Veröffentlicht am 03.12.2014TEXT: Naomi JonesFOTO: Ruedi Flück

Walter Siebel, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Stadt- und Regionalforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Boomende Städte

Soziale Gerechtigkeit führt zu Lebensqualität

Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung leben in der Stadt oder Agglomeration, von den Arbeitsplätzen befinden sich vier Fünftel in der Stadt. Am von der ZHAW organisierten «Winterthur Urban Forum» sprach Walter Siebel, Professor der Universität Oldenburg.

Dank der veränderten Rolle der Frau erlebten Städte heute eine Renaissance, sagte der Soziologe Walter Siebel im Eröffnungsvortrag am «Urban Forum» in Winterthur. «Städte ziehen berufsorientierte Menschen an, die keine Hausfrau oder keinen Hausmann haben, der oder die ihnen den Rücken für die Karriere freihält.» Das gilt heute für immer mehr Männer und Frauen, egal ob sie allein, als Paar oder in einer Familie leben. Die Stadt sei für diese Menschen eine Art Dienstleistungsmaschine, so Walter Siebel. Sie bietet Lösungen für Pflichten und Tätigkeiten, die zuvor im Privathaushalt organisiert waren, etwa Kinderbetreuung, Altenpflege, Kochen und Kurierdienste für alles und jedes. Auch für ältere Menschen sei die Stadt attraktiv. Denn dank des öffentlichen Verkehrs, nahen Einkaufsmöglichkeiten und flexiblen Betreuungsmodellen können sie länger selbständig zu Hause bleiben.

Integration und Demokratie

Der Soziologe skizzierte in seinem Referat die europäische Stadt. Sie sei seit jeher «Institution der sozialen Integration». «Menschen kommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Stadt.» Ebenso sei die Stadt seit der antiken Polis «demokratisch legitimiertes handlungsfähiges politisches Subjekt». Wie Gemeinden können sich Städte selbst verwalten und ihre Probleme demokratisch lösen. Doch diese beiden wesentlichen Merkmale würden, von verschiedenen Tendenzen bedroht, referierte Siebel.

Schwindende Mittelschicht

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Walter Siebel nennt dies die «Tendenz der Polarisierung». Der Mittelstand schwinde, während die Reichen reicher und die Armen zahlreicher würden. Viele in Kulturberufen Tätige sowie Menschen ohne Ausbildung lebten heute in prekären Verhältnissen, während vor allem in Finanzberufen die Löhne und das Vermögen stiegen. «Die schwindende Mittelschicht ist aber die politisch tragende Schicht. Die Stadt braucht sie, denn ihre Angehörigen verstehen sich als politische Bürger», sagt der Oldenburger Soziologe.

«Diese Polarisierung kann zu einer Verinselung der Stadt führen», so Walter Siebel. Die Nachfrage nach teuren Wohnungen mit einem sehr hohen Standard steigt ebenso wie die Nachfrage nach billigen Wohnungen. Während ganze Quartiere luxussaniert oder neu gebaut werden, werden andere Quartiere im Unterhalt vernachlässigt. Vor allem in den vernachlässigten Quartieren droht eine Negativspirale.

Risiko von «Banlieues»

Die zweite Herausforderung für Städte sei die Zuwanderung. Zwar gehöre sie seit eh und je zur europäischen Stadt und sei somit eines der wesentlichen Merkmale. «Die Frage ist aber, wie die Städte mit der Zuwanderung umgehen», meint Walter Siebel. Denn auch sie kann zur Verinselung führen.

Migranten ziehen mit Vorliebe in Quartiere, in denen sie auf Landsleute treffen. Das ist sinnvoll, denn hier erhalten sie informelle Hilfe, zum Beispiel bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Vor allem im deutschen Sprachraum führt aber die Integration in den Arbeitsmarkt über die Bildung. Die kritische Frage für Städte ist also, ob die Integration der Migranten ins Bildungssystem und dadurch in den Arbeitsmarkt gelingt. Gelingt diese nicht, setzt in klassischen Zuwandererquartieren passive Segregation ein.

In der Schule füllen sich die Klassen mit Migrantenkindern aus bildungsfernen Familien. Die ursprünglich ansässigen Mittelschichtsfamilien ziehen weg, weil die Schule den Bildungsanforderungen dieser Familien nicht mehr genügt. Aus den gleichen Gründen ziehen schliesslich auch die bildungsnahen und gut integrierten Migrantenfamilien weg. Im Quartier bleiben bildungsferne Menschen aus verschiedenen Kulturen, die sich oft als Verlierer der Gesellschaft ohne Perspektive wahrnehmen. «Solche Menschen», so Siebel, «haben oft weder die psychischen noch die materiellen Ressourcen, um ein Klima von Toleranz und Integration zu fördern.»

Chancen durch demografischen Wandel

Die nächste Herausforderung, der sich europäische Städte stellen müssen, sei der demografische Wandel. «Ab 2025 werden die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Viele der heutigen Erwerbstätigen leben in prekären Verhältnissen und können für ihr Alter nicht genügend vorsorgen», sagt Walter Siebel. Ein weiteres Problem sei, dass das, was Alte am meisten bräuchten, etwa Achtung, Vertrauen und Liebe, Dinge seien, die sich nicht professionalisieren liessen. Die Verwandtschaftssysteme würden immer schwächer, da die heutigen Generationen sehr unterschiedliche Lebensmodelle pflegen und weniger Kinder grossziehen.

Die Alterung ist aber auch eine Chance für die Städte. «Alte Menschen verbringen drei Viertel ihrer wachen Zeit in der Wohnung und im Quartier», weiss der Soziologe. Sie hätten andere Bedürfnisse an ihr Wohnumfeld als Berufstätige. Alte Menschen benötigen Parkanlagen, Treffpunkte und kurze Wege zum Einkaufen oder zum Arzt. Dies wiederum sind Dinge, die die Attraktivität eines Quartiers steigern, neue Bewohner anziehen und Arbeitsplätze schaffen. So begünstigt ausgerechnet der demografische Wandel die Renaissance der Städte.

Soziale Gerechtigkeit statt schnelles Wachstum

Für Walter Siebel stehen die Chancen nicht schlecht, dass die Städte die sozialen Herausforderungen, die auf sie zukommen, lösen können. Denn nebst den Migranten aus bildungsfernen Schichten ziehen die Städte vor allem gut ausgebildete Menschen an, die sich für das politische Leben ihrer Stadt interessieren und einsetzen. Sie wissen, dass ab einem gewissen Standard, den europäische Städte längst erreicht haben, nicht schnelles Wachstum, sondern soziale Gerechtigkeit wesentlich für die Lebensqualität ist. Diese Bürger sind bereit, Steuern zu zahlen, und sie setzen sich im eigenen Interesse auch für benachteiligte Stadtbewohner ein.