Veröffentlicht am 06.11.2008TEXT: J. Claude Rohner

J. Claude Rohner

Nostalgie auf dem Petersplatz

jcr. Die Familie Roie ist eine Schaustellerfamilie mit einem Betrieb in der vierten Generation. An der grössten Schweizer Messe, der «Herbschtmäss Basel» (25.10 2008 bis 09.11.2008), hat «der arbeitsmarkt» mit einem Mitglied der Familie gesprochen.

Orgelmusik ertönt nicht mehr. Mike Roie schiebt eine profane CD in die Anlage und drückt auf zwei Knöpfe. Es klingelt und das Karussell setzt sich zur Freude der Kinder und Erwachsenen sanft in Bewegung. Mit der Musik nimmt Mike Einfluss auf die Zielgruppe, die er auf seinem «Geschäft» - so nennen die Schausteller ihre Anlage - haben will. Rauflustige Jugendliche dürstet es nach harten Beats und nicht nach Akkordeons und Streichern.
Mike gehört zur jüngsten Generation der Roies, ein junger Mann um die Zwanzig, der mit Ernst und Leidenschaft Schausteller ist. Sein Ururgrossvater stellte vor 150 Jahren eine dieser wunderbaren fahrbaren Orgeln aus. Der Urgrossvater führte ein Kasperlitheater. Jetzt leben die Roies von traditionellen Geschäften: Ketten- und Pferdekarussell - in Basel «Kettenflieger» und «Resslirytti» genannt.
«Man muss fleissig, sparsam und geschickt sein, will man es in diesem Zweig zu etwas bringen», sagt Mike Roie. Die Devise hat er von seinem Grossvater übernommen, der die Traditionsgeschäfte erwarb, die heute die Existenzgrundlage der Familie und der Mitarbeiter sichern, die mit den Roies zu den Märkten und Messen fahren. In der deutschen Gemeinde Hasselroth hat sich der Grossvater in seinem Haus niedergelassen, die Familie und die Mitarbeiter wohnen in grossen Wohnwagen, die von LKWs gezogen werden.

Die Schaustellerfamilie ist der Kern

Mike Roie erklärt den Unterschied zwischen Schaustellern und Marktfahrern. Letztere haben oft ein Ladengeschäft und bauen auf dem lokalen Markt eine Bude auf. Sie reisen selten und führen im Allgemeinen keine Geschäfte, die über Generationen betrieben werden. Schausteller indes sind ein eigenes Volk. Sie sind weniger Konkurrenten als Kollegen. «Wir helfen uns, und wir suchen uns unsere Freunde unter unseresgleichen. Die Familie ist der Kern. Es herrscht Respekt und Gemeinsinn. Wer so eng aufeinander wohnt und arbeitet, muss zusammenhalten, sich mögen und dieses Leben von Kindsbeinen auf gewohnt sein.» Ein Leben, das anders ist als das der «normalen» Bürger. Mike Roie irritiert allerdings eine solche Differenzierung. Zu Recht, denn es ist einfach eine andere Normalität.
Unter den Schaustellern gibt es grosse und kleine Familien: Schwergewichte mit mehreren Achterbahnen und kleine mit wenigen Geschäften. Charles Senn, Präsident des Dachverbands VSVS (Vereinigte Schausteller-Verbände der Schweiz), nennt die Zahl von rund 350 Schaustellern in der Schweiz.

Schulreisebuch für Schaustellerkinder

Sind die Geschäfte nicht unterwegs, gehen die Kinder der Roies in Deutschland zur Schule. Weil sie manchmal unterwegs eine fremde Schulbank drücken, hat ihnen die Stammschule ein Reisebuch ausgestellt, in dem ihr Verhalten und ihre schulischen Leistungen an anderen Schulen festgehalten werden. Das wird bei den Zeugnisnoten berücksichtigt. Schweizer Schaustellerkinder reisen während der Schulzeit hingegen nicht mit. Sie bleiben bei Verwandten und besuchen regulär die Schule. Mit den unterschiedlichen Schweizer Schulsystemen wäre schon ein Kantonswechsel eine Belastung für das Kind.
Alle Schausteller müssen mit den Unregelmässigkeiten ihres Daseins leben - die Ortschaften wechseln, die Plätze. Vorbeiziehende Scharen, anonyme Gesichter, stereotype Fragen: «Muss ich als Begleitperson auch zahlen? Gibt es bei sechs Tickets Rabatt?» Probleme tauchen auf und müssen rasch gelöst werden. Das Wetter kann einen bösen Strich durch die Rechnung machen. «Regen ist am schlimmsten!» sagt Mike Roie. «Gegen Kälte können sich die Leute leicht wappnen, aber bei Regen bleiben sie zuhause.»

Motoren und Zahnräder werden täglich gepflegt

Die Bahnen werden immer schneller, greller, wilder und bunter. Zwei Jahre sind moderne Bahnen wie «High Energy» oder «Doppel Ranger» die Sensation, dann sind sie wieder passé und eine andere, neuere, noch ausgeklügeltere läuft ihnen den Rang ab. Die Roies setzen auf Tradition: Kein atemberaubendes Wirbeln, dafür ein Augenschmaus für Kinder, Nostalgieliebhaber, Verliebte und Romantiker. Auch diese Bahnen wurden im Lauf der Zeit angepasst. Die Holzteile sind leichteren und stabileren Metallteilen gewichen. Ein altes Karussellpferd wog gute 150 Kilos, und alle Pferde und Kutschen waren an den Holzstreben unterm Dach befestigt. Kein TÜV hielt ein wachsames Auge auf die Funktionalität und Sicherheit wie heute. Die Roies halten ihr Geschäft sorgfältig im Schuss. Täglich pflegen sie die Motoren und Zahnräder, damit sie ihren Dienst pannenfrei erledigen. Reparaturen machen sie selbst. Das geht schneller und kommt nicht so teuer wie ein Werkstattbesuch. Bei einem Traditionsgeschäft ist so etwas möglich.

Leute überlegen zweimal, ob Geld für Bahnen reicht

«In den letzten zehn Jahren ist es mit dem Schaugeschäft abwärts gegangen», sagt Mike Roie. Viele Leute kommen nicht mehr, weil sich pöbelnde und besoffene Jugendliche herumtreiben. Messe-Standorte wie der Petersplatz - Roies Karussell steht hier - mit seinem ruhigen und verträumten Ambiente sind eine hochgeschätzte Abwechslung, umso mehr, als sich bei schönem Wetter eine grosse Menge interessierter und friedlicher Menschen durch die Budengassen drängt.
Die konjunkturelle Lage wirkt sich auf die Rentabilität der Fahrgeschäfte aus. «Kriselt es, überlegen es sich die Leute zweimal, ob sie ihr Geld für Bahnen ausgeben wollen.»
Der Schausteller Mike Roie liebt seinen Beruf trotz vieler Widrigkeiten aus ganzem Herzen. Er schätzt die ständige Abwechslung, die Erfahrungen, die vielen Menschen, das Reisen, die Kollegialität - und eben die Familie, ohne die nichts geht.