11.10.2016

Wertschöpfung im Glashaus.

Beschäftigungswachstum

Zum ersten Mal über fünf Millionen Erwerbstätige

Die Schweiz verzeichnet seit zehn Jahren einen markanten Anstieg der Beschäftigung, der weder von der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008/09 noch vom Frankenschock im Januar 2015 gebremst wurde. Kurz: ein Wunder.

Im vierten Quartal 2015 kletterte die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz gemäss der Erwerbstätigenstatistik (ETS) des Bundesamtes für Statistik zum ersten Mal in der Geschichte über die 5-Millionen-Grenze mit 5,004 Millionen wirtschaftlich aktiven Menschen. Im zweiten Quartal 2016 gingen laut den am 20. September veröffentlichten Zahlen 5,033 Millionen Personen einer bezahlten Arbeit nach. Gegenüber dem zweiten Quartal 2010 bedeutet dies einen Anstieg um 480 000 Individuen beziehungsweise 10,5 Prozent, im Durchschnitt also 1,75 Prozent pro Jahr. Im europäischen Vergleich steht die Schweiz hervorragend da: Eurostat verzeichnet für die EU-27 im gleichen Zeitraum eine Zunahme um 1,55 Prozent auf 236,6 Millionen Beschäftigte. 

Beschäftigung Schweiz 2010 bis 2016

In der Grobstruktur entfallen von der gesamten Zunahme in der Schweiz 47,5 Prozent auf Männer und 52,5 Prozent auf Frauen. Nach Sektoren trägt der dritte oder Dienstleistungssektor fast das komplette Wachstum bei mit 436 000 Personen oder 91 Prozent. 288 000 Stellen beziehungsweise 60 Prozent wurden von Ausländerinnen und Ausländern besetzt. Innerhalb des dritten Sektors gab es den grössten Zuwachs in den Bereichen Bildung und Unterricht sowie im Gesundheits- und Sozialwesen; hier entstanden 177 000 neue Stellen. Dagegen stagnierte im erwähnten Zeitraum die Beschäftigung bei Finanz- und Versicherungsdienstleistungen weitgehend; sie stieg nur noch um knapp 5 Prozent auf 238 000 Personen.

Staunen auch bei der KOF

Die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich beschäftigte sich bereits vor zwei Jahren mit dem Phänomen und erstellte dazu die Studie «The Swiss ‹Job Miracle›», nicht zuletzt deshalb, weil sie selber gemäss dieser Studie das Wachstum der Beschäftigung «systematisch und wiederholt» unterschätzt hatte. Tatsächlich ist die Zunahme kaum vereinbar mit konventionellen wirtschaftswissenschaftlichen Mustern. Im Jahr 2008 verzeichnete die Schweizer Wirtschaft Rekordwerte: Das Bruttoinlandprodukt stieg um volle 90 Milliarden auf 597 Milliarden Franken, und punkto Beschäftigung kletterte die Zahl der Erwerbstätigen zum ersten Mal über den Wert von 4,5 Millionen. Sie überstand aber auch die Rezession im Rahmen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise trotz vorübergehenden Einbrüchen beim Export weitgehend unbeschadet, vor allem dank der Binnenwirtschaft, zum Beispiel der Bauwirtschaft und den sogenannt staatsnahen Bereichen. Dabei lagen die Produktionskosten um 20 bis 30 Prozent über der internationalen Konkurrenz, und zwar schon vor dem Frankenschock, den die Nationalbank erst einen Monat nach Erscheinen der Studie auslöste, als sie die Wechselkursuntergrenze zum Euro aufhob.

Die Autoren der KOF-Studie halten fest, dass der Grossteil des Stellenzuwachses im Bereich gut und sehr gut qualifizierter Fachleute stattfand und in erster Linie durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte erfolgte, eine direkte Auswirkung der Personenfreizügigkeit. Als weiteren Faktor nennt die Studie die verstärkte Präsenz von Firmenhauptsitzen und die Zunahme von ausländischen Direktinvestitionen, hauptsächlich im Bereich Forschung und Entwicklung. Der Kapitalstock von ausländischen Firmen in der Schweiz erhöhte sich zwischen 2002 und 2012 von rund 200 Milliarden auf fast 700 Milliarden Franken. 

