Veröffentlicht am 14.01.2008TEXT: Mike Niederer

«Eine hoch moralisierte Debatte»

Gewalt, sexueller Missbrauch und Alkoholexzesse von Jugendlichen schrecken die Gesellschaft auf. Ist die heutige Jugend ausser Rand und Band? Nein, betont Jugendberater Raoul Rosenberg im Gespräch. Doch der dreifache Vater sagt auch: «Es wird immer schwieriger, ein Jugendlicher zu sein.»

der arbeitsmarkt: Herr Rosenberg, die Mitglieder der Jungparteien sind zum Teil über dreissig, ein Jungautor kann auch deutlich älter sein. Wer gehört denn eigentlich zu den Jugendlichen?
Raoul Rosenberg: Erwachsenwerden ist ein schleichender Prozess. Die Jugendlichen definieren meiner Ansicht nach selbst, wo das Jugendalter aufhört. Das sind individuelle Ausprägungen. In der Fachwelt gilt etwa 12 bis 21 als Jugendalter. Die UNESCO kennt dieses übrigens gar nicht. In ihrer Definition geht die Kindheit bis 19 Jahre.

Sie sind Jugendberater und Vater von drei Teenagern. Wie erlebten Sie Ihre eigene Jugend?
Das war eine ganz spannende Phase, und ich war nicht darauf erpicht, möglichst rasch ins Erwachsenenleben vorzudringen. Ich hatte auch durchaus ein politisches Selbstverständnis als Jugendlicher und engagierte mich in der Umweltschutzbewegung, lokalpolitisch und im Jugendtreff.

Wie unterscheidet sich die heutige Jugend von der damaligen?
DIE Jugend gibt es heute genauso wenig, wie es sie zu meiner Zeit gab. Wir haben uns damals auch ganz klar abgegrenzt. Wir waren die Freaks, daneben gab es die Popper und viele andere Szenen. Auch heute gibt es unzählige Jugendszenen und -kulturen und auch engagierte Jugendliche. Möglicherweise weniger als in den 80ern, doch die neu aufgeflammte AKW-Debatte könnte wieder zu einer Politisierung der Jugendlichen führen.

Was beschäftigt denn die heutigen Jugendlichen, wenn es nicht politisches Engagement ist?
Sie sind viel stärker mit ihrer unsicheren Arbeitssituation beschäftigt. Viele sind schon im Bewusstsein aufgewachsen, dass sie nicht einen Beruf für das Leben lernen, sondern sich ständig weiterbilden müssen. Jugendliche haben heute ganz andere Anforderungen zu meistern. Was die Freizeit anbelangt, hat sich nicht viel verändert. Die Jugendlichen orientieren sich sehr stark an Mode, die sie selber auch mitprägen, an Musik und auch an der Clique. Nur die Ausdrucksformen haben sich verändert.

Inwiefern denn?
Sie passen sich Trends an. Das gilt nicht nur für Kleider und Musik, sondern auch für die Codes, also Sprache und Gestik. Die Jugendsprache verändert sich. Sie nimmt Ausdrücke aus anderen Sprachen auf, wie etwa im so genannten Jugoslang, der allerdings auch bereits wieder abflaut. Das stösst bei Erwachsenen zuweilen auf viel Kritik, die Jugendlichen gehen aber sehr spielerisch damit um.

Beruhen Konflikte mit Jugendlichen vor allem auf einem Verständigungsproblem?
Ja, oft, und das muss so sein. Einerseits beklagen sich die Jugendlichen, dass sie nicht richtig verstanden werden. Andererseits gehört es zu ihrer Entwicklung, dass sie sich abgrenzen, eben auch durch Sprache und Ausdruck. Es hat durchaus seinen Reiz, sich so auszudrücken, dass die Erwachsenen nichts mehr verstehen. Es geht da auch darum, Grenzen zu suchen und auszureizen. Es ist vielleicht eine Hassliebe, verstanden zu werden und nicht verstanden werden zu wollen.

Wie findet man in Ihrem Beruf eine gemeinsame Ebene mit Jugendlichen, die nicht verstanden werden wollen?
Das finde ich auch nach zwanzig Jahren noch erstaunlich einfach, weil die Leute in der offenen Jugendarbeit nicht mit fixen Rollenbildern wie dem Vater, dem Lehrer oder dem Pfarrer verknüpft werden. Sie haben eine kumpelhafte Aura und werden von den Jugendlichen im Freizeitraum in der Regel akzeptiert.

Schaut man in die Medien, könnte man glauben, die Jugendlichen wollten in ihrer Freizeit nur rumhängen und Party machen.

