Veröffentlicht am 16.07.2008TEXT: Interview von Rémy Limpach

«Eine Wirtschaft ohne Ethik zerstört sich selbst»

Mario von Cranach*, eremitierter Professor an der Universität Bern, über Nahrungsmittelspekulanten, räuberische Wikinger und soziale Verantwortung in der Wirtschaft.

Welche Rolle spielen Ethik und Moral in der Wirtschaft?
Mario von Cranach: Um die Begriffe zu klären: Moral betrifft die auf gesellschaftlichen Wertvorstellungen beruhenden Richtlinien für unser Handeln; Ethik ist das (auch philosophische) Nachdenken über Moral. Wirtschaft ist ein Teil der Gesellschaft, der sie dienen soll. In der Gesellschaft aber gibt es keine moralfreien Räume, sie hielte sonst nicht zusammen. Wirtschaft ist nur erfolgreich, wenn sie ethische Grundsätze berücksichtigt. Eine Wirtschaft ohne Ethik zerstört sich selbst. Wirtschaftliches Handeln ausserhalb der Gesellschaft wird, wenn moralfrei betrieben, eine Art Raub. Man denke an die Wikinger, die Handel zu Hause und an festen Handelsplätzen und Raub auf hoher See betrieben!

Welche Wirtschaftsbereiche sind aus Ihrer Sicht sozial schädlich?

Die Spekulation mit Lebensmitteln, also mit der Lebensgrundlage anderer, ist moralisch verwerflich. Die Anonymität an der Börse kann eine Bedingung dafür sein, sich an der Grenze des moralisch Vertretbaren zu bewegen. Die Finanzmärkte sind unterreguliert, was zu Extremfällen räuberischen Verhaltens führen kann. Oft sind Spekulanten an Krisen beteiligt. Erdöl beispielsweise wird heute mehrfach gehandelt, bis es beim Verbraucher ankommt - und wird so immer teurer, nicht nur wegen steigender Nachfrage und sinkendem Angebot. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln, also der Lebensgrundlage Anderer, ist für den Preisanstieg und für die Nahrungsmittel- und Hungerkrise in vielen Ländern mitverantwortlich. Spekulanten, darunter auch Hedge Funds und institutionelle Anleger wie Pensionskassen, haben sich von den Finanzmärkten abgewendet und auf den Nahrungsmittelmarkt gestürzt. Ein verschärfender Faktor der Hungerkrise ist in jüngerer Zeit zudem die Produktion von Treibstoffen aus Nahrungspflanzen. Die Mobilität der Reichen scheint wichtiger als der Hunger der Armen zu sein.

Was können wir aus ethischer Sicht aus der Wirtschaftsgeschichte lernen?

Dass eine massvolle Regulierung und Kontrolle in der Marktwirtschaft nötig sein kann, damit das System für die Gesellschaft sozial tragbar bleibt. Der Allmacht des Marktes blind zu vertrauen, kann sehr gefährlich sein. Der Frühkapitalismus war für das Entstehen des Kommunismus, die Weltwirtschaftskrise 1929 für das des Nationalsozialismus neben anderen Ursachen mit verantwortlich. Die Marktwirtschaft ist aber insgesamt das beste bekannte Wirtschaftssystem, und natürlich müssen Unternehmen Gewinne machen. Ausnahmen scheinen Grossfirmen zu bilden, welche faktisch eine Staatsgarantie geniessen. In vielen Bereichen werden auch heute wie schon immer die Gewinne privatisiert, aber die Kosten bei Rückschlägen sozialisiert. Eine völlig freie Marktwirtschaft kann nicht existieren. Und es war auch nicht eine «freie» Marktwirtschaft, die unseren heutigen Wohlstand hervorgebracht hat.

Wer oder was dann?
Von etwa 1950 bis Mitte der achtziger Jahre hatten wir in England und in anderer Art in den skandinavischen Ländern einen demokratischen Sozialismus, in Frankreich eine vom Zentralstaat kontrollierte Wirtschaft, in Japan und den Tigerstaaten Südostasiens eine staatlich gelenkte Wirtschaft mit aggressiver Export- und defensiver Importpolitik und in Deutschland die «soziale Marktwirtschaft» mit dem Ziel, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des Ausgleichs in der Gesellschaft zu verbinden. Diese sehr verschiedenen Wirtschaftssysteme haben den grossen Erfolg produziert, nicht etwa eine «freie» Marktwirtschaft.

