Veröffentlicht am 29.07.2013FOTO UND TEXT: Ramona Riedener

Streikende am 4. Novmeber 2002

Eine Erfolgsgeschichte für das Bauhauptgewerbe

«40 Jahre sind genug! – Rentenalter 60 jetzt!» stand auf strassenbreiten Spruchbändern. Die Bauarbeiter hatten einen grossen Teil der Bevölkerung auf ihrer Seite. Heute, zehn Jahre nach der Einführung des flexiblen Altersrücktritt (FAR) im Bauhauptgewerbe, sprechen die Baumeister, die damaligen Gegner, von einer Erfolgsgeschichte. 

Robert Biasi wohnt mit seiner Frau in einer hellen Parterrewohnung in Engelburg (SG). Der 73-jährige Rentner wirkt sehr rüstig. Er ist schon seit gut zehn Jahren pensioniert: Der gelernte Strassenbauer war einer der ersten, der am 1. Juni 2003 in den flexiblen Altersrücktritt (FAR) ging.

Das Mitglied der Gewerkschaft Syna wollte schon immer vor dem ordentlichen Rentenalter aufhören zu arbeiten. «Mit 65 ist man im Bau ein alter Mann», sagt er. Biasi war im Strassenbau tätig. «Im Sommer machte ich nie Ferien, sondern nutzte die langen Tage und machte Überzeit.

Die angesammelte Überstunden und Ferien habe ich eingesetzt um den Winter zu verkürzen und mit meiner Frau einige Wochen in Gran Canaria zu verbringen.» Wegen des guten Klimas dort und der längeren Arbeitsunterbrüche habe er weniger Beschwerden gehabt als die meisten Berufskollegen, meint er.

Die Liste ist dennoch lang: «Chronische Entzündung im Rücken, Probleme mit dem Gehör wegen des Lärms der Baumaschinen und Beschwerden mit dem Hüftgelenk. Aber das sind Abnützungserscheinungen, die haben andere auch», sagt er. Als er sich Ende 2002 nach den Möglichkeiten einer vorzeitigen Pensionierung bei seinem Arbeitgeber erkundigte, sagte ihm dieser, er müsse noch ein halbes Jahr arbeiten und könne dann regulär als 63-Jähriger in den FAR gehen. 

Stufenweise Einführung

Damals hatten sich die Sozialpartner nach langjährigem hartem Ringen gerade auf die stufenweise Einführung des FAR geeinigt, Bauarbeiter konnten ab 63 Jahren in Rente gehen (siehe Kasten).

«Wir konnten es kaum glauben, meine Frau und ich. Am Anfang war ich enthusiastisch. Dann musste ich lernen, meinen Tagesablauf zu regeln, denn ich habe mich in alles eingemischt, vor allem in den Haushalt meiner Frau », erinnert Biasi an die erste Zeit seiner Pensionierung. 

Nebenbeschäftigung nach FAR

Sich daran gewöhnen, nichts zu tun mit 63 Jahren, musste auch August Bischofberger aus Goldach, der im Jahr 2011 in den FAR ging. Ein halbes Jahr hielt der frühere Polier das Nichtstun aus. Dann verunfallte ein ehemaliger Arbeitskollege, und der Frührentner wurde vom Exchef angefragt, ob er aushelfen könne.

FAR-Rentnern ist es erlaubt, bis zu einem Freibetrag von rund 20 000 Franken im Bauhauptgewerbe und etwa 10 000 in anderen Branchen dazuzuverdienen. August Bischofberger übernahm für zwei Monate die Vertretung. Heute arbeitet er für seinen Schwiegersohn im Baunebengewerbe jeweils an einem Tag pro Woche und erreicht so gerade den zulässigen Betrag. 

Diese Regelung begrüssen auch die Baumeister. «Es ist eine Win-Win-Situation», sagt Roman Bischof, eidgenössisch diplomierter Baumeister bei Implenia und Präsident der paritätischen Berufskommission Bauhauptgewerbe St. Gallen. «Wir können auf die Erfahrungen unserer alten Mitarbeiter zurückgreifen und saisonale Engpässe überbrücken. Und diese sind oft froh, zwischendurch noch gebraucht zu werden und etwas dazuzuverdienen.»

