25.06.2015
FOTO UND TEXT: Caspar Türler
Über Land mit einer besonderen Fracht im Rückspiegel.

Über Land mit einer besonderen Fracht im Rückspiegel.

Schwerlasttransport

132 Räder für ein Riesenbonbon

Schwerlasttransporte sind kein Zuckerschlecken. Auch wenn die Last - in diesem Fall - einer Süssigkeit ähnlich sieht. Unterwegs mit einem Turbinenrotor von der Produktion im Aargau bis zum Einsatzort in den Glarner Bergen.

Die Mannschaft der Transportfirma Global Heavy Logistics (GHL) ist spät dran. Mit zwei grossen Schleppern, einem Spezialanhänger und einem Begleitfahrzeug haben sie sich zwar rechtzeitig in Baar auf den Weg gemacht. Doch unterwegs in den Aargau musste das Team um Projektleiter Robert Senn eine defekte Hydraulikleitung reparieren. Beim Kunden Alstom in Birr wartet ein riesiger Turbinenrotor auf die vier Spezialisten. Ziel ist das Kraftwerk Linth-Limmern in Tierfehd, Kanton Glarus.

Markus Fischer, der Fahrer des Zugfahrzeugs, meldet die Gruppe bei der Portierloge des weitläufigen Werkgeländes an. Wenig später fährt er zur Halle K und setzt seinen 20 Meter langen Anhänger rückwärts hinein. Drinnen riecht es metallisch-ölig, nach Kunststoff, etwas verbrannt. Das Pfeifen eines blinkenden Elektrostaplers hallt von den hohen Wänden — hier drin hätte ein Jumbo Platz. Links und rechts liegen unzählige überdimensionierte Achsen, Scheiben, Muttern und Schrauben.

Von der Decke des Alstom-Werks in Birr hängt das zylinderförmige «Ding», das auf den Spezial-Laster verladen werden soll. In Form und Farbe gleicht das sechs Millionen Franken teure Stück Hightech einem Bonbon, das nur darauf wartet, im Mund eines Riesen zu verschwinden. Doch es ist ein Turbinenrotor - zehn Meter lang, in der Mitte zweieinhalb Meter dick, an den Enden knapp ein Meter dünn. Gehalten werden die 140 Tonnen Fracht vom hallenbreiten Auslegerkran und von vier armdicken Nylonseilen. 

Aufwändige Sicherung, grosse Kräfte

Alles wäre parat. Doch fast eine Stunde regt sich nichts — die Sicherung des Kranmotors hat beim Manövrieren überhitzt. Um 16 Uhr 30 dirigiert der Kranführer den grün verpackten Rotor endlich zum Anhänger. Die drei orange eingekleideten Chauffeure kontrollieren die Schwebeposition des Transportgestells vorn, hinten, seitlich und geben schliesslich das Okay zum Absenken. Die 104 Räder des Anhängers – je 8 Stück an 13 Achsen – nehmen die Ladung geräuschlos auf. Die Männer befestigen insgesamt zehn Ketten und Seile mit grossen Ratschen, kontrollieren die Befestigung und überziehen den Rotor anschliessend mit einer blauen Regenplane.

Robert Senn, Beat Zürcher und Markus Fischer sorgen für sichere Befestigung.Foto: Caspar Türler

Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn die Ladung nicht richtig gesichert ist. «Die Kräfte, die unterwegs auf die Komposition einwirken, sind enorm», erklärt Markus Fischer. Beim Beschleunigen und Bremsen zerrt die Ladung in Längs- und Querrichtung mit dem drei- bis fünffachen Eigengewicht am Anhänger – im Extremfall also mit 700 Tonnen.

Doch wie kann man sich nur schon eine ruhende Masse von 140 Tonnen vorstellen? Zum Beispiel in Form eines doppelstöckigen Autotransporters, wie man sie oft sieht. Bloss mit dem Unterschied, dass dieser Transporter nicht 10, sondern 80 Autos geladen hat.

Via Schwerlastroute vom Aargau ins Glarnerland

Um von Birr (AG) nach Tierfehd (GL) zu kommen, benötigt ein Personenwagen etwa 1 Stunde und 40 Minuten (125 Kilometer, drei Viertel davon auf der Autobahn entlang der Südseite des Zürichsees).