Und seither hat sich die Lage verschlechtert?
Die Sozialinstitutionen wurden unbezahlbar, die Kosten für die Aufrechterhaltung der Gleichheit zu hoch. Heute «neoliberal» genannte Wirtschaftswissenschaftler wie Friedrich von Hayek und Milton Friedman beeinflussten mit pointierten Thesen vom Segen des freien Marktes und gegen die Allmacht des Staates das politische Denken in den USA Ronald Reagans bereits in den 1980ern. In Europa fand diese Entwicklung etwas verzögert statt. Hätte Margaret Thatcher den riskanten Falklandkrieg 1982 nicht gewonnen, hätten die Engländer sie wegen ihrer harten Sozialpolitik wohl abgewählt. Ein Motiv für die hohen Sozialausgaben in Westeuropa war auch der soziale Wettbewerb mit den sozialistischen Ländern. Der Osten wurde am Ende nicht nur militärisch, sondern auch sozial kaputt gerüstet. Ab 1989 erfolgte in Europa der Durchbruch der Fiktion von der «Freiheit des Marktes». Nun wurde das auf Ausgleich bedachte System in vielen Ländern heruntergefahren.

War denn die Wirtschaft der sozialistischen Länder je eine ernsthafte Alternative für das westliche Wirtschaftsmodell?
Nein. In den sozialistischen Ländern lag vieles im Argen, vor allem was die persönliche Freiheit und den Wohlstand betrifft. Aber zum Beispiel die DDR war ein Land mit hoher sozialer Sicherheit, solange man nicht politisch aufmuckte. In diesem gesellschaftlichen Bereich war sie dem Westen überlegen. Doch dieser Aufwand nagte an der Substanz, das Gerüst war marode - und es gab zu wenige Investitionen. Der Kollaps war eine Frage der Zeit.

Was kann getan werden, um die Weltwirtschaft für mehr ethisches Handeln zu sensibilisieren?
Katastrophen erleichtern die Selbstbesinnung. Der Glaube an die Richtigkeit extrem liberaler Thesen wird zunehmend hinterfragt. Eine der zentralen Thesen Milton Friedmans besagt, dass die einzig soziale Verantwortung einer Firma die Gewinnmaximierung sei. Viele wissenschaftliche Untersuchungen zeigen indes, dass Unternehmen, die ihre soziale Verantwortung wahrnehmen, finanziell keineswegs schlechter fahren; ganz im Gegenteil erzielen sie, wenn sie sonst gut wirtschaften, mindestens langfristig sogar höhere Gewinne. Gewinn ist jedoch nicht alles, die Wirtschaft soll zum Beispiel auch soziale Sicherheit, Lebenssinn und eine gute soziale Umgebung produzieren. Zum Glück handeln sehr viele, wenn nicht die meisten Unternehmen sozial in diesem Sinne. Es werden aber neben einer sozial verantwortlichen Wirtschaft auch einige staatliche Interventionen nötig sein, zum Beispiel in der Regulierung der Finanzmärkte. Man müsste sich auch überlegen, wie man das System entschleunigen kann.

Wie soll die Gesellschaft auf räuberisches und unsoziales Verhalten reagieren?
Sozial schädliches Handeln sollte durch nationale und internationale Konventionen verhütet, geächtet und geahndet werden, soweit wie möglich auch auf freiwilliger Basis. Im Grossen, in der globalen Wirtschaft, müssen bessere ordnungspolitische Rahmenbedingungen, Schranken und Anreizstrukturen geschaffen werden. Die vielen bestehenden Institutionen sind kein Ersatz für eine funktionierende Weltregierung. Es existieren wohl rund fünfzig internationale Organisationen wie WTO, FAO, IWF und andere, aber sie kooperieren zu wenig. Im Kleinen soll ein jeder an seinem Platz angemessene persönliche Verantwortung übernehmen.

Was ist für Sie ein sozial verantwortliches beziehungsweise vorbildliches Unternehmen?
Ein ideales Unternehmen verfolgt Ziele, die weit über den reinen Gewinn hinausgehen und auf ethischen Grundlagen wie sozial verantwortliches Handeln, Transparenz, Nachhaltigkeit und Umweltschutz beruhen. Aber wir leben nicht in einer idealen Welt. Schon das Bemühen um moralische Verantwortung, um Ziele in einzelnen Bereichen hilft zu einem besseren Leben.

*Mario von Cranach, geboren am 10.2.1931 in Berlin, studiert an den Universitäten Köln, Bonn und München Jurisprudenz, bevor er sein Psychologiestudium beginnt. Er schliesst es mit einer Dissertation an der Universität München ab. Von 1964 bis 1971 leitet Mario von Cranach die Arbeitsgruppe für Sozialpsychologie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. 1971 erhält er einen Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Bern. In den Jahren 1977/78 wird von Cranach Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Bern. 1996 folgt die Emeritierung. Seit 1999 engagiert sich von Cranach u.a. im Netzwerk für sozial verantwortliche Wirtschaft.