Veröffentlicht am 27.01.2015TEXT: Marc ValanceFOTO: ZVG

Olcay Dagdelen kam über die IV zur Firma Louis Widmer nach Schlieren (ZH). Heute ist er festangestellt.

This-Priis 2015

Die Suche nach dem richtigen Platz

Die Firma Louis Widmer in Schlieren und die Sawi Mess- und Regeltechnik in Winterthur erhalten den diesjährigen «This-Priis». Beide Unternehmen passen ihre Arbeitsplätze bei Bedarf den Bedürfnissen von handicapierten Mitarbeitenden an. Louis Widmer beschäftigt derzeit drei, die Sawi Mess- und Regeltechnik vier Menschen mit Handicap. 

«Wir sind eigentlich ein Frauenbetrieb», sagt Annemarie Widmer, CEO und Mitinhaberin der Firma Louis Widmer und lacht, «die Frauen stellen zwei Drittel der Belegschaft.» Wieso das? Weil Louis Widmer Kosmetika herstellt? «Oh, nein», sagt Annemarie Widmer, «weil Frauen für manuelle Arbeiten viel ausdauernder, geschickter und flinker sind als Männer.» Wie flink sie sind, kann man in der Konfektionsabteilung sehen, dort, wo die Tuben und Töpfchen eingeschachtelt werden. In den Händen der Frauen geht das unvorstellbar schnell. «Nur einer der Herren kommt da überhaupt mit», sagt Annemarie Widmer. Und das ist Olcay Dagdelen. 

«Oh, ja, ich bin so schnell wie die Frauen, mindestens», sagt er selbstbewusst und ein wenig verschmitzt. Er arbeitet nicht immer in der Sekundärverpackung. In der Primärverpackung, in dem grossen Reinraum, wo Crèmes, Salben, Lotionen maschinell in Tuben und Töpfchen abgefüllt werden, ist er Maschinenführer. Das bedeutet, dass er den Abfüllprozess, an dem je nach Maschine bis zu fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt sind, überwacht und die Abläufe koordiniert.

Weg von der IV

Olcay Dagdelen kam vor knapp zwei Jahren im Rahmen eines Arbeitsversuchs der Invalidenversicherung (IV) zur Louis Widmer. Seit seiner Geburt hatte er eine Kiefer-Fehlbildung sowie eine Fehlfunktion der Hypophyse. Damit verbunden kämpft er mit hormonellen Problemen und deren Auswirkungen. Schon als Kind bezog er eine Invalidenrente. Nach der Anlehre als Industriepraktiker musste er sich zwei schweren Kieferoperationen unterziehen und wurde damit aus der Arbeitswelt gerissen. Schlechte Voraussetzungen für einen jungen Menschen – doch mit der Integrationsanfrage bei Louis Widmer verbesserten sich Olcay Dagdelens Berufsaussichten.

Als gelernten Industriepraktiker setzten ihn Cristina Tamò, die Personalverantwortliche, und der Betriebsleiter Heinz Bösch zuerst in der Konfektion ein. Um Olcay Dagdelen eine breite Eingliederung in die Berufswelt zu bieten, hatten sie vorgesehen, ihn auch im Lager und in der Produktion einzuarbeiten. Die strenge Arbeit im Lager konnte er wegen seines gesundheitlichen Handicaps jedoch nicht bewältigen, in der Produktion beendeten schwerstes Asthma und Allergien den Arbeitsversuch. Blieb der Arbeitsort Konfektion.

Festanstellung zum neuen Jahr

«Dort war die Situation gut für ihn », sagt Cristina Tamò. «Er hatte keine allergischen Reaktionen, die Arbeit entsprach seinen Fähigkeiten.» Anfangs arbeitete Olcay Dagdelen nur zu 80 Prozent, ohne jegliche Leistungsanforderungen. Einsatz und Leistung wurde dann schrittweise erhöht. Im Frühjahr 2014 erhielt er einen befristeten Arbeitsvertrag mit einem 90 Prozent Pensum. Auf diese Weise kompensierte er die gesundheitlich bedingten Fehltage, ferner liessen sich so die Auswirkungen seiner neuen Therapie besser einschätzen. Auf die Therapie sprach Olcay Dagdelen sehr gut an, mit der Freude an der Arbeit verbesserten sich sein allgemeiner Gesundheitszustand und seine Leistungen enorm. Fehltage blieben aus. «Ich arbeite seit Frühjahr 2014 faktisch 100 Prozent», sagt er stolz, «und beziehe keine IV-Rente mehr.»

