Veröffentlicht am 08.04.2014TEXT: Joël FreiFOTO: Simone Gloor

Die Einführung des Mindestlohns könnte zu mehr Schwarzarbeit in der Landwirtschaft führen.

Mindestlohn muss keine Jobs kosten

Im Vorfeld der Abstimmung zur Mindestlohninitiative wird emotional argumentiert. Das Hauptargument der Arbeitgeber: Die Einführung eines Mindestlohns vernichtet Arbeitsplätze. Ökonomen relativieren diese Behauptung mit neuen Erkenntnissen.

Alle Arbeitnehmenden sollen mindestens 22 Franken pro Stunde oder umgerechnet 4000 Franken monatlich verdienen. Dies verlangt die Mindestlohninitiative, die am 18. Mai zur Abstimmung kommt. Die Abwehrhaltung der Wirtschaftsvertreter gegenüber der Einführung eines Mindestlohns ist offensichtlich. Letzte Woche liess sich Migros-Chef Herbert Bolliger zur Aussage hinreissen: «Wer zu wenig verdient, soll sich einen anderen Job suchen.» 

Diese Sicht der Dinge ist weit verbreitet unter Unternehmern. Für viele von ihnen gibt es keine namhaften Unterschiede zwischen Arbeitsmarkt und Gütermarkt. Die Festsetzung des Lohns im Arbeitsmarkt funktioniert demnach wie die Preisbildung in einem freien Gütermarkt: Wer das Buch im Laden zu teuer findet, bestellt es sich einfach per Internet. In dieser Logik sind Arbeitsplatzwechsel folglich kein Problem. 

Was in dieser Weltsicht nicht beachtet wird, ist die ungleiche Position bei den Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgebern auf der einen und Arbeitnehmern auf der anderen Seite. Viele «menschliche» Faktoren beeinflussen die Festsetzung des Lohns, da es im Arbeitsmarkt eben nicht um Güter geht, sondern um Menschen. Überlegungen wie «Der Verdienst ist zwar nicht so gut, dafür muss ich nicht pendeln» oder «Dafür ist die Kinderkrippe gleich um die Ecke» können den Entscheid beeinflussen, eine Arbeitsstelle anzunehmen oder nicht. Der Arbeitsmarkt ist zudem alles andere als ein optimal funktionierender Markt, da er sehr intransparent ist: Die Arbeitnehmer wissen nicht, wo sie den besten Arbeitsplatz finden, und die Unternehmen wissen nicht, welcher Bewerber auf eine offene Stelle optimal passt.

Economiesuisse: Arbeitslosigkeit die Folge

Das Hauptargument vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und dem Schweizerischen Gewerbeverband (SGV): Die Einführung eines Mindestlohns vernichtet Jobs. Doch unter Ökonomen besteht schon seit Mitte der Neunzigerjahre kein Konsens mehr über die negativen Auswirkungen eines Mindestlohns auf den Arbeitsmarkt.

Economiesuisse stützt sich bei seinen Argumenten gegen den Mindestlohn auf das sogenannte neoklassische Modell, welches davon ausgeht, dass der Arbeitsmarkt ohne staatliche Eingriffe effizient funktioniert und sich ein Marktlohn automatisch einpendelt. Unter Marktlohn wird ein Gleichgewichtslohn verstanden, bei dem die Produktivität des Arbeitnehmers seinem monetären Gegenwert entspricht. Wird nun ein bindender Mindestlohn eingeführt, verteuert sich das «Gut Arbeitskraft» und die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit sinkt. «Nur wenn ein Arbeitnehmer mindestens gleich viel Wertschöpfung generiert, wie er Lohnkosten verursacht, wird er eingestellt», schreibt der Wirtschaftsdachverband. Demnach ist für Economiesuisse bei Einführung eines Mindestlohns «unfreiwillige Arbeitslosigkeit» die logische Folge.

