Veröffentlicht am 07.05.2012TEXT: Beatrice Jäggi

Ein Netz von 60 kaufmännischen Praxisfirmen hilft Stellensuchenden zurück ins Erwerbsleben. Foto: Christian Keller

Berner Praxisfirmen stehen vor dem Aus

bj. Die öffentliche Arbeitsvermittlung des Kantons Bern richtet die Strategie für arbeitsmarktliche Massnahmen neu aus. Das Konzept «Bern Top!» setzt auf die schnelle Integration der Stellensuchenden.

«Die haben sicherlich ihre Gründe. Von unserer Seite verstehen wir jedoch nicht alles.» Das Berner Amt für Wirtschaft Beco wartete Markus Leuenberger vom Langenthaler Kunsthandelshaus C-Arts AG im vergangenen Februar mit einer schlechten Nachricht auf. An einer Infoveranstaltung erfuhr er, dass das Berner Wirtschaftsamt das Auftragsverhältnis mit sämtlichen kaufmännischen Praxisfirmen im Kanton Bern per Ende 2012 kündigt. C-Arts AG ist eine davon. Mit dem Beco verlieren fünf weitere Unternehmen dieser Art in Langenthal, Thun, Biel, Brügg und der Stadt Bern ihren wichtigsten Auftraggeber und müssen den Betrieb auf den 31. Dezember 2012 einstellen. Das Aus kam überraschend, wie Teamleiter Leuenberger sagt.

Die Firma C-Arts handelt virtuell mit Kunstobjekten. Die Gemälde und Objekte von Schweizer Künstlerinnen und Künstlern existieren zwar real, die operativen Geschäftsabläufe des Unternehmens sind jedoch virtuell. Der Sinn der Übungsanlage besteht darin, Stellensuchende im kaufmännischen Bereich für den Arbeitsmarkt fit zu halten. In der Schweiz existieren knapp 60 dieser Praxisfirmen, die in einem internationalen Netzwerk zusammengeschlossen sind.

Trotz erfolgreicher Tätigkeit droht das Aus

Herr über das Schweizer Netzwerk ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), das in den neunziger Jahren den Anstoss zu dessen Gründung gegeben hat und die hiesige Zentrale des Netzwerks, die Organisation Helvartis mit Sitz in La Chaux-de-Fonds, kontrolliert. Als arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM) stehen die Betreiber der einzelnen Praxisfirmen jedoch in einem vertraglichen Verhältnis mit den kantonalen Wirtschaftsämtern.

Bei der C-Arts AG arbeiten derzeit 18 Stellensuchende in einem dreimonatigen Einsatz. Unsicher ist die Zukunft der dreiköpfigen Teamleitung, die bei der Zürcher Stiftung für Arbeitsgestaltung angestellt ist. «Wir von der Geschäftsleitung müssen uns neu orientieren», sagt Teamleiter Leuenberger. Dass seit Anfang Jahr fast alle ausgetretenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Stelle gefunden haben, ist für C-Arts ein Wermutstropfen.

In der Schweiz finden in der Regel rund 50 Prozent der Teilnehmenden von Praxisfirmen während oder unmittelbar nach dem Programm eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt. Leuenberger ist überzeugt, dass Praxisfirmen eine wichtige Unterstützung für Stellensuchende sind. «Wenn jemand bereits an einem Ort beschäftigt ist, schlägt sich das positiv im Bewerbungsprozess nieder. Das merken auch die Arbeitsgeber.»

Stellensuchende werden zu Kunden

Unter dem Motto «Bern Top! – L’excellence du service de l’emploi» will das Beco die Strategie der öffentlichen Arbeitsvermittlung bis Mitte 2013 neu ausrichten, wie das Amt gegenüber dem «arbeitsmarkt» ausführt. Kernstück der Neuausrichtung ist eine dreiteilige Einstufung der Stellensuchenden in sogenannte Marktkunden, Beratungskunden und Betreuungskunden. Handelt es sich bei der ersten Klientel um eher leicht vermittelbare Stellensuchende, befinden sich in der dritten Gruppe die schwierigeren Fälle. Mit diesem kundenorientierten Modell will das Beco den Integrationsprozess von Stellensuchenden in den ersten Arbeitsmarkt bedarfsgerechter gestalten und verkürzen.

«Ich habe Verständnis, dass nicht alle über die Neuausrichtungen glücklich sind», betont Marc Gilgen, der als Leiter des Geschäftsbereichs Arbeitsvermittlung und Mitglied der Geschäftsleitung des Beco die Hauptverantwortung für das Projekt «Bern Top!» trägt. Bei den Qualifizierungsprogrammen, so Gilgen, wolle das Beco vor allem Massnahmen unterstützen, welche in Branchen mit Versorgungslücken operieren. Als Beispiele nennt er die Maschinen- und Uhrenindustrie, Gastronomie oder auch das Gesundheitswesen: «Da gibt es momentan einen grossen Bedarf an Fachkräften. Der kaufmännische Bereich hingegen ist gegenwärtig mit rund 1300 in Berner RAV gemeldeten Stellensuchenden gesättigt.»

Die Neuausrichtung hinterlässt deutliche Spuren im Portfolio der Berner AMM. Neben den sechs Praxisfirmen streicht das Beco nicht weniger als acht weitere Massnahmen in diesem Segment, so die Sprachförderung Deutsch/Französisch, das Assistenzprojekt für stellenlose Lehrpersonen und Einführungskurse in die Informatik. Über diesen Kahlschlag orientierte das Beco die Anbieter der Berner AMM gestaffelt und an drei Projektpräsentationen zwischen Oktober 2011 und März 2012 in Bern und Thun.

