Veröffentlicht am 17.01.2008TEXT: Bruno Angeli

Das Netz für alle nutzbar machen

Die Internetangebote des Bundes sollen von Menschen mit Behinderung ohne Hürden genutzt werden können. So verlangt es das Behindertengleichstellungsgesetz. Nun hoffen Behindertenorganisationen auf einen Nachahmungseffekt
bei Gemeinden und Kantonen.

Das Internet ist innert kurzer Zeit zu einem unverzichtbaren Portal zu Informationen und Kommunikation geworden. Gerade von Menschen mit einer Behinderung wird diese Technologie gern angenommen. Das enorme Informationsangebot auf dem Web bringt ihnen ein erhöhtes Mass an Selbständigkeit.
Doch bei der Konzipierung und Realisation von Websites und ihren Multimedia-Inhalten wird häufig nur an die Benutzerinnen und Benutzer gedacht, die in der üblichen Weise Informationen am Bildschirm lesen und die Navigation mit der Maus steuern. Nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissenheit werden so Menschen mit verschiedenartigen Behinderungen wie Sehbehinderung, motorischer Behinderung oder Lernbehinderung ausgeschlossen. Anders beim Bund. Hier hat man damit begonnen, die Internetauftritte barrierefrei zu gestalten.

International anerkannte Richtlinien 

Für die Beseitigung vermeidbarer Hindernisse im Internet setzt sich auch die Stiftung «Zugang für alle» ein. Zuständig für das technisch-operative Geschäft dieser Organisation ist Markus Riesch. Er ist Mitglied des Expertenausschusses «Accessibility/Zugänglichkeit» des Bundes und war beim Informatikrat Bund dabei, als die Richtlinien für die Gestaltung von barrierefreien Internetangeboten erstellt wurden. In der Arbeitsgruppe Accessibility waren zudem Leute der Bundesverwaltung, Behindertenorganisationen und Accessibility-Experten vertreten.
Riesch ist zufrieden mit der Zusammenarbeit: «Die Arbeit mit dem Bund war sehr konstruktiv und kooperativ. Die Vertreter gingen sehr gut auf die Anliegen der Menschen mit Behinderungen ein.» Euphorisch wirkt Riesch jedoch nicht: «Natürlich war die Kostenfrage bei den Vertretern des Bundes immer ein wichtiger Punkt.» Die Richtlinien (P028) wurden nicht isoliert erstellt, sondern im Rahmen einer neuen Internetstrategie des Bundes und der Einführung eines einheitlichen Erscheinungsbildes. 
Die nun in Kraft getretene Weisung stützt sich hauptsächlich auf die vom World Wide Web Consortium (W3C), der internationalen Standardisierungsorganisation im Web-Bereich, erlassenen Richtlinien mit der Bezeichnung WCAG 1.0 (WCAG = Web Content Accessibility Guidelines) aus dem Jahr 1999. Sie bilden nach wie vor den einzigen W3C-Standard zu Accessibility, welcher in Kraft ist. Laut Riesch waren die weltweite Verbreitung dieser Richtlinien und die gute Akzeptanz in vielen Ländern für diese Wahl ausschlaggebend. Eigene schweizerische Richtlinien wären falsch gewesen, zumal das Internet keine Grenzen kenne. Auch in den meisten Ländern der EU und beim EU-Parlament selbst werden die Richtlinien des W3C angewendet. Entscheidend in der Kommission war aber die Frage nach der Stufe des Regelwerks, und da hat die Schweiz nicht den minimalen Standard, sondern den weitergehenden Standard (AA) gewählt, welcher die Zugänglichkeit (Accessibility) von Websites entscheidend verbessert. 
Mit Hilfe der Guidelines wird den Entwicklern von Webinhalten, den Webdesignern und Programmierern ein Hilfsmittel in die Hand gegeben, mit dem die Erstellung behindertengerechter Websites erleichtert und vereinheitlicht wird. 
Die WCAG-1.0-Guidelines haben aber auch Nachteile: So beziehen sie sich fast ausschliesslich auf HTML (Datenbeschreibungssprache, die nur über einen Browser dargestellt werden kann). 
Andere Technologien wie PDF (Portable Document Format) werden darin nicht oder nur am Rande berücksichtigt. 
In den Richtlinien des Bundes zur Gestaltung barrierefreier Websites wurde daher zusätzlich festgelegt, dass auch die Informationen von PDF-Dokumenten barrierefrei zugänglich sein müssen. Diesbezüglich gelten verschiedene Checkpunkte der WCAG 1.0 als veraltet, da moderne Browser und assistierende Technologien die Zugänglichkeit viel besser gewährleisten. Für die Evaluation der WCAG 1.0 stehen mittlerweile zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung. Die Weiterentwicklung der WCAG 1.0, die Version 2.0, bezieht sich nicht mehr nur auf HTML, sondern umfasst alle eingesetzten Webtechnologien. Es ist aber nicht absehbar, wann die WCAG 2.0 in Kraft tritt. 
Die Stiftung «Zugang für alle» begleitet fortlaufend die Anpassung der Websites der Bundesverwaltung. Riesch ist zuversichtlich: «Ich denke, dass die Frist bis Ende Jahr mit wenigen Ausnahmen eingehalten werden kann.» Ein Grund, warum sich diese Aufgabe in relativ kurzer Zeit realisieren lassen sollte, ist das neu eingeführte, einheitliche Corporate Design (CD Bund). Zudem werden neu alle betreffenden Inhalte des Bundes über zwei ContentManagement-Systeme geführt.

