10.07.2019
FOTOS UND TEXT: Suleika Baumgartner
Jährlich werden im Fundbüro der Stadt Zürich 45 000 Kunden am Schalter bedient.

Jährlich werden im Fundbüro der Stadt Zürich 45 000 Kunden am Schalter bedient, beispielsweise von Brigitte Bolliger, die das 18 Jahre lang gemacht hat.

Fundgegenstand ist nicht gleich Fundgegenstand

Auf der Jagd nach dem verlorenen Rucksack

36 000 Gegenstände nimmt das Fundbüro der Stadt Zürich pro Jahr entgegen. Der Blick hinter die Kulissen verrät, wie Halstücher, Handtaschen und Hüte zurück zur Eigentümerin finden. Und wie viel Arbeit dahintersteckt.

«Mein Rucksack! Wo ist mein Rucksack?» Ich stehe an der Haltestelle Schmiede Wiedikon und blicke dem blauen Züri-Tram nach, das davonfährt. Mein Rucksack liegt in diesem Tram! Im hinteren Wagen, auf einem Zweiersitz gleich bei der Türe. Im Rucksack befinden sich meine Agenda, mein Ideenbuch, eine neue Sonnenbrille, ein Bikini, ein Badetuch und mein Lieblingsfoulard.

Schon wieder ist es mir widerfahren! Mir fallen umgehend Gegenstände ein, die ich im letzten Jahr verloren habe: eine Wollmütze, zweimal einen einzelnen Handschuh, mehrere Schals, eine Armbanduhr. Und keiner der Gegenstände ist wiederaufgetaucht. Obwohl ich doch jedes Mal eine Verlustanzeige aufgegeben hatte. 

Doch jetzt ist genug: Diesmal will ich meinen Rucksack zurückhaben. Ich rufe das städtische Fundbüro an, denn ich habe einige brennende Fragen. Wie kann ich die Chance erhöhen, meinen Rucksack zurückzubekommen? Und weshalb sind meine anderen verlorenen Dinge nicht wiederaufgetaucht? Schliesslich werde ich mit der Leiterin Daniela Baldauf verbunden. Wer, wenn nicht sie, wird meine Fragen beantworten können? Nach einem aufschlussreichen Telefongespräch erlaubt sie mir, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.

Übernachtung im Tramdepot
Ich treffe Daniela Baldauf um 9 Uhr an einem Dienstag. Seit 27 Jahren ist sie Leiterin des Fundbüros. Von ihr möchte ich als Erstes wissen: Was ist wohl mit meinem Rucksack passiert?

Daniela Baldauf, die Leiterin des städtischen Fundbüros
Jeder Fundgegenstand wird mit einer Etikette versehen und registriert. Daniela Baldauf, die Leiterin des städtischen Fundbüros, zeigt, wie das funktioniert.

«Ein Fahrgast wird den Rucksack bemerken, der ganz alleine auf diesem Sitz liegt, und ihn dem Fahrpersonal aushändigen. Der Tramchauffeur oder die Tramchauffeuse füllt eine Fundetikette mit den Angaben zu Datum, Uhrzeit und Tramlinie aus. Je nachdem, ob die Ablösung schon bald erfolgt oder nicht, fährt der Rucksack noch eine Weile mit, unter Umständen den ganzen Tag, hin und her, quer durch die Stadt. Spätestens am Abend landet er im Tramdepot in einer sogenannten Fundbox und übernachtet dort. Am nächsten Morgen wird die Fundbox ins Fundbüro transportiert.»

Während wir reden, höre ich Gepolter – die Fundboxen werden angeliefert. Sofort machen sich eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter daran, die Stahlbehälter zu leeren. Handtaschen, Handys, ein einzelner Kinderschuh, Schirme, Mützen, Hausschlüssel, Brillenetuis, ein Velohelm – die Gegenstände kommen in ein Regal oder werden auf Tischen ausgelegt.

Street Parade als Höhepunkt des Jahres
Das Fundbüro verarbeitet an einem umsatzschwachen Wochentag 50 Gegenstände, am umsatzstärksten Tag, dem Montag, bis 200. Nach dem Züri-Fäscht vom 5. bis 7. Juli 2019 wurden über 450 Gegenstände abgegeben. Absoluter Höhepunkt des Jahres ist laut Baldauf jeweils der Montag nach der Street Parade mit 500 bis 800 zusätzlichen Fundgegenständen. Das macht sich jeweils auch am Schalter bemerkbar: «Der Ansturm ist sehr gross, und wir sind pausenlos damit beschäftigt, persönliche Anfragen von Kundinnen und Kunden zu beantworten.»