Von aussen wirkt das so, doch es geschieht sehr viel in der Freizeit. Einerseits müssen sich Jugendliche erholen wie wir Erwachsenen auch. Andererseits ist das aber auch eine sehr anstrengende Zeit. Da geht es nicht nur ums Abhängen und Partymachen, sondern um die Suche nach der eigenen Identität: Wer bin ich? Wie komme ich an bei den anderen? Beim anderen Geschlecht? Welche Rolle habe ich? Was wird einmal aus mir? Diese Fragen werden in der Freizeit und eben auch an Partys geklärt.

Die Gesellschaft wünscht sich angepasste, leistungsfähige Jugendliche, die gut integriert und tolerant sind. Gleichzeitig lebt sie aber einen zunehmenden Individualismus vor. Wie finden sich Jugendliche da zurecht?
Im immensen Angebot an Möglichkeiten eine Orientierung zu finden und Pläne für ihre Zukunft zu machen, ist wohl eine der grössten Herausforderungen für die Jugendlichen. Da brauchen sie Unterstützung, aber das gilt in diesem Bereich auch für viele Erwachsene.

Werden Jugendliche immer früher zu einer Entscheidung bezüglich ihrer Zukunft gedrängt?
Die Erwartungen an die Jugendlichen sind heute sehr hoch. Daher ist es eigentlich erstaunlich, dass wir nicht mehr Jugendprobleme haben. Allein im Bildungsbereich sind die Anforderungen an die Jugendlichen enorm gestiegen.

Woran liegt das?
Das liegt an den Ansprüchen der Erwachsenenwelt generell, aber auch am ungeheuren Tempo, das heute in der Arbeitswelt verlangt wird.

Drohen unsere Jungen ihre Jugend zu verlieren?
Diese Befürchtung haben viele Fachleute. Die Gefahr, dass man der Jugend ihre unbeschwerte Experimentierphase beschneidet, ist tatsächlich gross. Andererseits lässt sich der Trend beobachten, dass Jugendliche heute länger bei den Eltern wohnen. Noch in den 80ern zog man im Alter von 18 oder 20 Jahren aus.

Heute dagegen haben die Jugendlichen weder Job noch Wohnung.
Genau. Sie haben schlichtweg nicht das Geld zum Ausziehen. Und viele Jugendliche in Ausbildung arrangieren sich heute offensichtlich besser mit ihren Eltern. Das ist aber natürlich auch eine andere Elterngeneration.

Liegt da nicht ein enormes Frustpotenzial, wenn man von den Jugendlichen verlangt, Perspektiven zu entwickeln, ihnen aber im dynamischen Umfeld von Ausbildung und Job gar nichts zu bieten hat?
Die Erwartung, dass Jugendliche Perspektiven entwickeln, innovativ sind und Sozialkompetenz entwickeln, ist da. Dafür muss man ihnen aber auch die Lernräume zur Verfügung stellen. Sie können das nicht aus dem Ärmel schütteln, sondern müssen sich ausprobieren können. Das beinhaltet auch, scheitern zu dürfen, ohne gleich verurteilt zu werden. Ich denke, dass diese Fehlertoleranz abgenommen hat.

Hat sich denn die Art, wie die Jugend in der Gesellschaft wahrgenommen wird, in den letzten Jahrzehnten verändert?
Durch die Informationsflut, die hohe Sozialkontrolle und das immer verdichtetere Zusammenleben nimmt man zwangsläufig mehr wahr. Es hat auch eine Sensibilisierung stattgefunden, wie etwa beim sexuellen Missbrauch von Jugendlichen durch Jugendliche. Darum werden auch mehr Fälle gemeldet. Heute greift man eben schneller zum Hörer und ruft die Polizei an, und schon ist es in der Statistik. Wobei ich mit keinem Wort verharmlosen will, was in Seebach und an anderen Orten passiert ist.

Nahm die Toleranz auch unter dem Eindruck von Gewalt-exzessen und deren medialer Begleitung ab?
Diese hoch moralisierte Debatte über gewalttätig gewordene ausländische Jugendliche nehmen die Jugendlichen natürlich sehr differenziert wahr. Das führt zumindest bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur Frage: Wie werden wir hier akzeptiert? Haben wir überhaupt noch eine Chance oder werden wir alle in denselben Topf geschmissen? Zynisch gesagt, ist die Politik von Christoph Blocher in diesem Falle eine gute Politik, denn er wird bei den Jugendlichen gehört. Aber vielleicht ist die Wirkung nicht die richtige. Ich finde das sehr problematisch.