Mindestlohn nicht zwingend Jobkiller

Eva Rindfleisch, Expertin für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, zeigt sich skeptisch: «Das neoklassische Modell ist nicht dazu in der Lage, die Auswirkungen eines Mindestlohns auf den Arbeitsmarkt zu erklären.» Es gebe viele Tätigkeiten, bei denen der Lohn nicht der Produktivität des Arbeitnehmers entspreche. Ausserdem spielten auch kulturelle Einflüsse eine Rolle: «Wir leben nicht in einer neoklassischen› Welt. Beispielsweise hängt sehr von der Kultur ab, wie viel jemand bereit ist, für den Coiffeur zu bezahlen.»

In der Tat sind sich die meisten Ökonomen einig, dass das neoklassische Modell zu kurz greift. Eine grossangelegte neue Studie der US-Universität Berkeley zeigt, dass in den USA höhere Mindestlöhne keine Jobs vernichteten. «Wir finden keine negativen Beschäftigungseffekte», lautet das Fazit der Wissenschaftler. Diese Ergebnisse stützen die Theorie des Arbeitsmarktforschers Alan Manning von der London School of Economics. Der britische Ökonom geht davon aus, dass Arbeitgeber gerade im Niedriglohnsektor über Marktmacht verfügen, die es ihnen ermöglicht, die Löhne ihrer Beschäftigten unter den Marktlohn zu drücken.

Mindestlohn nicht zu hoch ansetzen

Diese Erkenntnisse sind Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften. Ihr Credo: Der Staat soll regelnd in den Arbeitsmarkt eingreifen, da dieser wegen der Marktmacht der Unternehmen nicht so reibungslos funktioniert, wie die neoklassischen Ökonomen postulieren. Kann aber eine staatlich verordnete Lohnuntergrenze wirklich das Einkommen von gering Qualifizierten erhöhen, ohne dass Arbeitsplätze verloren gehen? Die Antwort: Es kommt darauf an, wie hoch der Mindestlohn angesetzt wird. Die Gleichgewichtslöhne unterscheiden sich von Branche zu Branche. «Der Mindestlohn muss sich nach der schwächsten Branche richten», sagt Arbeitsmarktexpertin Eva Rindfleisch.

In der Schweiz wird in der Landwirtschaft am schlechtesten bezahlt. Der Mindestlohn müsste sich demnach am Lohn eines Landarbeiters messen. Das Problem dabei: Die Löhne der landwirtschaftlichen Angestellten sind so tief, dass bei Einführung eines Mindestlohns nur wenige Arbeitnehmer aus anderen Branchen von einer Lohnerhöhung profitieren könnten.

Schwarzarbeit als «Kollateralschaden»

Für die Landarbeiter wäre die Einführung eines Mindestlohns von 22 Franken Stundenlohn «exzellent», meint Phillipe Sauvin, Gewerkschaftssekretär von «l’autre syndicat» mit Sitz in Gland. Allerdings: Die Landwirte könnten sich kaum einen Arbeiter leisten, der 4000 Franken pro Monat verdient. Dass die Schwarzarbeit im Landwirtschaftssektor zunehmen könnte, nimmt Phillipe Sauvin in Kauf: «Das wäre ein Kollateralschaden. Der Bauernverband wehrt sich seit Jahren, die Löhne der Landarbeiter zu verbessern. Irgendwann kommt die Retourkutsche.»

Der Mindestlohn tauge nicht zum sozialpolitischen Instrument der Umverteilung, sondern solle Missbräuche verhindern, indem er «das Tarifgefüge nach unten abgrenzt», meint Expertin Eva Rindfleisch. Nur so könne der Mindestlohn die erwünschte Wirkung langfristig entfalten und den Schwächsten zugute kommen, denn: «Je höher der Mindestlohn, desto grösser die Gefahr, dass Arbeitsplätze vernichtet werden.» Wenn der Mindestlohn also zu hoch angesetzt wird, wirkt er kontraproduktiv und auch die Gewerkschaften erreichen ihr Ziel nicht: «Am Ende träfe es die benachteiligten Gruppen», ist die Arbeitsmarktexpertin überzeugt.

Verwandte Artikel