An diesem Dienstag hat das Folgen: «Wir sind zwei Tage im Rückstand», sagt die Chefin und zeigt auf das Regal: «Das hier sind alles noch Artikel vom Wochenende, die wir noch nicht verarbeiten konnten.»

Daniela Baldauf, erzählt von einer alten Frau, die sich einen Gehstock ergaunert hat.

Fundgegenstände Elektronik
Elektronische Geräte gehören zu den durchschnittlich 50 bis 200 Fundgegenständen, die pro Tag im Fundbüro eintreffen.

Etikette, Schublade, Regale
Wäre mein Rucksack an diesem Vormittag angeliefert worden, sähen die nächsten Arbeitsschritte wie folgt aus: Fundbüro-Mitarbeiterin Brigitte Bolliger nimmt eine Tasche aus dem Regal und untersucht den Inhalt. Nicht, dass sie jemand wäre, der gerne in den Habseligkeiten anderer schnüffelt — doch es könnte sein, dass ein Ausweis, ein Brief mit Adresse, ein Bibliotheksbuch oder etwas anderes einen Hinweis auf den Eigentümer oder die Eigentümerin liefern. Ist das der Fall, würde diese Person von der Mitarbeiterin kontaktiert und könnte den Gegenstand schon bald abholen. Brigitte Bolliger macht an diesem Tag das, was sie 18 Jahre lang gemacht hat – am Tag darauf wird sie pensioniert. Gegenwärtig arbeiten insgesamt sieben Personen im Fundbüro.

Während manche der Glücklichen, welche ihre verlorenen Gegenstände zurückbekommen, kein grosses Aufheben machen, zeigen sich andere mit einem selbst gebackenen Kuchen erkenntlich, fallen auf die Knie und beten oder brechen in Tränen aus. Alles schon passiert, wie Baldauf erzählt: «Ich erinnere mich an einen Trompetenspieler, der, als er sein Musikinstrument abholen durfte, umgehend ein Ständchen spielte.»

Als Nächstes erfasst Brigitte Bolliger den Fundgegenstand im Computer. Das Prinzip lautet: von aussen nach innen, also Hauptkategorie (Tasche) vor Unterkategorie (Rucksack, Markttasche, Sportsack, Plastiksack oder Handtasche). Erst dann kommt der Inhalt: Portemonnaie, iPad, Schreibetui, Smartphone. Sobald die Daten im System sind, zeigt sich, ob ein Treffer dabei ist. 

In jedem Fall wird der Fundgegenstand nach Kategorie und nach Datum abgelegt. Konkret: Alle Taschen befinden sich an einem Ort, geordnet wird nach Fundmonat.

Im Fundbüro treffen die wunderlichsten Gegenstände ein: nasse Kleider, Esswaren, lebendige Tiere – etwa Mehlwürmer –, Zahnspangen, Hörgeräte, dritte Zähne. Und es ist auch nicht immer appetitlich, was in Taschen und Säcken aufbewahrt wird.

Schals sind Massenware
Nun möchte ich wissen, weshalb meine Suchanfragen keine Treffer ergaben. Die Antwort ist plausibel. «Schals sind Massenware und werden nicht im System erfasst», erklärt Baldauf, «so wie Handschuhe, Mützen oder Brillen.» (Siehe dazu Ratgeberbox am Ende des Textes.) Neben der schieren Menge gebe es einen zweiten Grund dafür: «Schauen Sie selbst!» Baldauf öffnet die Schublade mit den schwarzen Brillen eines einzigen Monats: «Auf den ersten Blick sehen die alle gleich aus.» 

Brillen gelten als Massenware
Auf den ersten Blick sehen diese Brillen ähnlich aus. Das ist einer der Gründe, weshalb sie nicht elektronisch erfasst werden. Sie werden als Massenwaren klassifiziert.

In diesem Augenblick verstehe ich: Fast alle meine Verlustanzeigen waren für die Katz. Ich hätte mich stattdessen tags darauf am Schalter melden sollen. Aber Achtung: Das gilt nur für das VBZ-Netz. Die SBB handhaben es anders. Im Zug gefundene Gegenstände gehen nach Bern und werden dort erfasst, und zwar alle.