Auf der 150 Kilometer langen Schwerlastroute darf die Autobahn aufgrund von Grösse und Gewicht des Transports kaum benutzt werden. Ein Auto würde für diese Strecke rund 3 Stunden benötigen — der Schwertransporter braucht fast doppelt so lange. Die Sicherheit geht vor, und die erlaubte Höchstgeschwindigkeit liegt bei 60 km/h.
(Quelle: open street map, osm.ch)

Schweizer Spezialauflagen

An den Eckdaten des Zugfahrzeugs hätte jeder Quartettspieler seine Freude: MAN V8 Common Rail Diesel, 16 Liter Hubraum, 3 angetriebene Achsen, 680 PS, automatisches 12-Gang-Getriebe, Wandlerschaltkupplung. Beeindruckender als diese Zahlen ist aber die Leichtigkeit, mit welcher Markus Fischer nun die reisefertige Last behutsam rückwärts zum Werksausgang manövriert.

Hier warten schon die Kollegen: Beat Zürcher im sogenannten Stossfahrzeug und Martin Bölsterli im begleitenden Kleintransporter. «In jedem anderen Land Europas kann man mit bis zu 500 Tonnen alleine fahren. Doch in der Schweiz braucht es ab 120 Tonnen und zwei angetriebenen Achsen ein zusätzliches Stossfahrzeug. Das schreibt die schweizerische Adhäsionsverordnung vor», erklärt Beat Zürcher. In diesem Fall handelt es sich um einen fast identischen MAN-Lastwagen.

Mit einer dicken Stahlstange verbinden die Männer nun dessen Front mit dem Ende des Anhängers. Damit auch der hintere Lastwagen die nötige Kraft auf die Strasse bringt, wird er mit Betonelementen auf 32 Tonnen «ballastiert». Die ganze Komposition ist schliesslich rund 30 Meter lang und rollt auf 132 Rädern.

18 Uhr 40. Die Aargauer Kantonspolizei ist eingetroffen, man begrüsst sich und bespricht die vorgeschriebene Strecke, eine Schwerlastroute der Kategorie I und II. Die Transportfirma hat im Vorfeld die Sonderbewilligungen bei den zuständigen Strassenverkehrsämtern eingeholt und die Polizei der vier durchfahrenen Kantone bestellt.

«Das hier ist eine Spazierfahrt. Ich habe schon schon Tunnelbohrmaschinen mit sieben Metern Durchmesser auf 17 Achsen transportiert - da wird's erst spannend.»

  

Markus Fischer, Schwerlasttransport-Chaffeur bei GHL

Kreisel überfahren, «Maja» stehen lassen

Um 19 Uhr setzt sich der Tross in Bewegung, flankiert von Begleitfahrzeug und Streifenwagen, die vorne und hinten für freie Bahn sorgen. Der Weg führt nicht etwa über die nahe Autobahn, sondern entlang weisser Verkehrsschilder durch Windisch und Gebenstorf in Richtung Baden. Auffallend ist, dass den Fahrern keine besonderen Assistenzsysteme zur Verfügung stehen. Links und rechts der Kabine hängen jedoch drei Rückspiegel. In der linken Hand hält Markus Fischer zudem eine kleine Funksteuerung der Anhängerlenkung. Mit der rechten Hand greift er immer wieder zum Funkgerät, um mit der Polizei und den Kollegen die Durchfahrt schwieriger Stellen zu besprechen.

Auch die speziellen Kreisel auf der Route fallen — auf den zweiten Blick — auf. Damit Spezialfahrzeuge wie dieser Industrietransport sie überhaupt passieren können, sind Kreisel auf Schwerlastrouten nur teilweise mit Pflanzen, Steinen oder Plastiken besetzt. Links oder rechts ist für die Giganten der Strasse vielerorts zusätzlicher Platz vorhanden. An manchen Kreiseln werden Pfosten für die Durchfahrt per Spezialschlüssel entfernt. 