Mit Schwarzarbeit, also Einkommen, das verdient wird, ohne dieses bei der Stiftung FAR anzugeben oder bei der Steuerbehörde zu deklarieren, habe es bis heute kaum Probleme gegeben. Es käme höchstens vor, dass pensionierte Bauarbeiter Freunden und Verwandten beim Bauen helfen. Diese Aufträge würden natürlich an den Baufirmen vorbei gehen, meint der Chef von Implenia St. Gallen. 

Die Gesundheit steht im Vordergrund

Hinter dem gesundheitlichen Aspekt, der für eine vorzeitige Pensionierung der Bauarbeiter sprach, standen grundsätzlich auch die meisten Baumeister. So auch Roman Bischof, «Ich fand den FAR eine gute Sache. Die Arbeit beansprucht und belastet die Leute auf dem Bau körperlich sehr stark », sagt er. «Aber auf der anderen Seite befürchteten wir Baumeister, dass das Bauen durch die Frühpensionierungen teurer würde. Denn irgendwer muss die Sache ja finanzieren. Wir konnten die Kosten nicht unseren Mitarbeitern alleine auflasten».

Im Bauhauptgewerbe waren die Löhne bereits überdurchschnittlich hoch im Vergleich zu anderen Branchen. Deshalb befürchteten Bischof und andere Arbeitgeber, dass sich nur noch die einkommensstärksten Schichten das Bauen leisten können. Das hätte zu einem starken Rückgang der Bautätigkeiten, bis hin zum Konkurs von Baufirmen führen können. 

Die Finanzierbarkeit war der Grund, warum es mehrere Jahrzehnte brauchte, bis die Frühpensionierung Realität wurde. Polier August Bischofberger, der bei den Vertragsverhandlungen zwischen den Sozialpartnern als Delegierter der Gewerkschaft GBI dabei war, erinnert sich: «Die Baumeister sahen zwar ein, dass ihre Arbeiter dringend eine Entlastung brauchten. Sie wollten uns zuerst nur eine 50-Prozent-Übergangsrente geben. Damit hätten die weniger qualifizierten Bauarbeiter nicht existieren können. Aber gerade diese Kollegen liefen teilweise auf allen Vieren und waren in sehr schlechter körperlicher Verfassung».

Dann endlich, nach einem Landesweiten Streik im November 2002, war es geschafft: Die Baumeister stimmten der Einführung der Frühpension im Bauhauptgewerbe zu. 

Heute, zehn Jahre nach der Einführung des FAR, seien die positiven Folgen erwiesen, sagt Ernst Zülle, Stiftungsrat FAR sowie Zentralsekretär und Branchenleiter Bau bei der Gewerkschaft Syna. Deutlich weniger Bauarbeiter würden in die Invalidenversicherung abgeschoben oder kurz vor der Pension entlassen, wie das vor 2003 häufig der Fall war.

Dies macht sich laut Zülle auch dadurch bemerkbar, dass die Risikoversicherungen der Pensionskassen in der Baubranche erheblich gesenkt werden konnten. «Das Ziel, ein würdiger Abgang für die Bauarbeiter, konnte durch den FAR erreicht werden.» 

Über 10 000 FAR Rentner

In den letzten zehn Jahren sind über 11 000 Bauarbeiter in den FAR gegangen. Das seien über 1 000 Neuzugänge pro Jahr, sagt Sandra Gisin, Geschäftsführerin der Stiftung FAR. «Erst kürzlich wurde die erste Frau frühpensioniert». Der FAR funktioniert mit dem sogenannten Umlagerungsverfahren, gleich wie die AHV. Die Lohnanteile, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen, werden in Form von Renten an die FAR-Rentner wieder ausbezahlt.