Die eingangs erwähne Infoveranstaltung an die Adresse der Praxisfirmen fand am 29. Februar im Hauptsitz des Beco in Bern statt. Dort anwesend war auch Markus Estermann, Mitinhaber der Santis Training AG in Zürich, die als Trägerfirma selber vier Praxisfirmen in den Kantonen Aargau, Bern und Baselland betreibt. Eine davon, die Santifit in der Stadt Bern, wird Ende Jahr ebenfalls geschlossen. Auch Estermann erreichte die Nachricht über die Schliessung der Berner Praxisfirmen völlig überraschend. In der Neuausrichtung der Berner Arbeitsvermittlung sieht er einen Paradigmenwechsel mit offenem Ausgang: «Die Konsequenzen sind für uns im Moment überhaupt nicht abschätzbar.»

Leitplanken für Benachteiligte und Ausgegrenzte

Für Estermann erfüllen gerade die Praxisfirmen neben qualifizierenden auch eine sozialpolitische Aufgabe. Tatsächlich arbeiten viele dieser Unternehmen nicht nur mit den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren, sondern auch eng mit der IV zusammen. Wie Estermann bestätigt, ist der Anteil von Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen in diesen Unternehmen gross.

«Für Übergewichtige, aber auch Menschen mit Diabetes, Aids oder MS, ist es sehr schwierig geworden, heute eine Stelle zu finden. Für sie ist die berufliche Integration sehr wichtig. Da werden Praxisfirmen auch zu Leitplanken.» Die Santis Training AG beschäftigt in ihren Praxisfirmen verschiedentlich auch Straftäter, die nach einem Gefängnisaufenthalt den Tritt in einem geordneten Leben wiederfinden müssen. Nach Estermanns Ansicht lässt das neue Berner Konzept an diesem Punkt noch viele Fragen offen.

Gilgen stellt klar: «Praxisfirmen sind nicht der richtige Platz für diese Menschen. Wir bevorzugen Programme im ersten Arbeitsmarkt, wie zum Beispiel Stellennetz, Praktika, Einarbeitungs- oder auch Ausbildungszuschüsse. Weiter betont Gilgen, dass die Neuausrichtung nicht nur Massnahmen aus dem Programm kippe, sondern auch neue einführe oder bestehende angepasst und ausgebaut würden. Die neue Massnahme «PVB Transfer» etwa unterstützt Langzeitarbeitslose, die von der Aussteuerung bedroht sind. Ausgebaut werden sollen auch das Berner Stellennetz und die Praktikumsplätze.

«Schritt in die richtige Richtung»

Bislang hat das Beco nur die betroffenen Stellen im Kanton Bern und die involvierten Institutionen über die neue Strategie der öffentlichen Arbeitsvermittlung orientiert. Die breite Öffentlichkeit wird das Amt im Frühjahr 2013 informieren. Die Kommunikation soll bis zum Abschluss der konzeptionellen Projektarbeiten Ende 2012 «stufenkonform» erfolgen. Mit welchem Erfolg die neue Berner Strategie Stellensuchenden den Weg in den ersten Arbeitsmarkt ebnet, wird sich zeigen. «Die informierten Stellen haben die Neuausrichtung mehrheitlich gut aufgenommen. Das SECO begrüsst das neue Konzept», äussert sich Gilgen zur Frage nach der bisherigen Resonanz.

Viel Positives kann auch Jürg Fassbind vom Kompetenzzentrum Arbeit der Stadt Bern der neuen Strategie «Bern Top!» abgewinnen: «Ein kundenorientiertes Modell, das sich besser auf die Bedürfnisse der Stellensuchenden ausrichtet, geht als Schritt in die richtige Richtung.» Als Vorstandsmitglied des Schweizerischen Verbands der Organisatoren von Arbeitsmarktmassnahmen (SVOAM) bedauert Fassbind jedoch, dass die Berner Sektion des SVOAM vom Beco in keiner Weise in die Strategieentwicklung von «Bern Top!» mit einbezogen wurde. In zwei Schreiben äusserte der Verband beim Beco den Wunsch, sich in einer beratenden Rolle in das Projekt einbringen zu können. Die Antwort lautete in beiden Fällen, das Beco werde zu gegebener Zeit über die Neuausrichtung informieren. «Als Verband mit reicher Erfahrung in der Arbeitsintegration fühlten wir uns da nicht ernst genommen», stellt Fassbind dazu fest.

Auch SVOAM-Präsidentin Gabriela Wawrinka hat nichts gegen die Anpassungen von Strategien einzuwenden, bedauert aber, dass die Kommunikation durch die kantonale Amtsstelle einseitig ausfalle. «In den Non-Profit-Organisationen, die arbeitsmarktliche Massnahmen anbieten, steckt sehr viel Know-how. Da arbeiten Profis, die etwas von Arbeitsintegrationskonzepten verstehen. Anhörungen durch die Amtsstellen finden viel zu wenig statt.»

Für die konzeptionelle Weiterentwicklung der arbeitsmarktlichen Massnahmen werden der SVOAM und weitere AMM-Anbieter vom Beco mittlerweile gezielt in die Projektarbeit einbezogen.