04.11.2016
FOTO UND TEXT: Albert Jörimann

Beim Podiumsgespräch zeigte sich die Vielfalt möglicher Karrieren, Erfolge – und Hindernisse.

Migrationstagung

Im Zeichen der Integration

Mehr als ein Drittel, mit den Eingebürgerten sogar 50 Prozent der Beschäftigten sind ausländischer Herkunft. Die Jahreskonferenz der Eidgenössischen Migrationskommission thematisierte deren Zugang zum Arbeitsmarkt.

Der in Niederbayern aufgewachsene Unternehmer Josef Maushart bietet nicht nur den Arbeitnehmenden in der Firma Fraisa SA im solothurnischen Bellach die Möglichkeit, sich ständig weiterzubilden. Er bemühe sich auch im Kontakt mit der Kantonsregierung um eine verbesserte Nutzung vorhandener Potenziale sowohl bei ausländischen als auch bei inländischen Arbeitskräften, sagte er am 2. November in seinem Inputreferat an der Jahreskonferenz der Eidgenössischen Migrationskommission. Der anhaltende Innovationsdruck bedeute für die Industrie neben anhaltenden Kapitalinvestitionen auch laufende Investitionen in die Mitarbeitenden, damit sie mit der Entwicklung der Technologie Schritt halten können. Qualifizierung ist für Maushart der zentrale Begriff.

Gemäss dem Ökonomen Tobias Müller von der Universität Genf werden heute nicht nur industriell-manuelle Tätigkeiten automatisiert, sondern zunehmend auch repetitive Dienstleistungstätigkeiten. Dies führt zu einer Polarisierung: Die Jobs in der Mitte der Lohnskala verschwinden tendenziell, während Niedriglohn-Arbeitsverhältnisse ebenso zunehmen wie hoch bezahlte Stellen für gut und sehr gut qualifizierte Fachleute. Mit Bezug auf die Einwanderung lässt sich sagen, dass neben den Spezialisten, welche das letzte Einwanderungsjahrzehnt geprägt haben, auch weiterhin Migrantinnen und Migranten für wenig qualifizierte Arbeiten benötigt werden. 

 

Die Kommission auf einen Blick

Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen (EKM) ist eine beratende, ausserparlamentarische Kommission, zusammengesetzt aus Ausländerinnen und Ausländern sowie Schweizerinnen und Schweizern. Sie besteht aus 30 Mitgliedern, mehrheitlich Vertreter von Verbänden und Organisationen, welche sich regelmässig mit Migrationsfragen befassen, wie Gewerkschaften, Kirchen, Arbeitgeber, Kantone und Gemeinden, sowie Expertinnen und Experten. Gegründet wurde sie im Jahr 2008 als Nachfolgerin der Ausländerkommission und der Kommission für Flüchtlingsfragen. Auf dem Sekretariat in Bern arbeiten sieben Personen. 

Die EKM hat den Auftrag, sich mit allen Fragen zu befassen, die sich aus dem Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz ergeben. Sie tut dies mit verschiedenen Instrumenten: Publikationen, Stellungnahmen, Projektunterstützung und Dossiers.

Bemerkenswert ist die regionale Verankerung einzelner Programme wie etwa der «Projets urbains», eine Initiative, welche gemeinsam mit weiteren Fachstellen des Bundes Quartierentwicklungsprojekte betreibt (derzeit unter anderem in Aarburg, Pratteln, Spreitenbach oder Rorschach), oder «Periurban – Zusammenleben im ländlichen Raum» (aktuell etwa Aargau Süd, Glarus Süd oder St. Galler Rheintal). 

Ein reichhaltiges Angebot bieten die Themenhefte aus der Reihe «terra cognita». Sie erscheinen zweimal pro Jahr in den drei grossen Landessprachen. Die aktuelle Ausgabe (Herbst 2016) befasst sich mit dem Thema «Wirtschaft und Arbeit im Fokus».

Auf der Webseite www.ekm.admin.ch findet man neben Materialien und Links zu den einzelnen Projekten auch Kurzinformationen zu Themen wie Zuwanderung und Aufenthalt, Flucht und Asyl.