Haben Jugendliche das Vertrauen in die Institution Staat verloren?
Sie hatten vielmehr noch gar nicht die Möglichkeit, Vertrauen in den Staat zu entwickeln. Sie müssen sich erst damit auseinandersetzen können, was der Staat ist. Dafür braucht es eben die ausserschulischen Lernräume. Und was macht der Staat? Er macht den Fehler und geht destruktiv und repressiv mit diesen Jugendproblemen um. Er setzt zu wenig bei den Fähigkeiten an, sondern schaut sich das Ganze defizitorientiert an. Das ist der Grund, dass in vielen Kantonen die Schulsozialarbeit so extrem boomt. Es wäre viel kreativer und lustvoller, bei den Fähigkeiten der Jugendlichen anzusetzen. Das wirkt integrativ. Dieses Verständnis ist bei der polarisierten Debatte über Jugendgewalt noch nicht in der Politik angekommen.

Was lief denn falsch in der Wahrnehmung der Jugend?
Das hat weniger mit der Jugend zu tun als mit der Veränderung unserer politischen Kultur. Man tendiert heute zu einfachen polemischen Lösungen, die mehrheitsfähig sind und Geldflüsse öffnen. Es ist viel einfacher, Geld zu bekommen für Schulsozialarbeit, die sicher viel Gutes leistet, als für das Coaching von Jugendlichen im Freizeitbereich. Da heisst es sofort: Das ist nicht Aufgabe des Staates, sondern der Eltern. Entwicklungspsychologisch stimmt das aber gar nicht. Ausserdem ist die Gestaltung eines gesunden Zusammenlebens der Generationen doch eine der wichtigsten Aufgaben der Politik und der Gemeinden. Warum soll sich der Staat da ausgerechnet bei den Jugendlichen raushalten?

Ist die Rolle der Eltern immer noch dieselbe wie vor dreissig Jahren?
Als Jugendarbeiter meinte ich immer, die Jugendlichen zu verstehen. Als Vater verstehe ich meine Kinder aber tatsächlich nicht immer. Ich sehe meine Rolle so, dass ich ihnen eine gute Beziehungsbasis bieten will. Dass sie Vertrauen haben, und mit echten Sorgen zu mir kommen können. Ich habe aber wenig Verständnis für die Kleidungsvorlieben meines Sohnes, bevorzuge einen anderen Musikstil als er und in seinem chaotischen Zimmer möchte ich nicht leben müssen. Da gibt es bei uns einiges an Auseinandersetzung. Wir müssen lernen, uns miteinander auseinanderzusetzen. Ich setze auch Grenzen, wo das Zusammenleben nicht mehr angenehm ist. Aber so, dass die Beziehung nicht allzu sehr leidet. Ich kann meinem 18-jährigen Sohn nicht verbieten, dass er bei seiner Freundin übernachtet, oder vorschreiben, wann er nach Hause kommt. Da ist der Einfluss der Gesellschaft viel zu gross, als dass ich meine Kinder zuhause anbinden könnte.

Wie würde eine gute Ressourcenverteilung in der Jugend-arbeit aussehen?
Es reicht heute nicht mehr, einfach einen Jugendtreff in der Gemeinde zu führen. Das ist ein Modell von gestern. Jugendpolitik heisst heute, auf der Basis von Wirkungszielen ein Jugendförderungskonzept zu entwickeln, das auf den ganzen Sozialraum ausgerichtet ist, also auch auf den Lebensraum der Jugendlichen. Und man muss sich Strategien überlegen, wie man mit Jugendlichen arbeiten will. Es geht darum, ein Umfeld schaffen, in dem Jugendliche das Gemeinwesen mitgestalten können. So gibt es eine ganze Palette an Aufgaben, die Jugendarbeiter heute haben.

Leisten nicht auch Jugendliche selbst einen wichtigen Beitrag zur Integration?
Ja, das ist richtig. Die meisten Jugendlichen bewegen sich in Cliquen und diese sind natürlich sehr integrativ. Und die Jugendlichen sind relativ tolerant, wenn es um den Hintergrund geht, von politischen Splittergruppen mal abgesehen. Es gibt sehr viele durchmischte Cliquen mit Schweizern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Jugendlichen erbringen in der Clique eine grosse Integrationsleistung.
Missverständnisse gibt es bei Erwachsenen, die glauben, dass man alle Jugendlichen in denselben Räumen erreichen, also die verschiedenen Szenen durchmischen muss. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Cliquen wirkt integrativ.