Gleichzeitig leicht steigende Arbeitslosigkeit und höhere Sozialhilfekosten

Paradoxerweise bedeutet der massive Anstieg der Erwerbspersonen nicht eine gleichzeitige Abnahme der Arbeitslosigkeit. Im August 2016 waren laut Angaben des SECO rund 143 000 Personen als arbeitslos gemeldet, was einer Quote von 3,2 Prozent entspricht. Dieser Wert hält sich mit einigen Schwankungen seit über zehn Jahren in der gleichen Grössenordnung. Es gibt dafür verschiedene Gründe. Am nächsten liegt die Erklärung, dass eine strukturelle Verlagerung bei den Arbeitsplätzen stattgefunden hat. Die neu entstandenen Stellen liegen in anderen Branchen und erfordern andere Qualifikationen als jene, die verloren gingen. Ein Teil der von Stellenabbau betroffenen Berufstätigen vermochte mit der Qualifikation nicht zu folgen und wurde arbeitslos. 

Ein anderer Grund liegt darin, dass heute mehr Personengruppen Arbeit suchen und damit in der Arbeitslosenstatistik auftauchen als früher. Namentlich die Verschärfungen im IV-Bereich zwingen zahlreiche Rentenbezügerinnen und -bezüger zum Nachweis aktiver Bemühungen um eine Erwerbsarbeit. Ähnliches mag auch für einen Teil der Frauen gelten, welche früher ein Leben als Hausfrauen führten, während sie heute den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt suchen und damit ebenfalls in der Arbeitslosenstatistik auftauchen, solange sie keinen Job finden.

Die höheren Anforderungen bei der Vergabe von IV-Renten wirken sich auch bei den Sozialhilfekosten aus, neben anderen Faktoren wie zum Beispiel steigende Mietkosten oder auch die zunehmende Zahl von Einpersonenhaushalten, welche höhere Lebenshaltungskosten aufweisen als Mehrpersonenhaushalte. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen weisen für das Jahr 2014 eine Zunahme um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr aus. Gegenüber dem Jahr 2004 erhöhten sich die Zahlungen für Sozialhilfe von knapp 5 Milliarden Franken auf 7,852 Milliarden Franken im Jahr 2014.

Nachhaltigkeit

Der erwähnte Personalzuwachs im Bildungs- und Gesundheitssektor kann als Folgeeffekt der Zuwanderung interpretiert werden; er absorbiert wohl auch einen grossen Teil der neuen Arbeitsplätze von Frauen. Doch dies alles erklärt die wirklichen Gründe für das Jobwunder nicht vollständig, und es stellt sich die Frage, ob die Entwicklung der letzten Jahre nachhaltig ist. Wie erwähnt, wurden laut der KOF-Studie sowohl die Beschäftigung als auch das Bruttoinlandprodukt in den letzten Jahren in erster Linie von gut bis hoch qualifizierten Fachkräften im Tertiärbereich getrieben. Dies widerspiegelt einen Megatrend in Wirtschaft und Gesellschaft, die Verlagerung hin zu einer Wissensgesellschaft. Vieles deutet darauf hin, dass die Schweiz erfolgreich in diesen Transformationsprozess eingestiegen ist, und damit wäre die Frage nach der Nachhaltigkeit positiv zu beantworten.

Selbstverständlich kommt es hier auch auf den Blickwinkel an. Wie verschiedene politische Strömungen und Ereignisse zeigen, bestehen durchaus auch andere Vorstellungen bezüglich einer solchen Transformation und noch deutlicher bezüglich der Einwanderung und des durch sie begründeten wirtschaftlichen Erfolgs und somit generell auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit. Aber das ist eine andere Debatte.

Gründe und Hintergründe

Wie erklärt sich die gewaltige Zunahme der Beschäftigung in den letzten Jahren mitten in einer Phase von Krisen und Auslagerungen? Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktspezialist bei der KOF an der ETH Zürich, erläutert im Interview die Sicht seines Instituts.