Schwerlasttransporter dürfen Kreisel mit Polizeierlaubnis «überfahren».Foto: Caspar Türler

Über Funk mahnt Martin Bölsterli im verkehrsleitenden Begleitfahrzeug immer wieder: «Laasch mer d Maja staa, gäll Markus.» — «Isch klar», gibt dieser zurück und zirkelt um die besagten Hindernisse. Während bei der Kabine vorne ein Wegweiser nur Zentimeter an der Seitenscheibe vorbeizieht, sorgt Markus Fischer mit Blick in den Rückspiegel auch dafür, dass der Anhänger den gelb-schwarz gestreiften Kreiselpylon nicht mitnimmt — die «Biene Maja» eben.

Faszinierende Verantwortung

Velofahrer, Jogger und Kinder bleiben auf dem Trottoir stehen und staunen, bis das Riesending vorbei ist. «Das ist eine Spazierfahrt für uns», meint Markus Fischer und erzählt, dass er schon Tunnelbohrmaschinen mit sieben Metern Durchmesser auf 17 Achsen transportiert habe.

Wie fühlt man sich mit so einer Ladung im Rücken, mit dieser grossen Verantwortung? Markus Fischer gibt die Frage per Funk an die Kollegen weiter. «Diese Verantwortung gefällt uns, gell Beat?» — «Ja, das isch e zwägi Sach», antwortet dieser. Und Martin Bölsterli gibt zu bedenken, diese Arbeit sei fast wie eine Sucht: Wer einmal Spezialtransporte übernommen habe, den lasse die Faszination des Aussergewöhnlichen nicht mehr los.

«Etwa 25 Fahrer sind es in der Deutschschweiz, die so einen Transport durchführen können», gesellt sich Beat Zürcher wieder aus dem Stossfahrzeug zum Funkverkehr. Es sind wenige Spezialfirmen, man kennt sich, ist von einem ähnlichen Schlag. Ein Spässchen hin und wieder, klar, aber immer die Augen auf der Strasse. «Natürlich gibt es auch Situationen, wo man die Verantwortung gerne mal abgibt», räumt Markus Fischer ein. «Zum Beispiel Telefonate mit den Behörden, die überlasse ich gerne meiner Frau.» 

Doch zurück zur Strecke, jetzt kommt gleich das Nadelöhr. Zuerst muss die Limmatbrücke bei Obersiggenthal (AG) kurz gesperrt werden. Insgesamt bringt die Komposition 230 Tonnen auf die Waage — da ist es sicherer, wenn sonst nichts über die Brücke fährt. Gleich nach der Brücke fährt Markus Fischer geradeaus in eine Quartierstrasse, hält an und setzt zurück. Was soll das nun werden? Die Polizei hat eben die ganze, doppelspurige Kreuzung gesperrt, so dass der Lastzug eine Spitzkehre vollführen kann. Nur so schafft er die enge Rechtskurve.

In Otelfingen (ZH) folgt kurz nach 20 Uhr die Übergabe der Polizeibegleitung an die Zürcher Kollegen. Nach einem kurzen Stück Autobahn von Zürich-Affoltern bis Volketswil geht’s wieder über Land, via Fehraltorf und Dürnten. Immer wieder wird es eng unterwegs, stehen Häuser oder Personenwagen gefährlich nahe am Weg des Blechkolosses. Doch alles geht glatt. Die Männer können stolz sein — die Auflagen in der Schweiz sind streng (siehe Kasten).

Was braucht es, um Schwertransport-Chauffeur zu werden?

Fahrer eines Schwertransports benötigen den Führerausweis der Kategorie CE. Dieser berechtigt zum Lenken von über 3,5 Tonnen schweren Zugfahrzeugen und einem Anhänger mit mehr als 750 Kilogramm Gesamtgewicht.

