Problem der unterschiedlichen Leistungsausweise zwar entgegenwirken, könnte aber individuelle Auswahlverfahren bei den Firmen nicht ersetzen: «Das Positive an einem schweizweiten Schulleistungstest wäre, dass die Lehrbetriebe anhand dieses Tests die schulischen Leistungen der Jugendlichen vergleichen könnten. Er wäre auch ökonomisch sinnvoll, als Instrument für die Lehrer- und Schulevaluation. Allerdings würde er wenig darüber aussagen, ob der Jugendliche für eine spezifische Lehre geeignet ist. Eine Lücke würde weiterhin bestehen bleiben.»