 

Bessere Bildungschancen für die unteren Schichten

Daneben hob Müller wie zuvor der Unternehmer Maushart die Notwendigkeit von Qualifizierungs- und Bildungsoffensiven hervor. Er forderte die Verbesserung der Chancen von Kindern aus «bildungsfernen» Milieus. Hier braucht es vorschulische Angebote, welche helfen, Hemmungen und Hindernisse zu beseitigen.

Begonnen hatte die Tagung mit einer Lesung aus dem autobiografischen Roman «Tauben fliegen auf» durch die Autorin Melinda Nadj Abonji. Sie ist als Tochter von Emigranten aus dem ungarischsprachigen Teil Ex-Jugoslawiens an der Zürcher Goldküste aufgewachsen. Die Erinnerungen an den ersten Schultag in einer komplett fremden Umgebung, deren Sprache sie nicht verstand, oder an spätere Gespräche unter den Eltern, die genaue Beschreibung des kleinen Alltagsrassismus der Goldküsten-Dorfaristokratie gegenüber der Serviertochter stellen einen Migrationsstoff par excellence dar. 

Melinda Nadj Abonji erhielt dafür im Jahr 2010 neben dem Schweizer auch den deutschen Buchpreis – notabene als erste Schweizer Autorin überhaupt, und allein dies ist ein weiterer Beitrag zum Thema Einwanderung.

 

Der Gewerbeverband in der Migrationskommission

Der Schweizerische Gewerbeverband (sgv) ist bekannt für seine klar bürgerliche Ausrichtung. In der Migrationskommission wird er vertreten von Dieter Kläy. Für den FDP-Kantonsrat aus Winterthur findet Integration überall statt.

«der arbeitsmarkt»: Welche Haltung vertritt der Gewerbeverband in den beiden Migrations-Hauptbereichen Asyl und Personenfreizügigkeit?

Dieter Kläy: Der sgv unterstützt die bilateralen Verträge und begrüsst den vom Nationalrat eingeschlagenen unbürokratischen Weg zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Daneben werden Fragen zum Arbeitsmarkt, aber auch zur Migration in der «ständigen Kommission Arbeitsmarkt» des sgv diskutiert.

Welche Rolle spielen Sie als sgv-Vertreter in der Kommission?

Ich bringe die Anliegen des Gewerbes und der Arbeitgeberschaft an den Sitzungen ein. Der Austausch der verschiedenen Sichtweisen zum Thema Migration ist wichtig. Daneben ist der sgv im Rahmen verschiedener Projekte und Arbeitsgruppen beim Staatssekretariat für Migration engagiert. 

Wie beurteilen Sie die Instrumente der EKM?

Ausserparlamentarische Kommissionen wie die EKM beraten primär die Verwaltung. Die Publikationen beleuchten die Migrationsthematik von verschiedenen Blickwinkeln her zuhanden der Öffentlichkeit. 

Wie sollte die Integration von Ausländerinnen und Ausländern aus Sicht des sgv aussehen?

Integration findet überall statt, in der Schule, im Quartier und insbesondere auch am Arbeitsplatz. Die Verbände und Dachorganisationen der Wirtschaft leisten ebenfalls einen grossen Beitrag. Letztendlich liegt es aber am Einzelnen, sich zu engagieren, insbesondere beim Erwerb der Sprache und bei der Übernahme unserer Arbeitskultur.

 

Harsche Kritik am Begriff Assimilation

Den Höhepunkt der Jahreskonferenz bildete zweifellos die Auseinandersetzung zwischen Maike Burda vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung und dem Historiker Kijan Espahangizi von der ETH Zürich. Maike Burda präsentierte unter dem Titel «Assimilation als Integrationsstrategie?» eine Studie von Ruud Koopmans, welche verschiedene Thesen zur niedrigeren Arbeitsmarktintegration von muslimischen Frauen und hohen Arbeitslosenraten von Muslimen in Europa aufstellt. 

Da war Espahangizi schon auf hundert. Assimilation sei ein Konzept vom Beginn des 20. Jahrhunderts mit engen Bezügen zu Nationalismus und Rassismus. Sie setze eine homogene Gesellschaft voraus, in welche die Migrantinnen eingeschmolzen werden müssten. Bei Koopmans beziehungsweise Burda heisst dies «Mehrheitsgesellschaft», ein Begriff, der bei Espahangizi keine Gnade fand. Die ausdrückliche Einschränkung der Studie auf Muslime sei ebenfalls unzulässig, weil sie unterstelle, dass Muslime völlig homogen religiös seien, was ein ordentlicher Blödsinn sei. Maike Burda hatte gegenüber dieser Kritik einen schweren Stand, wie sie selber einräumte. 