Ab 1. Januar 2015 wurde er von seinem Arbeitgeber mit einem vollen Pensum fest angestellt. «Es war ein langer Weg bis dahin, aber ich fühle mich gut, ich kenne mich aus mit der Arbeit, die Selbstsicherheit ist grösser geworden, und das Team ist perfekt. Man ist hier nie allein, einer hilft dem anderen, das ist wichtig.»


«This-Priis»
Der jährlich verliehene «This-Priis» soll Unternehmen dazu animieren, nachhaltige Stellen für Menschen mit einem Handicap zu schaffen. Er geht auf This Widmer zurück, der mit einer zerebralen Lähmung und einer Sehbehinderung geboren wurde und nach seinem 40. Geburtstag nicht mehr in einer geschützten Werkstatt arbeiten wollte. This’ Vater Hansueli Widmer regte die Lancierung des «This-Priis» an und stellte dafür die nötigen Mittel zur Verfügung. Die Auszeichnung ist mit 25 000 Franken dotiert und geht an Firmen im Wirtschaftsraum Zürich. Dieses Jahr wird der Preis zum zehnten Mal vergeben.
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Louis Widmer ist ein Familienunternehmen, Annemarie Widmer leitet es in der dritten Generation. Produkte für gesunde und kranke Haut zu entwickeln, war die Vision des Gründers Louis-Edouard Widmer. Zuerst produzierte das Unternehmen Produkte für die kranke Haut, Pharmazeutika, später kam die Kosmetik für die Pflege gesunder Haut dazu. «Das erklärte Ziel meines Grossvaters und meines Vaters waren hocheffiziente, sehr gut verträgliche Produkte», sagt Annemarie Widmer, «Produkte, mit denen wir keine leeren Versprechen machen.» Die Vision des Gründers ist nach wie vor Richtschnur für das unternehmerische Handeln. «Unsere Philosophie lautet: Tradition und Geschichte bewahren, und auf diesem Fundament Neues einfliessen lassen.» Louis Widmer gehört heute zu den vier grössten Brands in Apotheke und Drogerie in der Schweiz. «Wir sind das einzige schweizerische Familienunternehmen, das in dieser Liga mitspielt.»

Solidarität in Notlagen

Als einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren des Unternehmens nennt sie die Verantwortung. Und zwar für die Qualität gegenüber Kundinnen und Kunden, für die Liefertreue gegenüber dem Fachhandel und gegen innen. «Genauso wichtig ist uns die Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.» Im Familienunternehmen gehe es um Sicherheit. «Die Familie steht mit ihrem Engagement und ihrem Geld hinter dem Unternehmen. Das gibt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Sicherheit, dass wir hinter ihnen stehen.»

Zum Beispiel hinter Serafino Cutino. Er kam 2005 als Mitarbeiter des technischen Dienstes mit einem Vollpensum zur Louis Widmer. Im Herbst 2006 erhielt er die Diagnose Multiple Sklerose. «Ich hatte grosse Bedenken. Wie kommt das heraus?» erzählt er. Erst 2007 informierte er seine Vorgesetzten über seine Krankheit. «Es ging dann alles sehr schnell», erinnert er sich. «Ich müsse mir keine Sorgen machen, man würde mich nicht fallen lassen, sondern für mich nach einer Lösung suchen.»

Was denn auch geschah. «Wir machten Einsatzpläne für ihn», erzählt Cristina Tamò, «und gaben ihm die Möglichkeit, versuchsweise in der Spedition, im Marketing, im Verkauf zu arbeiten.» Serafino Cutino bezeichnet den Weg durch die Abteilungen als einen langen Prozess, der ihn schliesslich zur Datenverarbeitung führte, wo er mit einem 50 Prozent Pensum und einer halben IV-Rente arbeitet. Die Qualifikation für die Computerarbeit erarbeitete er sich als Autodidakt. «Das ist der springende Punkt», sagt er, «du musst einen eigenen Antrieb haben, etwas zu machen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber», fügt er hinzu, «es braucht dann auch ein Gegenüber, das gewillt ist, etwas beizutragen, dich zu unterstützen.» Es wurde ihm nie das Gefühl vermittelt, er sei wegen seiner Krankheit etwas Besonderes. «Ich fühlte mich einfach aufgenommen. Super Klima, super Leute.» 

Louis Widmer
Die Firma hat ihren Hauptsitz in Schlieren bei Zürich. International beschäftigt Louis Widmer 250 Mitarbeitende, 125 davon arbeiten in der Schweiz. Am Hauptsitz erforscht, entwickelt und produziert das Unternehmen kosmetische und pharmazeutische Präparate. Louis Widmer ist ein inhabergeführtes Familienunternehmen, das 1960 gegründet wurde.