Mit dem Erreichen des ordentlichen Pensionsalters fallen die FAR-Rentner weg, was die Finanzierbarkeit kalkulierbar macht – im Gegensatz zur AHV, die mit der Lebenserwartung rechnen muss. So steht der FAR heute mit einem Deckungsgrad von 122.3 Prozent sehr gut da.

Einen kleinen Rückschritt gab es in Folge der Wirtschaftskrise im Jahr 2008, wo eine leichte Unterdeckung vorlag. «Wir konnten schnell reagieren. Für kurze Zeit mussten die Bauarbeiter ein halbes Jahr länger arbeiten», sagt Sandra Gisin. Von dieser Massnahme betroffen war auch Polier August Baumgartner. Doch für ihn sei das kein Problem gewesen, weil er ja trotzdem viereinhalb Jahre vor dem ordentlichen Pensionsalter in den Ruhestand gehen konnte.

Anfangsschwierigkeiten bei der Einführung des FAR habe es gemäss Geschäftsführerin Sandra Gisin kaum gegeben. «Wir haben die Firmen sehr rasch dem Gesamtarbeitsvertrag FAR unterstellt und diese haben die FAR-Beiträge einbezahlt, die die Rentenzahlungen sicherten», erläutert sie. Die Unterstellung und Einstufung der Betriebe sei aber heute noch ein wichtiger Teil der Arbeit der Stiftung. Ob Betriebe bauhauptgewerbliche Arbeiten ausführen und somit dem Gesamtarbeitsvertrag FAR unterstellt werden, nehme viel Zeit in Anspruch und sei manchmal nicht ohne gerichtlichen Beschluss zu klären, sagt die FAR-Geschäftsführerin.

So fällt zum Beispiel der Gartenbau grundsätzlich nicht unter das Bauhauptgewerbe, und nicht unter den GAV FAR, auch wenn Firmen teilweise bauliche Arbeiten ausführen. Ebenso wenig wie Firmen, die Metallgebäude errichten. Die Stiftung bearbeitet auch Einzeldossiers. Manchmal müssen sie Gesuche ablehnen, weil der betreffende Arbeitnehmer zum Beispiel zu wenig Jahre im Baugewerbe gearbeitet hat oder durch Krankheit einen zu grossen Unterbruch hatte. Dabei entstehen gemäss Sandra Gisin auch Schicksalsschläge, wenn der Gesuchsteller keinen Anspruch auf FAR-Rente hat.

Ein Vorzeigemodell mit Zukunft

Für Stiftungsrat Ernst Zülle ist es vorstellbar, die Leistungen des FAR auszuweiten. Dabei denkt er unter anderem an eine 13. Monatsrente. Die Rente sei etwa gleich hoch wie der ausbezahlte Nettolohn früher, einfach mal 12 nicht mehr mal 13, sagt auch Rentner Robert Biasi.

Das Model FAR eins zu eins in anderen Branchen umzusetzen, ist leider, laut Ernst Zülle, auf Widerstand gestossen. Dadurch, dass in anderen Branchen deutlich weniger Arbeitnehmende beschäftigt sind, wäre das Ganze schwierig finanzierbar. «Doch es gibt bereits andere Formen von Frühpensionierungen und Teilpensionierungen in verschiedenen Branchen», sagt Zülle. Beim FAR Gerüstbau, der nicht unter den FAR Bauhauptgewerbe fällt, zahle jeder Beschäftigte in eine Art 3. Säule auf ein persönliches Konto. Dieses Geld bekomme er dann als Übergangsrente oder es wird ihm als Freizügigkeitsleistung weitergegeben, wenn er die Branche wechselt. Ein Vorzeigemodell ist der FAR des Bauhauptgewerbes auf jeden Fall, sind sich Sandra Gisin, Ernst Zülle und Roman Bischof einig.