Integration konkret

Am Nachmittag tauschten sechs Einwanderinnen und Einwanderer in einem Podiumsgespräch ihre persönlichen Erfahrungen aus. Wo solche Diskussionsrunden sonst meistens um die Probleme bei der Migration kreisen, standen hier persönliche Erfolgsgeschichten im Vordergrund: die Biologin aus Palermo, die heute an der Universität Zürich Forschung betreibt; der SBB-Zugführer aus Gambia, der seine Karriere in der Schweiz über verschiedene Stationen in der Gastronomie entwickelt hat; der Syrer, der heute selber ein Flüchtlingswerk für Syrer leitet, sowie drei Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien, welche heute ein Reinigungsinstitut führen, als Ingenieur arbeiten oder bei der Migros Aare die Verantwortung für Früchte und Gemüse tragen.

Sie alle repräsentieren verschiedene Facetten des Zugangs zum Schweizer Arbeitsmarkt. Dass sie dabei auch auf Schwierigkeiten gestossen sind, versteht sich von selber: von der Mentalität, wo es mit Bezug auf den Historiker Espahangizi offenbar doch so etwas wie eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die typischen tüpflischiissenden Schweizer, über das fremdenpolizeiliche oder Asylverfahren, wo es offenbar stark darauf ankommt, in welchem Kanton oder bei welchem Berater man landet, bis hin zum Arbeitsumfeld, wo man ebenfalls mehr oder weniger Schwein haben kann. Aber insgesamt war die Botschaft vom Podium klar: Integration ist nicht nur möglich, sie ist aus Sicht der Zuwanderer eine absolute Selbstverständlichkeit, ja Notwendigkeit.

Auch hier: weg von alten Denkmustern

In seinem einleitenden Referat hatte Walter Leimgruber, der Präsident der Migrationskommission, den grossen Bogen geschlagen zu den aktuellen politischen Strömungen. Er sprach zum einen vom neoliberalen Wunschtraum der kompletten Beherrschung des Staates durch die Wirtschaft, zum anderen vom krampfhaften Festhalten der traditionellen politischen Kräfte an den Denkmustern des «Industrialismus», welche das Verständnis der neuen Entwicklungen erschweren und auch zum Erstarken der populistischen, nationalistischen und xenophoben Kräfte geführt haben. 

Dabei ist kein Ende der Migration abzusehen. Allein der Klimawandel kann in absehbarer Zeit weitere 150 Millionen Menschen zum Verlassen ihres bisherigen Lebensraumes zwingen.

«Flucht» – eine Ausstellung im Landesmuseum Zürich

Die meisten Migrationsbewegungen sind Fluchtbewegungen. Flucht vor Krieg, Flucht vor Armut, Flucht wegen mangelnder Perspektiven. Das Landesmuseum Zürich widmet diesem Thema eine Ausstellung. Sie will den Besucherinnen die Mühsal und die Entbehrungen nahebringen, welchen die Flüchtlinge ausgesetzt sind, sowohl auf der Reise als auch am Ziel, wo sie immer häufiger nicht willkommen sind. Aus verschiedenen Gründen. 

Auf 65 Millionen Menschen wird ihre Zahl unterdessen geschätzt. Zwei Drittel davon suchen Schutz an einem anderen Ort in ihrem Heimatland. Vom Rest leben vier Fünftel in den Nachbarländern. 

Die Ausstellung im Landesmuseum zeigt auf Schautafeln, mit Installationen und mit Film und Fotografien verschiedene typische Fluchtstationen, ergänzt mit Informationen über die nationalen und internationalen Hilfsanstrengungen und zum Asylverfahren in der Schweiz.

Die Ausstellung «Flucht» wurde gemeinsam konzipiert von der Eidgenössischen Migrationskommission, dem Staatssekretariat für Migration, dem Flüchtlings-Hochkommissariat der Vereinten Nationen und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes. Sie dauert noch bis zum 5. März 2017.

Der Krieg in Syrien hat Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Hier ein Flüchtlingsboot vor der griechischen Insel Lesbos. Foto: UNHCR/Ivor Prickett