Veröffentlicht am 27.10.2008TEXT: Rémy Limpach

«Die Titelvielfalt wird weiter abnehmen»

Roger Blum, Professor am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Bern, über die Schweizer Printmedien, die medialen Konzentrationsprozesse und die Überlebenschancen von kleinen Regionalzeitungen.

Herr Blum, haben die schweizerischen Printmedien eine Zukunft?
Roger Blum: Die Lage der Printmedien ist insgesamt prekär. Das Medienverhalten der Menschen ist instabiler, multimedialer, nutzwertorientierter als früher. Sie lesen Gratiszeitungen, weil sie auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause im öffentlichen Verkehrsmittel gerade Zeit haben. Sie nutzen für viele Informationen, aber auch für ­Unterhaltung das Internet. Sie erhalten ­spezielle News auf ihr Handy. Sie hören ­selektiv Radio – am Morgen früh, im Auto, am Mittag – und sehen fern, wenn es gerade passt oder wenn es ihnen langweilig ist. Sie gucken im Café oder zuhause in eine klassische Zeitung, aber kaum jemand orientiert sich heute noch ausschliesslich über abonnierte Zeitungen. Viele Leute abonnieren gar keine Zeitung mehr; man hat ja im Internet auch Zugriff auf die Zeitungen. Darum ­können im Prinzip nur Verlage überleben, die relativ gross und multimedial tätig sind. Allerdings gibt es Nischen.

Werden kleine Regionalzeitungen wie die «Jungfrau Zeitung», der «Willisauer Bote» oder die «Andelfinger Zeitung» in 10 bis 20 Jahren noch eine Nische haben?

Ja. Die ganz kleinen Lokalzeitungen ­besetzen solche Nischen. Ihre Überlebens­chance ist besser als die der mittleren Regionalzeitungen wie der «Schaffhauser Nachrichten», des «Bieler Tagblatts», des «Walliser Boten» oder des «Bunds».

Wie soll sich eine kleine Regional- oder Lokalzeitung gegen eine drohende Übernahme eines grossen Verlags zur Wehr setzen?
Wenn eine Regionalzeitung eine Komplettzeitung sein will – also nicht nur Regionalteil, sondern auch Ausland, Inland, Wirtschaft, Sport, Kultur –, dann sind die Kosten zu hoch, um langfristig der Integration in einen grösseren Verbund zu widerstehen. Wenn aber eine Regionalzeitung nur eine lokal-regionale Nische besetzt und sich eher als Zweitzeitung sieht, sind ihre Überlebens­chancen gut, denn niemand sonst kann wie sie das lokale Detail pflegen. Regionalblätter ergänzen die selektive, an Nachrichtenwer­ten orientierte Information über die grossen Themen durch die lokal-regionale Dichte und Nähe.

Sehen Sie bei kleineren Zeitungen die ­Gefahr der Hofberichterstattung?
Diese Gefahr muss durch entsprechende publizistische Leitlinien und durch die Gradlinigkeit des Chefredaktors von Mal zu Mal gebannt werden.

Sind Gratiszeitungen, Internet und verändertes Leseverhalten eine Bedrohung oder eine Chance für die kleinen Regional­zeitungen?
Das Internet ist immer eine Gefahr. Wenn die gleichen Nachrichten auch im ­Internet stehen (inklusive Todesanzeigen), kann sich ein Bewohner der Region auch so auf dem Laufenden halten. Gratiszeitungen sind indes zu wenig detailliert im Regionalen, als dass sie eine Konkurrenz wären.

Wie steht es bei den mittelgrossen Zeitungen? Sollen sie auf ein kostspieliges Ausland- und Inlandressort verzichten und sich stattdessen einen redaktionellen Mantel für den überregionalen Teil zulegen?
Im Interesse des Publikums ist es besser, wenn Zeitungen wie die «Schaffhauser Nachrichten» in den Mantel einer grossen Zeitung schlüpfen. Dann erhält nämlich das Publikum für den Preis nur einer Zeitung einen kompetenten überregionalen Teil und einen ausführlichen Regionalteil. Andernfalls muss es zwei Abonnemente berappen. Diesen Weg gingen beispielsweise die «Basellandschaftliche Zeitung» oder das «Zofinger Tagblatt» durch die Integration in die «­Mittelland Zeitung».

Ist die Printmedienvielfalt in der Schweiz durch Konzentrationsprozesse gefährdet, oder hat dieser Prozess seinen ­Höhepunkt bereits überschritten?
Der Konzentrationsprozess ist nicht zu Ende. Die Titelvielfalt wird weiter abnehmen, und mit ihr die Meinungsvielfalt, nicht aber unbedingt die Angebotsvielfalt. Denn je grösser ein Verlag ist, umso reicher kann sein Angebot an Medientypen wie Radio, Fernsehen, Internet oder Print sein. Er ist viel besser in der Lage, auf Publikationen mit unterschiedlicher Ausrichtung zu setzen – als Nachrichtenblatt, Unterhaltungszeitschrift, Radio- und Fernsehzeitschrift, ­Special-Interest-Medium wie Computer-, Schach-, Hunde-, Segler- oder Motorsportzeitschrift. Schliesslich kann ein grosser Verlag mehr Vielfalt im einzelnen Medium bieten. Eine von ihm veröffentlichte Zeitung beispielsweise enthält eine reichere Palette von Themen aus Wirtschaft, Börse, Kultur, Style, Reisen, Essen, Auto, Medien, Kino, ­Management oder Weiterbildung.

In der Branche spricht man von einem Zeitungskrieg zwischen Tamedia und NZZ auf dem Land. Welche Folgen hat dieser «Krieg» für kleine Regionalzeitungen?

Bis jetzt sind Regionalzeitungen wegen dieses Zeitungskriegs nicht verschwunden, sie wurden lediglich stärker eingebunden: Teil der NZZ-Gruppe sind nun die «Zürichseezeitung», der «Zürcher Oberländer», der «Zürcher Unterländer», der «Rheintaler», das «St. Galler Tagblatt» und die «Neue Luzerner Zeitung». Zur Tamedia kamen der «Landbote», die «Thurgauer Zeitung», und künftig werden auch die «Berner Zeitung», der «Bund», das «Solothurner Tagblatt», das «Thuner Tagblatt», der «Berner Oberländer» dazugehören. Die Auswirkungen werden erst dann richtig spürbar sein, wenn beispielsweise die Tamedia das Zepter in Basel übernimmt und wenn die NZZ-Gruppe ­Richtung «Mittelland Zeitung» und Richtung «Südostschweiz» ausgreift.