Michael Siegenthaler, aus welchen Gründen hat die KOF das Beschäftigungswachstum unterschätzt? 
Michael Siegenthaler: Der Hauptgrund für die Fehleinschätzung lag darin, dass wir die Auswirkungen des Wirtschaftswachstums auf die Beschäftigung unterschätzt haben. Hier hat sich nach der Jahrtausendwende eine strukturelle Veränderung ergeben, welche wir nicht sofort als solche erkannt haben. Sie führt in den betroffenen Bereichen zu einer Zunahme der Beschäftigungsintensität.

Welchen Umfang hatte die Fehleinschätzung?
Der Fehler lag im Bereich von 0,2 bis 0,4 Prozentpunkten pro Jahr bei einem prognostizierten Wachstum von etwa 0,8 Prozent, und er betraf eine relativ kurze Periode von zwei bis drei Jahren. Dann hatten wir unsere Modellierung justiert.

Die höhere Beschäftigungsintensität widerspricht den gängigen Vorstellungen, wonach die Beschäftigung wegen der Rationalisierung und Automatisierung tendenziell eher abnimmt.
Diese Vorstellungen sind zwar nicht falsch, aber sie erfassen nicht die ganze Wahrheit. Zum einen entstehen bei Rationalisierungen und sogar bei Auslagerungen auch neue Arbeitsplätze, natürlich in anderen Bereichen als vorher, aber immerhin. Zum anderen ersetzen viele Technologien Arbeitsplätze nicht, sondern transformieren sie. Nehmen Sie das Beispiel der Bancomaten: Bei ihrer Einführung sprach man vom Untergang des Bankschaltergeschäfts. Stattdessen veränderten sie die Arbeit der Bankangestellten. Diese wurden von Kassiererinnen und Kassierern zu individuellen Kundenberaterinnen und -beratern. Abgesehen davon stärkt die Rationalisierung die Wettbewerbsfähigkeit, und sie macht uns reicher, das heisst, wir können uns wegen tieferer Preise mehr Konsum leisten. Beides hat wiederum positive Auswirkungen auf die Beschäftigung. 

Was können Sie zu den beiden Faktoren «Frauen» und «Zuwanderung» sagen?
Die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte nach der Einführung der Personenfreizügigkeit war zweifellos von zentraler Bedeutung. Zwischen 2002 und 2016 hat sich die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen um 50 Prozent erhöht von 1,043 Millionen auf 1,540 Millionen, und da sind die in diesem Zeitraum erfolgten Einbürgerungen noch nicht einmal berücksichtigt. Der grösste Teil der Zuwanderung entfiel dabei auf gut bis sehr gut qualifizierte Arbeitskräfte, welche sozusagen eine hohe Wertschöpfung mit importierten. Die Schweiz hätte ihr Wirtschaftswachstum in den letzten 15 Jahren niemals mit eigenen Ressourcen bestreiten können. Bei den Frauen stellen wir vor allem fest, dass die Beschäftigungszunahme zuletzt in den höheren Altersklassen besonders markant ausfiel und sich auf den Dienstleistungssektor konzentrierte.

Wie schätzt die KOF die mittelfristigen Aussichten für Wirtschaft und Beschäftigung ein?
Wir sind für die nähere Zukunft nicht mehr so optimistisch wie in den letzten drei bis vier Jahren. Wir beobachten eine gewisse Abnahme der Attraktivität der Schweiz als Arbeitsplatz, zum Teil wegen der starken Währung, der tiefen Margen der Schweizer Firmen und wegen der Diskussionen rund um die Masseneinwanderungsinitiative. Zudem weisen die Daten auf internationaler Ebene auf eine Abnahme der Investitionsneigung hin und insbesondere auf eine Schwäche des Welthandels. Vor allem China, aber auch Russland und Brasilien können nicht mehr jene Impulse geben, welche die Weltwirtschaft mehr als zehn Jahre lang beflügelt haben. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «Secular Stagnation», also einer dauerhaften Reduktion, vielleicht sogar Stagnation des weltweiten Wirtschaftswachstums. Die Wachstumsaussichten in der Schweiz dürften aber vor allem von der Zuwanderungspolitik bestimmt werden. Eine starke Beschränkung der Zuwanderung würde automatisch zu einer Beschränkung des Beschäftigungswachstums führen.

 

Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktspezialist bei der KOF ETHZ, beobachtet einen Strukturwandel. Foto: Albert Jörimann