Was bedeutet das für das Zusammenleben?
Es ist sinnvoll und wichtig, gerade wenn wir von Migration sprechen, dass es in den Gemeinden nicht nur einen Jugendtreff für alle gibt. Die türkischen Jugendlichen sollen ihren eigenen Raum haben, diejenigen vom Balkan auch und auch die Schweizer, um dort ihre jugendkulturellen Bedürfnisse leben können. Dann fühlen sie sich sicher, weil sie das Gefühl haben, sie werden mit ihrem Dasein und ihren Wünschen ernst genommen, weil sie mit ihrer Clique einen Raum haben, wo sie sich entfalten können. Und wenn sie sich sicher und ernst genommen fühlen, dann hat die Gesellschaft weniger Probleme. Das ist die beste Möglichkeit zur Gewaltprävention, eine klassische Win-win-Situation.

Bei der Debatte um Jugendgewalt geht es auch immer um die neuen Medien. Jugendliche kommen über das Internet viel einfacher in Kontakt mit Inhalten wie Pornografie oder Gewaltdarstellungen, die nicht für sie gedacht sind.
Ja, das hat natürlich zugenommen, vor allem was Pornografie betrifft. Bei Gewaltdarstellungen ist das anders. In den 80er-Jahren erlebten Videofilme einen Boom und es wurde bereits damals heftig darüber diskutiert, wie einfach Jugendliche an Gewalt-videos kommen. Ich möchte das aber nicht beschönigen, der einfache Zugang zu diesen Erzeugnissen ist ein Problem. Die Frage, wie man den Konsum neuer Medien jugendgerecht steuern kann, ist eine grosse politische Herausforderung. Und es gibt eine wachsende Zahl Jugendlicher, die ob der Unmenge des Angebots in diesem Bereich keinen Zugang zur Realität mehr finden oder, anders gesagt, zwischen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden können.

Braucht es Einschränkungen der Freiheit oder gibt es andere Lösungen?
Da verhält es sich wie bei vielen legalen Suchtmitteln. Die Jugendlichen müssen einen gesunden Umgang mit diesen Angeboten erlernen. Dazu sind sie grundsätzlich in der Lage. Aber sie müssen unterstützt werden. Sie brauchen Coaching, sei es von den Eltern, von den Lehrern oder von der offenen Jugendarbeit. Es ist wichtig, dass das mit Vertrauenspersonen thematisiert wird.

Nicht alle Jugendlichen scheinen im Umgang mit Suchtmitteln einen gesunden Weg zu gehen. Rauschtrinken und Exzesse mit Partydrogen scheinen, auch bei immer jüngeren, an der Tagesordnung zu sein.
Richtig. Viel zu lange hat der Staat seine Priorität auf die Verfolgung kiffender Jugendlicher gelegt und dabei die Alkoholprävention vernachlässigt. Der Alkoholmissbrauch ist mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Allerdings behindert das totale Verbot von Alkoholausschank in den meisten Jugendeinrichtungen auch das Erlernen eines massvollen Konsums. In der benachbarten Beiz erhält ein 16-Jähriger problemlos und legal so viel Bier, wie er zahlen kann. Sein Konsum wird dort aber nicht thematisiert.

Kann man alle Jugendlichen erreichen oder gibt es Gruppen, die sich verschliessen?
Es gibt Jugendliche, die besonders gefährdet sind. Sie können durch die offene Jugendarbeit erreicht werden. Sie wurden meist schon im Kindergarten oder in der Schule auffällig. Da gibt es grossen Handlungsbedarf. Wichtig ist vor allem, dass die verschiedenen Disziplinen, die mit Jugendlichen arbeiten, sich besser
vernetzen und zusammenarbeiten.

Wer sind denn die stark gefährdeten Jugendlichen?
Das sind Jugendliche, die im Zusammenleben nicht dieselben Chancen haben wie der grösste Teil der Jugendlichen. Das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Das sind auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, schlechten Sprachkenntnissen und Bildungschancen, Jugendliche aus Working-Poor-Familien, aber auch Einzelkinder.

In knapp zwanzig Jahren könnten Sie selbst Grossvater von Jugendlichen sein. Wie wünschen Sie sich diese?
Ich wünsche mir neugierige, engagierte Enkel. Kritische, die etwas ausprobieren und etwas wagen und die auf Menschen stossen, die ihnen die Chance dazu geben, etwas zu wagen.

Welche Gesellschaft wünschen Sie den künftigen Jugendlichen?
Eine Gesellschaft, die toleranter ist als heute. Ich bin diesbezüglich aber pessimistisch. Ich möchte nicht Jugendlicher sein, wenn meine Enkel in diesem Alter sein werden. Ich glaube, es wird in den nächsten dreissig Jahren schwieriger werden, ein Jugendlicher zu sein.