Unterschiedliche Aufbewahrungsfristen
Einige Minuten später erläutert mir Baldauf, weshalb meine verlorenen Gegenstände nicht mehr in den Schubladen liegen: «Alles, was im Tram oder Bus gefunden wird, gelangt nach drei Monaten in den ‹Fundsachenverkauf›.» Seit einigen Jahren arbeitet das städtische Fundbüro mit der gleichnamigen Firma zusammen, die ein Geschäft in Zürich-Wollishofen betreibt. Die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich (VBZ) erhalten eine kleine Provision. Ich komme zum Schluss: Ich habe wahrlich alles falsch gemacht!

Hätte ich meinen Rucksack hingegen auf öffentlichem Grund liegenlassen, so hätte ich zwölf Monate Zeit, um ihn im Fundbüro abzuholen. Nach einem Jahr finden jeweils zwei öffentliche Versteigerungen statt.

Versuchter Betrug. Daniela Baldauf, die Chefin des Fundbüros, erzählt.

Spielsachen als Fundgegenstände im Fundbüro
Diese Plüschtiere werden offenbar von keinem Kind vermisst. Spielsachen werden oft nicht abgeholt.

Erstaunlich viele elektronische Geräte bleiben im Fundbüro liegen, sagt Baldauf. «Auch Kinderspielzeug wird oft nicht abgeholt.» Über die Gründe könne sie nur spekulieren: «Vielleicht aus einer gewissen Gleichgültigkeit heraus.»

Zurück zur Kernfrage: Wo ist mein Rucksack? Ich habe ihn tatsächlich wiederbekommen. Eine Frau hat ihn abgegeben, Inhalt inklusive.

Ist der Finderlohn ein Mythos?
Womit ich zur letzten Frage an die Fundbüro-Chefin komme: Muss ich der Finderin einen Finderlohn bezahlen? Ich muss. Gemäss den gesetzlichen Bestimmungen (ZGB Art.722 Abs.2) sollte der Finderlohn «angemessen» sein. Was immer das heissen mag. So etwas wie eine 10-Prozent-Regel ist jedenfalls nicht vorgesehen. Wer seinen verlorenen Gegenstand zurück bekommt, entscheidet demnach selber über die Höhe des Finderlohns. Was mich angeht: Der wieder gefundene Rucksack ist mir definitiv mehr als zehn Prozent wert.

So finden Sie Ihren verlorenen Artikel

a) Verlustort und zuständige Stelle:

b) Vorgehen:

  • Massenware > persönlich vorbeigehen am nächsten Tag ab 11 Uhr; gilt für Schirme, Mützen, Kleider, Handschuhe, Halstücher, Bücher, Spielzeug, Brillen.
  • Alle anderen Artikel > elektronisches Formular ausfüllen

Wo Sie einen gefundenen Gegenstand abgeben können:
Im Fundbüro oder bei der Stadtpolizei Zürich (auf jedem Polizeiposten)

Fundbüro Stadt Zürich/VBZ-Fundbüro
Werdmühlestrasse 10
Telefon 044 412 25 50
Mo–Fr, 8 bis 18.30 Uhr
Sa/So geschlossen

https://www.stadt-zuerich.ch/vbz/de/index/dialog/fundbuero-stadt-zuerich.html

Fundbüro mit Geschichte
Bis 1984 führten die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich (VBZ) ein Fundbüro, aber auch die Stadtpolizei (für Verluste auf öffentlichem Grund). Im Rahmen einer gross angelegten Effizienzuntersuchung wurden die beiden Fundbüros 1984 zusammengelegt. Seither ist das städtische Fundbüro administrativ den VBZ unterstellt. 

Das Fundbüro hat sich in den vergangenen 27 Jahren mehr als einmal neu erfunden: von der Karteikarte, die von Hand ausgefüllt wurde, über das erste EDV-Programm (1995) zum easyfind-System (2011). 2018 wurden im städtischen Fundbüro 36 000 Gegenstände verarbeitet, die Tendenz ist steigend. Gründe für die Zunahme: Das Streckennetz ist länger geworden, die Stadt Zürich ist gewachsen, und im öffentlichen Raum finden mehr Veranstaltungen statt. Abgeholt wurden 2018 etwas mehr als die Hälfte aller abgegebenen Artikel, bei den elektronisch registrierten Artikeln sind es über mehrere Jahre hinweg 60 bis 64 Prozent. Am Schalter werden jährlich 45 000 Kunden bedient, am Telefon 12 000 – unabhängig davon, ob diese Personen etwas gefunden oder verloren haben.