Veröffentlicht am 16.05.2012TEXT: Sandra Kyburz

Lotsendienst für die Stifti

sk. «Die Chance – Stiftung für Berufspraxis in der Ostschweiz» hilft lernschwachen Jugendlichen und Lernenden aus sozial schwierigem Umfeld, einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Sie betreut zwischen 300 und 400 junge Menschen jährlich – mit einer Erfolgsquote von über 90 Prozent.

Ana Sofia Moura Nunes kommt im November 2009 in die Schweiz. Sie ist 14 Jahre alt und spricht nur Englisch und Portugiesisch. «Meine Mama lebte und arbeitete schon lange in der Schweiz, und ich hatte grosse Sehnsucht nach ihr», sagt sie. «Der Anfang war sehr schwer für mich. Ich habe die Sprache nicht verstanden und fühlte mich allein.»

Schon im Dezember ist Ana Sofia das erste Mal bei der «Chance». Zusammen mit dem Ausbildungsberater, der ihr zur Seite gestellt wird, findet sie einen Praktikumsplatz in einer Bäckerei. Daneben nimmt sie Deutschunterricht. «Nach zehn Monaten konnte ich zwar noch nicht perfekt Deutsch sprechen, verstand aber schon viel mehr», sagt sie.

Sie habe aber immer mehr als nur ein Praktikum in einer Bäckerei machen wollen, erzählt die heute 17-Jährige. Mit der Unterstützung ihres Ausbildungsberaters bei der «Chance» findet sie einen Praktikumsplatz im Waldhaus Flims Mountain Resort & Spa, der kurz danach in einen Ausbildungsplatz umgewandelt wird. Ana Sofia ist heute mitten in der Ausbildung zur Hotelfachangestellten EBA, bringt gute Noten nach Hause und ist stolz auf das, was sie erreicht hat. «Nun möchte ich noch besser Deutsch lernen und nehme Privatunterricht. Den finanziere ich von meinem Ersparten», sagt sie stolz.

«Die Chance – Stiftung für Berufspraxis in der Ostschweiz», die Ana Sofia in ihrem Werdegang unterstützt, wurde im September 1999 von Markus Rauh anlässlich seines 60. Geburtstags mit einer Einlage von 3 Millionen Franken gegründet. Dank einem weiteren namhaften Beitrag und Spenden der Gäste seiner Geburtstagsfeier verfügte die Stiftung im Frühjahr 2000 über ein Startkapital von 4,2 Millionen Franken.

Rauh, ehemaliger Verwaltungsratspräsident der Swisscom, wurde aufgrund eines Vortrages im Frühjahr 1999 auf die oft schwierige arbeitsmarktliche Integration von Jugendlichen mit auffälligem Sozialverhalten aufmerksam. Er bat den damaligen Leiter des Amts für Berufsbildung des Kantons St. Gallen, ein Projekt zu erarbeiten, mit dem dieser Problematik begegnet werden könnte. Ab Herbst 1999 wurde das Projekt zur Umsetzung vorbereitet und ab dem Frühjahr 2000 als «Die Chance – Stiftung für Berufspraxis in der Ostschweiz» gestartet.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Ziel der Stiftung ist, Jugendliche im Alter zwischen 15 und 22 Jahren zu fördern und zu begleiten, die aufgrund ihrer schulischen Leistungen oder ihres sozialen Umfeldes keinen Ausbildungsplatz finden. Die Stiftung ist in den Kantonen Thurgau, St. Gallen, Graubünden, Glarus, den beiden Appenzell und im Fürstentum Liechtenstein tätig. Helmut Gehrer leitet die «Chance» seit Beginn. Der umtriebige 65-Jährige ist die erste Anlaufstelle für Jugendliche in der Ostschweiz, die Probleme mit ihrer Lehre haben. Sieben Tage die Woche, auch um 2 Uhr nachts, ist er erreichbar. Der ehemalige Rektor der Berufsschule Rorschach geht zwar diesen Sommer in Pension, lässt es sich aber nicht nehmen, nach wie vor mit jedem Jugendlichen ein erstes telefonisches Abklärungsgespräch zu führen.

Gehrer und sein Mitarbeiter Hans Heeb betreuten in den ersten zwei Jahren 50 Jugendliche, die sich bei ihnen Rat und Unterstützung holten. Nach nur zwei Jahren war die Zahl der begleiteten Jugendlichen auf 200 angestiegen. 2010 betreuten die nun fünf Mitarbeitenden 400 Jugendliche. Im letzten Jahr waren es mit rund 300 Jugendlichen etwas weniger. «Die leichte Abnahme hat damit zu tun, dass wir in den letzten Jahren vermehrt auch die schwierigeren Fälle aufgenommen haben – Lehrlinge, die kurz vor dem Stellenverlust stehen, weil sie zum Beispiel exzessiv kiffen, kaum zur Arbeit erscheinen, aus der Schule schlechte Noten mitbringen, schlicht: das soziale Umfeld nicht stimmt», erklärt Gehrer weiter.