Gemäss Chauffeurzulassungsverordnung (CZV, Verordnung 741.521) ist für Transporte in dieser Kategorie zusätzlich der Fähigkeitsausweis für Gütertransporte vorgeschrieben. Er deckt ein grosses Spektrum von theoretischem und praktischem Wissen ab, unter anderem:

  • Kenntnisse der auftretenden Kräfte und ökonomisches Fahrverhalten
  • Verbrauchs-, Beschleunigungs- und Bremscharakteristiken schwerer Lastwagen
  • Berechnung der Nutzlast und des Nutzvolumens
  • Richtiges Verteilen, Befestigen und Signalisieren der Ladung
  • Erstellung internationaler Beförderungsgenehmigungen und Frachtbriefe
  • Rechtskunde (Kriminalität, illegale Einwanderung)
  • Persönliche Ergonomie und Fitness, Einfluss von Müdigkeit
  • Gefahrengutvorschriften und Spezialtransporte (Tankwagen usw.)
  • Verhalten bei Schwerlasttransport-Notfällen

Die dritte Voraussetzung, um übergrosse und/oder überschwere Güter erfolgreich zu fahren, ist über Jahre aufgebaute Erfahrung und kontinuierliche Weiterbildung. Zudem müssen sowohl der Führer- als auch der Fähigkeitsausweis alle fünf Jahre erneuert werden.

Reparatur im Tunnel

21 Uhr 45. Inzwischen ist es dunkel geworden, heftiger Regen setzt ein. Vor dem Tunnel von Schmerikon meldet Beat Zürcher den Geruch von Bremsbelägen. Der trockene Tunnel wird flugs zur Inspektion des Anhängers genutzt. Siehe da: Eine der Bremsen ist verklemmt und heissgelaufen. Zwei, drei Griffe mit dem grossen Schraubenschlüssel und die Bremse ist gelöst.

Die Polizeieskorte des Kantons Zürich übergibt für ein kurzes Stück an die Kollegen von St. Gallen, und um 22 Uhr folgt der letzte Wechsel an der Glarner Kantonsgrenze. Eine Stunde später passiert der Tross das menschenleere Linthtal. Die mächtigen Dieselmaschinen schnaufen ein letztes Mal beim Anstieg nach Tierfehd, und um 23 Uhr 25 ist das Ziel erreicht. Im Licht des Begleitfahrzeugs wird der Rotor noch parkiert. Obwohl die drei Fahrer seit Mittag nichts gegessen haben, genügt ihnen ein Bier im Schein der Stirnlampe. Es warten nur wenige Stunden Schlaf in den Lastwagenkojen.

Generator- und Generationenwechsel

Um 7 Uhr morgens hat die Mannschaft den Parkplatz bereits verlassen und fährt durch einen Tunnel etwa 200 Meter in den Berg hinein, zur Kaverne des Kraftwerks Tierfehd. Der heute angelieferte Alstom-Rotor ersetzt zusammen mit anderen Bauteilen einen der drei 60-jährigen Generatoren der Vorgängerfirma BBC. Der Enkel übernimmt quasi die Aufgaben des Grossvaters.

9 Uhr 30. Das «Riesenbonbon» ist geliefert und entladen. Der Schwertransporter verlässt die Kaverne, die Männer in Orange fahren zurück nach Baar. In einem Jahr werden sie in Tierfehd den letzten der drei Generatoren ersetzen. Damit die wertvolle Energie aus Stauseen unseren Bedarf auch in Zukunft decken hilft.

Druckwasserturbinen: Hoher Wirkungsgrad, mehr Strom

Die neu gelieferten Alstom-Generatoren produzieren dank verbesserter Elektronik rund ein Fünftel mehr Strom als ihre BBC-Vorgänger. In Sachen Wirkungsgrad kann einer solchen Turbine nichts das Wasser reichen: Er liegt – heute wie schon vor 60 Jahren – bei rund 90 Prozent (zum Vergleich: Ein moderner Personenwagen hat einen Wirkungsgrad von rund 40 Prozent).

Der neue Rotor wird – wie schon die erste Generation von 1957 – durch zwei Doppel-Peltonturbinen angetrieben. Diese werden aus dem 1000 Meter höher gelegenen Limmernsee über eine 100-Bar-Druckleitung mit bis zu elf Kubikmetern Wasser pro Sekunde beschossen. Der Rotor wird damit auf maximal 600 Umdrehungen pro Minute beschleunigt. Im Vollbetrieb liefert die Turbine 102 Megawatt oder umgerechnet fast 140000 PS. (Quelle: Axpo)