Test als wichtigster Entwicklungsschritt

Kein automatisches Testverfahren kann den Praxistest durch Anwender ersetzen. Mit automatischen Tools kann nur etwa jeder zehnte Checkpunkt sinnvoll geprüft werden. Die meisten Barrieren können nur von Menschen mit Behinderungen mit ihren 
alternativen Ein- und Ausgabegeräten wie Sprachausgabe, Vergrösserungsprogrammen oder Mundmaus erkannt werden.
Die blinde Sonderpädagogin Helen Zimmermann half dem 
seco beim Testen der Website «www.treffpunkt-arbeit.ch». Blinde Computeranwender verwenden einen Screenreader als Ausgabemedium. Eine Computerstimme liest den Inhalt des gerade aufgerufenen Bildschirminhalts vor. Für Webdesigner bereits eine 
Bewährungsprobe: Wurden die Bilder mit einem unsichtbaren und sinnvollen Alternativtext versehen? Mit Aussagen wie «Grafik» oder «gif01» kann der User nicht viel anfangen. Da weist eine Bildbeschreibung wie: «Rathausgebäude von Chur» oder «Braunvieh auf der Weide» einen höheren Informationsgehalt auf.
Zimmermann betrachtet das «konsequente und genaue Programmieren» als wichtigen Aspekt beim Erstellen von Websites. Es gilt dabei die immer gleiche Reihenfolge: Programmieren/Codieren, Testen. Am besten arbeite man sich so «Schritt für Schritt vorwärts», statt die Website nachträglich von Webexperten testen zu lassen. 
Der Bund vergibt kein Gütesiegel und betreibt keine Zertifizierungsstelle für barrierefreie Websites. «Er kann und möchte von sich aus keine Zertifizierung durchführen», sagt dazu Markus Riesch. Der Bund delegiert dies lieber. Er unterstützt die Zertifizierung durch die Stiftung «Zugang für alle». Diese entwickelte ein schweizerisches Gütesigel für barrierefreie, gesetzeskonforme Websites. Erste Pilotprojekte dazu laufen. Die Stiftung «Zugang für alle» testet seit fünf Jahren die Barrierefreiheit von Websites in der Schweiz. Sie wird ab Mitte 2006 die unabhängige Zertifizierungsstelle sein.

Kantone und Gemeinden sollen nachziehen

Beim Bund scheint man also in Sachen barrierefreies Internet auf dem richtigen Kurs zu sein. Doch wie sieht es bei den Kantonen und Gemeinden aus? Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) sieht einen barrierefreien Zugang zu den Websites von Kantonen und Gemeinden seit dem 1. Januar 2004 vor. Riesch: «Im Gegensatz zum Bund sind die Kantone nicht weit fortgeschritten.» In praktisch allen Kantonen fehlen konkrete Richtlinien und Standards für die Umsetzung des BehiG im Bereich Accessibility. «Dadurch herrscht in den Gemeinden grosse Unsicherheit. Sie sind zurzeit meist auf sich selbst gestellt, wenn sie der Pflicht nachkommen wollen, ihr Internetangebot barrierefrei zugänglich zu machen.» Dennoch gibt es bereits verschiedene Gemeinden in der Schweiz, die seit Einführung des BehiG ihr Internetangebot zugänglich gemacht haben. Im Vergleich zur Gesamtzahl aller Gemeinden sind es aber noch viel zu wenige.
Das soll sich nun ändern: Auf Initiative von Design4All.ch und der Stiftung «Zugang für alle» ist am 20. Oktober 2005 im Rahmen der Standardisierungsorganisation eCH von Vertretern des Bundes, der Kantone, der Gemeinden, von Behindertenorganisationen und Unternehmen der Informationstechnologie die Fachgruppe Accessibility gegründet worden. Ihr Ziel ist es, die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes auch auf Ebene der Kantone, Gemeinden und der weiteren Institutionen der öffentlichen Hand umzusetzen und zu begleiten. Dabei sollen die Richtlinien des Bundes zur Gestaltung barrierefreier Websites als richtungweisendes Vorbild dienen. Zurzeit fehlen Standards und konkrete Umsetzungsmodelle für alle relevanten Webtechnologien und für die sehr unterschiedlichen Anforderungen und Rahmenbedingung der beteiligten Institutionen. 
Helen Zimmermann hat sich zu Richtlinien und Standards ihre eigene Meinung gebildet: «Diese sind wichtig. Wichtig ist aber auch der Dialog zwischen Webdesignern und Nutzern. Theorie und Praxis klaffen oft weit auseinander. Es mag in der Theorie noch so korrekt sein. Wenn man damit arbeiten muss, sieht es anders aus. Es muss in der Praxis funktionieren.»
Weitere Informationen:
• Stiftung «Zugang für alle»: www.access-for-all.ch
• eCH-Fachgruppe Accessibility: www.design4all.ch/ech
• Zugänglichkeitsrichtlinien des W3C für Webinhalte 1.0: 
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