Diese Lehrlinge bräuchten eine intensivere Betreuung. Wegen der leichten Entspannung auf dem Lehrstellenmarkt und des Ausbaus anderer Betreuungsangebote, etwa von Berufsberatungen, betreue die Stiftung heute vermehrt Jugendliche mit grossen sozialen Schwierigkeiten, erläutert Gehrer die Entwicklung.

Die akribische Kontrolle dessen, was der oder die Jugendliche mit dem Lehrbetrieb und dem Ausbildungsberater bei der «Chance» vereinbart hat, ist eines der Erfolgsgeheimnisse der Stiftung. Die Vorgabe des Stiftungsrates, dass mindestens 80 Prozent der betreuten Jugendlichen einen Abschluss machen müssen, übertrifft die «Chance» jedes Jahr. Durchschnittlich liegt die Erfolgsquote zwischen 95 und 98 Prozent.

Um diese eindrucksvolle Zahl zu erreichen, werden mit den Jugendlichen individuelle Vereinbarungen ausgehandelt und schriftlich festgehalten. Zum einen schickt der Lernende am Ende jedes zweiten Monats eine vorgedruckte Meldekarte an die «Chance», auf der er festhält, ob er mit seiner Situation zufrieden ist, was sein Lehrmeister zu seinen Fortschritten sagt oder ob er ein Gespräch mit seinem Ausbildungsberater wünscht. Des Weiteren meldet er oder sie sich in regelmässigen Abständen telefonisch oder per Mail bei seinem beziehungsweise ihrem Berater, und am Ende des Semesters werden Kopien des Zeugnisses eingereicht. So sind die Mitarbeitenden der «Chance» immer auf dem neuesten Stand, wie es um ihre Schützlinge steht.

Die Erfolgszahlen können aber auch erreicht werden, weil Helmut Gehrer und seine Mitarbeitenden unmotivierte Jugendliche schon früh aussortieren. Werden Unterlagen nicht eingereicht oder hält sich der Lernende nicht an die Abmachungen, wird die Beratung abgebrochen. Doch auch diese «Abbrecherquote» lässt sich sehen: Die Vorgabe des Stiftungsrats von höchstens 20 Prozent Abbrechern unterbietet die «Chance» durchschnittlich mit nur 4 Prozent. Fühlt sich ein Lernender selbständig genug und ist sich sicher, die Lehre auch ohne die Begleitung durch die «Chance» absolvieren zu können, und stimmt auch sein Lehrbetrieb zu, kann er oder sie sofort aus dem Programm «entlassen» werden. Das sind pro Jahr etwa 40 Lehrlinge.

Doch nicht nur die Lehrlinge werden in Pflicht genommen, auch der Lehrbetrieb muss Vereinbarungen einhalten. So wird Ende Semester ein Bildungsbericht verlangt, der von den Ausbildern unterzeichnet an die «Chance» geschickt wird. Und sie verpflichten sich, bei Schwierigkeiten im Betrieb oder in der Schule unverzüglich den Betreuer bei der «Chance» zu kontaktieren, bevor eine definitive Vertragsauflösung in die Wege geleitet wird.

Selbstvertrauen und Bestätigung

Es sind Lehrkräfte, Eltern, Verwandte oder Institutionen wie die Berufsberatung, das Berufsbildungsamt oder die Sozialen Dienste, die die Jugendlichen auf das Angebot der «Chance» aufmerksam machen. Wie gehen die Mitarbeitenden der Stiftung vor, wie sieht der normale Ablauf aus? «Jeder Jugendliche muss sich vorgängig telefonisch bei mir melden. Dabei erfolgt eine erste Abklärung. Zudem suchen wir das Gespräch mit seinen Vertretern, das heisst mit möglichen Lehrmeistern, Lehrern oder den Eltern», erklärt Gehrer.

Sind die Voraussetzungen für eine Aufnahme in das Programm gegeben, erfolgt eine schriftliche Anmeldung, wobei der Jugendliche seine Papiere geordnet einreichen muss. Dazu zählen Zeugnisse, Berichte des Lehrers, des Lehrmeisters oder der Berufsberatung. Nach einem rund halbtägigen Test und einem persönlichen Gespräch über die Motivation des Jugendlichen und seine Eignungen werden die möglichen Berufe besprochen und anschliessend eine Vereinbarung über das weitere Vorgehen unterzeichnet.

Im zweiten Schritt wird nach geeigneten Betrieben in der Wohnregion des Jugendlichen gesucht. Hier ist der dem Jugendlichen zugewiesene Ausbildungsberater von grosser Bedeutung. «Ich bestehe darauf, dass meine Mitarbeitenden fest in ihrer Region verankert sind und über ein sehr gutes Netzwerk in der Berufswelt verfügen», sagt Gehrer bestimmt. Seine Mitarbeitenden fungieren sowohl als Ausbildungsberater als auch als Sozialarbeiter, Lehrer, Berufsberater und Kontrollinstanz. Ein anspruchsvoller Anforderungskatalog.