Für einen würdigen Altersrücktritt 
Ausgangslage Die harte Arbeit auf dem Bau, bei Wind und Wetter draussen zu sein, hinterlässt Spuren bei den Arbeitern. Statistiken belegen, dass viele Bauarbeiter vor Erreichen des Pensionsalters gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind, ihren Beruf auszuüben und IV-Rentner werden. Oder sie verlieren ihre Stelle, weil sie die Leistung nicht mehr erbringen können und werden dann in die Arbeitslosenversicherung abgeschoben. 
Verhandlungen Bereits in den 1970er Jahren diskutierten deshalb die Sozialpartner, die Gewerkschaft Bau und Industrie GBI (heute Unia) und der christliche Holz- und Bauarbeiterverband CHB (heute Syna) mit dem Baumeisterverband über eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe. Ziel dieser Verhandlungen war, einen früheren und damit würdevolleren Altersrücktritt für die Bauarbeiter zu erreichen. 
Proteste Im Jahr 2002 stimmten die Baumeister zuerst einer Frühpensionierung mit 60 Jahren zu, doch die Delegierten lehnten die Vorlage an ihrer Delegiertenversammlung ab. Dies löste bei den Bauarbeitern grosse Empörung aus, so dass die Gewerkschaften zu landesweiten Protestaktionen und Streiks aufriefen. Bei diesen Aktionen haben die beiden grössten Schweizer Gewerkschaften GBI und Syna das erste Mal gemeinsam für die Interessen ihrer Mitglieder kämpften. Da ein weiter Teil der Schweizer Bevölkerung die Notwendigkeit einer Pensionierung der Bauarbeiter mit 60 sah, unterstützte sie diese Arbeitskämpfe. 
Streiktag Am 4. November 2002 riefen die Gewerkschaften zu einem Nationalen Streiktag auf. Das war der grösste Streik seit 55 Jahren. Landesweit legten über 15 500 Bauarbeiter ihre Arbeit nieder, aus allen Branchen zeigten Arbeitnehmende ihren Kollegen im Bau ihre Solidarität mit ihrer Teilnahme am Kampftag. «Der Kampf hat sich gelohnt», lauten die Schlagzeilen auf den Flyers der Gewerkschaften wenig später nachdem sich die Sozialpartner auf eine stufenweise Frühpensionierung geeinigt hatten. 
Einführung Am 1. Juli 2003 konnten die 63- und 64-jährigen Bauleute, ab dem
1. Januar 2004 die 62-Jährigen, ab 2005 die 61-Jährigen und ab 2006 alle 60-Jährigen in Rente gehen. 
Branchenlösung Der FAR ist eine reine Branchenlösung des Bauhauptgewerbes. Das heisst, die Übergangsrente wird von den Arbeitgebern mit vier Prozent und den Arbeitnehmern mit einem Prozent der Lohnsumme finanziert. Die Rente beträgt 70 Prozent des letzten Bruttolohnes plus einen jährlichen Grundbetrag von 6000 Franken. Die AHV- und Pensionskassenbeiträge während der Frühpensionierung bis zum ordentlichen Pensionsalter zahlt die Stiftung FAR für die Rentner. 
Anspruch Damit die Stiftung FAR einen Anspruch prüfen kann, muss das Gesuch mindestens ein halbes Jahr vor Rentenbeginn eingereicht werden. Anlaufstellen für die Beratung und Ausfüllung des Gesuches sind die Gewerkschaften. Verschiedene Kriterien müssen erfüllt sein, um vom FAR profitieren zu können. So muss ein Rentenbezüger vor dem Leistungsbezug mindestens 15 Jahre der letzten 20 Jahre, davon die letzten sieben Jahre ununterbrochen, im Bauhauptgewerbe gearbeitet haben. 
Umsetzung Die genauen Bestimmungen sind im Gesamtarbeitsvertrag (GAV) FAR geregelt. Dieser hält auch fest, welche Arbeiten zum Bauhauptgewerbe gehören und welche Firmen mit ihren Mitarbeitenden folglich dem GAV unterstellt sind. Für die Unterstellung dieser Firmen, die Einhaltung der Bestimmungen und die Durchsetzung ist die Stiftung FAR zuständig. Auch der finanzielle Teil des FAR, wie die Auszahlung der Renten und Inkasso der Beiträge wird über die Stiftung abgewickelt.