Veröffentlicht am 06.12.2013FOTO UND TEXT: Marc Siegel
Fachkräftemangel in der Pflege Schweiz Kongress Luzern 3.12.2013 Dr. Beat Sottas

Soziologe Beat Sottas präsentiert kreative Lösungsansätze für Probleme in der Pflege.

Kreativ gegen den Fachkräftemangel

Wie soll die Gesundheitsbranche dem immensen Personalhunger in der Pflege begegnen? An einem Kongress der Hochschule Luzern am 3. Dezember 2013 zum Thema «Pflegenotstand Schweiz?» lieferten die Referenten zahlreiche Fakten und Denkanstösse.

Das Fragezeichen hinter dem Kongresstitel könnte Beat Sottas eingefügt haben. Der Soziologe und freischaffende Berater eröffnet seine Präsentation im Hörsaal des Hans Erni Museums mit einem spannenden Gedanken: «Das Schweizer Gesundheitswesen weist a priori keinen Unterbestand an Personal auf, sondern eine Fehlverteilung von Fachkräften.» Sottas belegt seine Aussage mit einem Balkendiagramm aus dem Jahr 2012, das OECD Gesundheitsdaten von drei Dutzend europäischen Ländern im Vergleich darstellt. Die Schweiz ist mit 3,8 Medizinern und 16,9 Pflegefachpersonen pro 1000 Einwohner tatsächlich auf einem der Spitzenplätze zu finden und liegt damit weit über dem Durchschnitt aller EU-Staaten.

Eigentlich hat das Gesundheitswesen einen hohen Bestand an Fachkräften. 

Die Zuhörer können nicht lange bei dieser Statistik verweilen, denn Sottas präsentiert gleich den nächsten Gedankenanstoss: Im Schweizer Gesundheitswesen betrug die Zunahme an Beschäftigten während den vergangenen zehn Jahren 2,6 Prozent pro Jahr. Das ist mehr als doppelt so hoch wie das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungswachstum. Die jüngsten Zahlen dieser Statistikauswertung des Bundesamts für Gesundheit sind allerdings aus dem Jahr 2008.

Extreme Personalfluktuation

Sottas formuliert die Ausgangslage im Gesundheitswesen bewusst so, dass ein «Aber» folgen muss: «Eigentlich hat das Schweizer Gesundheitswesen ja einen hohen Bestand an Fachkräften. Es strebt eine Premiumversorgung an – höchste Qualität mit höchster Dichte und höchster Qualifikation.»

Ein ausgeprägtes Personalfluktuationsproblem in der Pflege macht jedoch einen dicken Strich durch die «Milchbüechlirechnung». Der Arbeitsmarkt ist geprägt durch einen eklatanten Personalverlust über die gesamte Fächer-, Alters- und Beschäftigungspalette der Pflegeberufe hinweg. Bereits junge Pflegefachleute kehren ihrem gelernten Beruf den Rücken. Und die komplette Berufsdauer von 40 bis 45 Jahren weist mehrere «Drop-out-Peaks» auf.

Angesichts der Jobmüdigkeit und infolge ungleichmässiger Verteilung der Fachleute entsteht für Personalrekrutierer im Gesundheitswesen ein grosser Handlungsbedarf. Wie können sie den immensen Personalhunger in der Pflege und in der Medizin stillen?

Denn dieser wird in der Tat immer grösser: Ein Direktionsmitglied des Johns Hopkins Spitals in Baltimore – dieses gilt als eines der besten der Welt – berechnete vor zwei Jahren, wie viele Fachpersonen, also Ärzte, Pflegefachleute und so weiter, in die Pflege jedes Patienten während seines Spitalaufenthalts involviert waren. In den 1970er-Jahren waren dies noch zweieinhalb. Bis Ende der 1990er-Jahre wuchs die Zahl auf 15 an. Und heute sollen in der Schweiz typischerweise über 30 Fachpersonen in die Pflege eines Patienten involviert sein, wie Beat Sottas von einem leitenden Mitarbeiter des Kantonsspitals St. Gallen erfuhr.

«Slow-Motion-Desaster» verhindern

Sottas bringt als Vorhersage im Pflegebereich ein neudeutsches Schlagwort ein: «Slow-Motion-Desaster». Was die WHO für den Anstieg der chronischen Krankheiten benutzt, gilt analog auch für die Workforce: Wenn der Bedarf steigt und der Personalhunger nicht gesättigt wird, muss das Fachpersonal ein stets wachsendes Arbeitspensum bewältigen. In der Folge nehmen die Jobausstiege noch mehr zu. Beat Sottas Lösungsvorschlag: den Blick erweitern und das Rekrutierungsfeld für Personal vor allem nach unten ausdehnen. Die entscheidende Frage, die sich die Verantwortlichen stellen müssten, lautet demnach: «Braucht das Gesundheitswesen wirklich so viele Hochqualifizierte?»

Braucht das Gesundheitswesen wirklich so viele Hochqualifizierte?

Sottas fordert, den Tatsachen ins Auge zu schauen und sie sich zu Nutze zu machen. Bereits heute nehmen Fachkräfte aus dem Sozialwesen und zunehmend auch Betroffene selbst einen Teil der Versorgung an die Hand. «Heute beginnt die Betreuung typischerweise mit einem Case Management, das oft Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder andere sozialwissenschaftlich orientierte Fachleute durchführen. Immer öfter steigen auch Pflegeaussteiger in diesen Arbeitsbereich ein», präzisiert Sottas.

Lücken mit Quereinsteigern füllen

Seiner Ansicht nach müssen wir in Zukunft das Gesundheitspersonal von unten her aufstocken, sei dies, indem wir neue Assistenzberufe schaffen, oder indem wir mehr Quer- und Wiedereinsteiger oder Angehörige aus der häuslichen Versorgung integrieren.

Die Diskussion mit den Forumsteilnehmenden des Kongresses im Anschluss an die Präsentation ist leidenschaftlich und teilweise kontrovers. Das starke Feedback ist ein Beweis für die Brisanz der These: Nur mit kreativen Lösungen können wir unser Gesundheitswesen vor einer Zeitlupenkatastrophe bewahren.

Beat Sottas, 58, wechselte nach rund zehn Jahren Forschung und Lehre an der Universität Bern in die Bundesverwaltung. Dort war er als Leiter des Geschäftsfeldes Bildungspolitik sechs Jahre für die universitären Medizinalberufe zuständig. Seit 2008 ist er selbstständiger Berater. Er ist Mitglied des Leitenden Ausschusses und Stiftungsrat der in der Aus- und Weiterbildung tätigen Stiftung Careum in Zürich.