Veröffentlicht am 12.03.2008TEXT: Interview Doris Burkhardt Rohrer

«Lasten bleiben ungleich verteilt»

Bei familienpolitischen Massnahmen stehen alleinerziehende Mütter und Väter im toten Winkel: «Ihnen werden alle Lasten aufgebürdet», beklagt Anna Hausherr vom Schweizerischen Verband alleinerziehender Mütter und Väter (SVAMV). Die Folgen seien gravierend.

In der Schweiz leben rund 360000 Menschen mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze. Frau Hausherr, kann Sie diese Aussage noch überraschen?
Anna Hausherr: Ja und nein. Dass es in der reichen Schweiz Armut überhaupt geben kann, erstaunt mich immer wieder. Bei den Einelternfamilien, die besonders betroffen sind, ist Armut entscheidend durch gesetzliche Regelungen bedingt. Angesichts des heute geltenden Scheidungsrechts, des Steuerrechts und der Regelung der Alimentenhilfe überrascht es mich nicht, dass viele Eineltern und ihre Kinder an oder unter der Armutsgrenze leben. Dass die nötigen, gezielten Reformen erst zögerlich angegangen werden, finde ich wiederum erstaunlich.

Welches sind die Ursachen für die schwierige Situation der Alleinerziehenden in der Schweiz?
Es beginnt damit, dass alleinerziehende Eltern Kinderalimente als Einkommen versteuern müssen. Das ist eigentlich systemwidrig: Die Kinderalimente gehören ja den Kindern, nicht den Alleinerziehenden. Und natürlich hat das weitere Konsequenzen: Das fälschlicherweise ausgewiesene, höhere Einkommen führt nicht nur zu Steuern, die viel zu hoch sind im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Vielerorts werden durch die Alimentenbesteuerung auch höhere – weil einkommensabhängige – Krippentarife, Musikschulbeiträge und so weiter fällig. Entlastungen wie Beiträge an die Krankenkassenprämien fallen weg. Wir fordern deshalb unter anderem, dass die Kinderalimente nicht mehr versteuert werden.

Was könnte der Arbeitsmarkt tun, um das Problem der Alleinerziehenden zu entschärfen?
Genau in diese Richtung laufen auch unsere Bestrebungen: Gut entlöhnte Teilzeitstellen sind zentral – im Idealfall kombiniert mit Kinderbetreuungsangeboten, welche fortschrittliche Arbeitgeber heute schon bereitstellen. Sie machen damit gute Erfahrungen, denn Alleinerziehende in solchen Strukturen sind sehr loyale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wichtig ist, dass Alleinerziehende notwendige Qualifikationen erwerben können, wenn diese fehlen, und Zugang zu familienfreundlich gestalteten Aus- und Weiterbildungen haben.

Unterscheidet sich die Lage alleinerziehender Väter von jener der Mütter?
Nur graduell. Alleinerziehende Väter sind in der Regel besser im Berufsleben verankert als alleinerziehende Mütter und verfügen deshalb meist über ein stabiles Einkommen. Wie Männer im Allgemeinen haben sie weniger Lücken in ihren Berufslaufbahnen als Frauen. Eine Spitzenkarriere ist für sie aber genauso schwierig, oder es kann zu Knicken in der beruflichen Laufbahn kommen. Wie die alleinerziehenden Mütter kämpfen die alleinerziehenden Väter mit der Mehrfachbelastung, die das Alleinerziehen mit sich bringt.

In der Schweiz leben 125000 Menschen als Working Poor. Wer ist davon konkret betroffen?
Als Working Poor gelten Personen, die mindestens eine Stunde pro Woche gegen Bezahlung arbeiten und in einem Haushalt leben, dessen Mitglieder zusammen ein volles Erwerbspensum leisten, wöchentlich 36 Stunden oder 90-Prozent-Beschäftigung, und dennoch arm sind. Für die Einelternfamilie heisst dies, dass in der Regel die Mutter oder der Vater die 36 Stunden Erwerbsarbeit in der Woche allein erbringen muss – und dennoch nicht auf einen grünen Zweig kommt.

Und was bedeutet das für die Betroffenen?
Alleinerziehende haben mit 10,3 Prozent die zweithöchste Working-Poor-Quote bei den soziodemographischen Gruppen. Noch schlimmer macht, dass die Kinderbetreuungskosten in der Berechnung des Referenzwerts für die Armutsgrenzen nicht mit einbezogen werden. Würden sie es, wäre die Quote noch einmal höher. Ein volles Erwerbspensum des Haushalts bedingt aber bei den meisten Einelternfamilien unweigerlich eine Vollzeit-Drittbetreuung der Kinder mit entsprechend hohen Kosten, ganz zu schweigen von der extrem hohen Arbeitsbelastung. Die Erwerbsarbeit wird auch hier behindert statt gefördert.

Wer gilt in der Schweiz als arm?
Als arm gilt in der Schweiz, wer sich nicht leisten kann, am Sozialleben teilzunehmen. Für die Entwicklung und die Zukunftschancen der Kinder ist es enorm wichtig, im sozialen Leben eingebunden zu sein, um daran auch teilnehmen zu können.

Vielen Alleinerziehenden macht nicht bloss ihre finanzielle Lage zu schaffen. Sehr oft fühlen sie sich gebrandmarkt und ziehen sich zurück. Was nun?
Finanzielle Lage und Rückzug hängen zusammen. Die gesetzlichen Benachteiligungen, die schlechte finanzielle Lage, die Mehrfachbelastungen und fehlende Anerkennung können das Gefühl verstärken, ausgeschlossen zu sein. Dagegen können Alleinerziehende aber aktiv angehen. Einige Beispiele: sich klar werden, wie das Alltagsleben idealerweise aussehen soll, wenn die anstehenden Probleme gelöst sind. Wichtig ist, langfristige berufliche Ziele zu entwickeln und kleine Umsetzungsschritte dahin zu planen. Die eigenen Leistungen wahrnehmen und anerkennen. Hilfe suchen – bei Beratungsstellen, im persönlichen Umfeld, bei anderen Eineltern, die vielleicht in einer späteren Phase des Alleinerziehens sind oder ein bestimmtes Problem gelöst haben und als Vorbilder motivieren können. Es ist ebenso von grosser Bedeutung, dass sich alleinerziehende Mütter und Väter über ihre Aufgaben, Rechte und Pflichten Klarheit verschaffen. Auch das entlastet.

Es heisst oft, Kinder von Alleinerziehenden seien schwierig. Stimmt das?
Das stimmt nicht und ist ein schon länger widerlegtes Vorurteil. Dazu ein Zitat aus Udo Rauchfleischs Arbeit «Alternative Familienformen»: «Aufgrund der uns heute vorliegenden zahlreichen Untersuchungen zur Entwicklung von Kindern, die in Einelternfamilien aufwachsen, darf als erwiesen gelten, dass Kinder aus Einelternfamilien in keiner Hinsicht unter schlechteren Entwicklungsbedingungen aufwachsen als Kinder aus traditionellen Zwei-Eltern-Familien. Sie verfügen oft sogar über bessere soziale Kompetenzen und eine grössere psychische Reife als Kinder aus Zwei-Eltern-Familien.» Im Alltag ist es allerdings oft so, dass zum Beispiel auffälliges Verhalten bei Einelternfamilienkindern auf die Familienform zurückgeführt wird. Dagegen kommt niemandem in den Sinn, zu vermuten, ein Kind verhalte sich auffällig, weil es in einer Zweielternfamilie aufwächst.