So sagt denn Gehrer auch, dass er sich sehr schwergetan habe, einen geeigneten Nachfolger für sich zu finden. Die Vernetzung der «Chance»-Mitarbeitenden in der regionalen Berufswelt ist wichtig, denn sie suchen geeignete Betriebe, die dem Jugendlichen eine Einstiegschance bieten könnten. Der Jugendliche stellt sich dann auf Grund der Liste seines Beraters in den möglichen Betrieben selbst vor und absolviert meist eine Schnupperlehre. In den meisten Fällen kann danach ein Ausbildungsvertrag abgeschlossen werden.

Hier endet die Arbeit der «Chance» aber noch lange nicht. Während der Ausbildung stehen die Betreuer nicht nur ihren Schützlingen zur Seite, sondern unterstützen bei Bedarf auch die Ausbildungsverantwortlichen in den Betrieben und an den Berufsfachschulen sowie die Eltern der Lernenden, zum Beispiel mit moderierten Gesprächen, in die alle Beteiligten einbezogen werden. Zudem können die Jugendlichen an speziellen, zusätzlichen Programmen teilnehmen, den sogenannten Lernateliers, in denen sie relativ selbständig ihre schulischen Leistungen verbessern können. «Es gibt viele Jugendliche, die zu Hause kaum Gelegenheit finden, ihre Aufgaben zu machen, sei es, weil der Platz fehlt oder weil die Familienstruktur es nicht zulässt», erklärt Gehrer.

Mit den Lernateliers bietet die «Chance» in Zusammenarbeit mit den Berufsschulen einen Platz an, wo unter Aufsicht gelernt werden kann. «Die Jugendlichen sind sehr motiviert, wir haben keine Probleme in den Lernateliers», sagt der Stiftungsleiter. Das mag damit zusammenhängen, dass die anwesende Lehrperson nicht fordere, sondern fördere – sprich: auf die individuellen Fragen der Lernenden eingehen könne, was im Regelunterricht wenig bis gar nicht möglich sei. Es tue den Jugendlichen auch gut, zu sehen, dass sie nicht die einzigen mit Problemen sind. «Auch die sich schnell verbessernden Noten steigern das Selbstwertgefühl der Jugendlichen und bestätigen sie in ihrem Tun.»

Auch in den Lernateliers herrscht eine rigorose Kontrolle. Ist ein Teilnehmer nicht zum abgemachten Zeitpunkt im Lernatelier anwesend, wird das seinem Ausbildungsberater gemeldet. Dieser versucht dann, seinen Schützling via Telefon oder SMS zu erreichen, denn die Vereinbarungen müssen zwingend eingehalten werden. Gehrer berichtet aber stolz, dass von den Lehrlingen, die eines der Lernateliers besucht haben, noch keiner bei den Abschlussprüfungen durchgefallen sei.

Ana Sofia übrigens wird in einem Jahr ihre Ausbildung als Hotelfachangestellte EBA abschliessen; was danach kommt, weiss sie noch nicht. «Vielleicht hänge ich ein drittes Lehrjahr an, oder ich gehe erst einmal richtig arbeiten und Geld verdienen. Jedenfalls bin ich glücklich, dass man mir die ‹Chance› empfohlen hat.»

 Die Chance – Stiftung für Berufspraxis in der Ostschweiz

«Die Chance» fördert und begleitet Jugendliche in der Ostschweiz, die aufgrund ihrer schulischen Leistungen oder ihres sozialen Umfelds – trotz positiver Grundhaltung – keinen entsprechenden Ausbildungsplatz finden.

Gründung Im Frühling 2000 nahm die Stiftung für Berufspraxis in der Ostschweiz ihre Arbeit auf. Gegründet wurde sie vom ehemaligen Swisscom-Verwaltungsratspräsidenten Markus Rauh.

Mitarbeitende Fünf Ausbildungsberater teilen sich 450 Stellenprozent, dazu kommen Helmut Gehrer als Leiter der Stiftung (100 Prozent) und eine Sekretärin (50 Prozent).

Zielgruppe Jugendliche im Alter zwischen 15 und 22 Jahren aus den Kantonen Thurgau, St. Gallen, Graubünden, Glarus, Appenzell Inner- und Ausserrhoden sowie dem Fürstentum Liechtenstein.

Berufsfelder Spitzenreiter mit 34 Prozent ist das Berufsfeld «Holz, Industrie, Kunststoff, Fahrzeuge und Technik», gefolgt von «Handel, Logistik, Verkauf und Verkehr» (22 Prozent) und «Ernährung, Gastgewerbe und Hauswirtschaft» (18 Prozent). Ferner wird in den Berufsfeldern «Bau, Installation, Unterhalt und Innenausbau», «Textilien, Bekleidung und Körperpflege», «Gesundheit» und «Natur, Land- und Forstwirtschaft und Tierpflege» Unterstützung angeboten.