Veröffentlicht am 13.10.2008TEXT: Jan Gunz

Längst integrierte Einwanderer

In der Schweiz leben mehr Roma als Rätoromanen. Doch sie kommen nicht als ­Fahrende. Sie sind sesshaft und leben unauffällig unter uns. Dennoch werden in der ­Debatte um die erweiterte Personenfreizügigkeit Ängste vor den Roma geschürt.

Die Schätzungen schwanken zwischen 30000 und 60000. Genaue Zahlen zu den Roma in der Schweiz gibt es nicht, darf es nicht geben, denn niemand soll seine Ethnie deklarieren müssen. Und die meisten wollen es nicht. Die Angst vor den negativen Vor­urteilen ist stärker als der Stolz auf die ­Herkunft.
Die unsägliche Roma-Familie von Rüsch­likon ZH, angebliche Roma als Prostituierte in Zürich, bettelnde Roma in Genf haben in den Medien und in unseren Köpfen ihre ­Spuren hinterlassen. Eine kleine Minderheit prägt das Bild einer grossen Minderheit, die in der Schweiz integriert ist, Steuern zahlt und nicht durch eine besondere Lebensweise auffällt.

Diskriminierende Sonderlösung ist gesetzlich gar nicht möglich

Mit den Roma wird zurzeit Politik gemacht. Kommen demnächst Scharen von schwer integrierbaren Roma in unser Land? Dieses Szenario wird vor der geplanten Ausweitung des Personenfreizügigkeit auf neu hinzugekommene EU-Staaten Osteuropas in düs­teren Farben ausgemalt. Der Bundesrat und das Parlament wollen Rumänien und Bulgarien in das Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union einbeziehen. Dann könnten Rumäninnen und Bulgaren unter gleichen Bedingungen in der Schweiz Arbeit suchen und sich hier niederlassen wie etwa Französinnen und Deutsche. Über diese erweiterte Personenfreizügigkeit wurde im Mai im Nationalrat lange debattiert. Auch dort waren die Roma ein Thema.
Die Gegner befürchten, dass das wirtschaftliche Gefälle zwischen der Schweiz und den osteuropäischen Ländern noch während Jahren oder gar Jahrzehnten bestehen wird und deshalb eine massive Zuwanderung Arbeitswilliger droht. Als abschreckendes Beispiel verweisen sie auf Italien, das wegen der unkontrollierten Einwanderung von Rumänen in die Schlagzeilen geriet. Viele der illegal nach Italien eingewanderten Rumänen sind Roma.
«Nein zur Masseneinwanderung und ­importierten Kriminalität aus dem Osten»: Mit diesem Slogan versuchte der rechtskonservative Verein young4fun Unterschriften für das Referendum gegen die erweiterte Personenfreizügigkeit zu gewinnen. Als besonders abschreckend werden immer wieder die Roma genannt. «Nicht einmal das kommunistische Ceausescu-Regime habe die Roma unter Kontrolle gehabt», warnte der junge Sankt Galler SVP-Nationalrat und young4fun-Co-Präsident Lukas Reimann im Nationalrat. Kommt es mit der Freizügigkeit auch in der Schweiz zu einer unkontrollierten Einwanderung aus Osteuropa?
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sieht diesbezüglich keine Gefahr. Bereits heute könnten Roma in die Schweiz kommen, wenn sie es denn wollten. Es gebe deshalb keine Legitimation für eine Sonderlösung, welche die Roma benachteilige. Auf Asylgesuche von Roma aus Rumänien und Bulgarien werde nicht eingetreten, da diese Länder als Mitgliedsstaaten der Europäi­schen Union als sichere Staaten gälten.
Anfang September besuchte auch Bundesrätin Doris Leuthard Rumänien. Sie traf dort auch mit Roma-Vertretern zusammen und liess sich über die prekäre Lage der Roma in Rumänien informieren. Trotz Armut und Migrationsdruck glaubt sie nicht an eine Masseneinwanderung. «Die Angst, dass Horden von Roma über unser Land herfallen, ist unbegründet», sagte die Wirtschaftsministerin in einem Interview mit der «Neuen Luzerner Zeitung».

Verbesserungen in der Heimat mindern den Migrationsdruck

Auch für Cristina Kruck von der Roma Foundation ist die Befürchtung nicht begründet: «In Ungarn oder Tschechien leben viele tausend Roma in grosser Armut. Wenn sie in die Schweiz wollten, hätten sie es ja schon versucht. Sie haben keine Chance. Wenn sie in der Schweiz keine Arbeit nachweisen können, bekommen sie keine Niederlassungs­bewilligung. Und als Flüchtlinge bekommen sie kein Asyl.»
Viele Roma besitzen Häuser in ihrer ­Heimat. Das ist ein weiterer Grund, um dort zu bleiben. «Vereinzelte werden versuchen, in reicheren Ländern eine Arbeit zu finden, um ihre Familie in der Heimat zu unterstützen», meint Cristina Kruck. Auch sie rechnet nicht mit einer grösseren Auswanderungswelle, schränkt aber ein: «Voraussetzung ist, dass sich die Lage der Roma in ihrer Heimat verbessert.»