10.01.2017
FOTOS UND TEXT: Albert Jörimann
Blaise Menu, Vorsteher der Compagnie des Pasteurs et Diacres

Pfarrer Blaise Menu, 46, Vorsteher der «Compagnie des Pasteurs et Diacres».

Reformationsjahr 2017

Ein Pfarrer in Genf

Rückläufige Mitgliederzahlen, spärlich besuchte Gottesdienste und eine Finanzierung auf rein freiwilliger Basis – im ehemaligen «protestantischen Rom» muss sich die Kirche nach der Decke strecken.

Den pfarrherrlichen Alltag kennt Blaise Menu aus dem Effeff. Schon sein Vater war «Pasteur», die Kindheit möbliert mit den Insignien des Berufs. Das geht zwar manchmal in die Hosen in dem Sinne, dass der junge Mensch die Pubertät gerne dazu benutzt, sich radikal gegen die Eltern zu stellen mit allem, was sie ausmacht, im Fall von Blaise Menu also auch gegen die Religion. Aber offensichtlich ist der protestantische Glaube kräftig genug, um die kritische Auseinandersetzung zu bestehen. Mehr noch: Es waren gerade die offenen Fragen und das Fehlen abschliessender, doktrinärer Antworten, welche Blaise Menu zum Studium der theologischen Grundlagen bewegten. Und auch in der Abteilung «Vorsicht bei der Partnerwahl» folgte er dem theologischen Stern und heiratete eine Berufskollegin.

Blaise_Menu_Pfarrer_in_Genf

Das Gespräch mit Blaise Menu haben wir im Temple de la Fusterie geführt. Video: Albert Jörimann

Das Alltagsgeschäft

Die praktische Anwendung der Arbeit an und mit Gott erfolgt im Rahmen der Seelsorge. Blaise Menu hat seine Erfahrungen unter anderem in der Genfer Kirchgemeinde Troinex-Veyrier gesammelt. Seine Hauptwirkungsstätte liegt aber im Espace Fusterie, jener Begegnungsstätte mitten im Genfer Geschäftsviertel, wo seit dem Jahr 2008 neben den Gottesdiensten auch Mittagskonzerte, Lesungen, Vorführungen und Ausstellungen für einen Austausch zwischen der Kirche und der breiten Öffentlichkeit sorgen. Für die Kleinen gibt es das Puppentheater «Théopopettes», wo Theo und Popette Grundsätze von Ethik und Moral im Alltag durchdeklinieren. 

Die Verantwortung für diese spezielle Kirche ist Blaise Menu wie auf den Leib geschneidert mit seinen zahlreichen Interessen, vom Comic über den Gesang bis zum Kino, mit seiner offenen Art und mit seinem Humor, den er gerne auch auf religiöse Fragen ausweitet. Wobei: Lacht Gott? – Wir wissen um die widersprüchlichen Gründe, welche die Menschen zum Lachen bringen, und können uns nicht vorstellen, dass auch nur die Hälfte davon einen transzendenten Charakter hat. Immerhin war Jesus ein Freund des gepflegten Witzes, wie Blaise Menu unter Verweis auf einige Bibelpassagen festhält.

Predigen ist die bekannteste und sichtbarste theologische Aktivität. Zahlreiche weitere Tätigkeiten gehören zum Aufgabenbereich. Die Geistlichen kümmern sich persönlich um die Gemeindeglieder. Im Vordergrund stehen Besuche bei und Gespräche mit Menschen, welche aufgrund ihrer persönlichen Situation mit existenziellen Fragen konfrontiert sind, namentlich alte und ältere Leute, Kranke, traumatisierte Personen. Die Kirchen engagieren sich auch stark in sozialen Problemzonen, unterstützen Randständige, kümmern sich um Gefängnisinsassen und ihre Angehörigen und bieten ihre Dienste in den Spitälern an. Einen weiteren wichtigen Bereich bildet unterdessen die Flüchtlingsbetreuung. Ein Teil des Pastorenpersonals hat sich auf solche Fachgebiete spezialisiert; so auch Anne-Christine, die Frau von Blaise Menu. Sie war lange zuständig für Menschen mit Hörbehinderung und leitet heute ein Pionier-Pfarramt, wo das persönliche Glaubensbekenntnis und der kreative Ausdruck ins Zentrum rücken. 

Dass die Seelsorge oft unter dem Aspekt der Verzweiflung steht anstelle jenes Zweifels, der laut Blaise Menu zum theologischen Geschäft gehört, macht die Sache besonders anspruchsvoll. Da mögen die ritualisierten kirchlichen Anlässe manchmal wie eine Verschnaufpause erscheinen, sogar wenn es sich um Momente der Trauer handelt wie bei den Beerdigungen. Hochzeiten dagegen sind generell freudige Ereignisse, wo das Pfarrpersonal mit ein paar besinnlichen oder gar mahnenden Worten noch das eine und das andere Salz- und Pfefferkorn mitgibt als Würze für die folgenden Abschnitte des gemeinsamen Lebens.

Die Kathedrale St-Pierre erhebt sich mitten in den Häusern der Genfer Altstadt. Ihre Ursprünge gehen zurück auf das 4. Jahrhundert unserer Zeit, die aktuelle Form erhielt sie zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert. Am 8. August 1535 hielt Guillaume Farel seine erste Reformationspredigt in der Kathedrale, und seit dem 21. Mai 1536 dient sie offiziell als reformierte Kirche.

Herausforderungen

Aber es ist nicht mehr wie früher! Diese Feststellung trifft zwar auf ziemlich alles zu, was nicht seit tausend Jahren tot ist, aber für die Genfer Kirche hat sie eine existenzielle Komponente. Die nach der Reformation im Jahr 1536 über Jahrhunderte unbestrittene weltlich-geistliche Autorität hat ihre dominante Stellung längst eingebüsst. Obligatorische Kirchensteuern gibt es sowieso seit über 100 Jahren nicht mehr; vor allem aber ist der Anteil der Protestanten an der Bevölkerung seit Jahren rückläufig und macht heute im ehemaligen «protestantischen Rom» nur mehr zehn Prozent aus. Neben der Zuwanderung von Menschen aus anderen Glaubensrichtungen stellt vor allem der materielle Wohlstand mit all den Möglichkeiten zur Zerstreuung, aber auch zur privaten Beschäftigung mit Sinn- und Glaubensfragen die Institution Kirche vor echte Probleme. 

Den Protestanten kommt zudem ihr Glaubensbekenntnis in die Quere. Sie predigen nicht nur den direkten Zugang der Individuen zu Gott, sondern berufen sich explizit aufs Wort und auf die (Heilige) Schrift als oberste Autorität und sind damit im Kern ziemlich rational. Blaise Menu spricht zwar von den Überraschungen, welche Gott immer wieder bereithält, er spricht auch vom modernen Verständnis, das den Herrn nicht mehr weit entfernt, hoch oben im Himmel ansiedelt, sondern nahe bei den Menschen. «Gott hat sich verändert», schrieb der Pfarrer noch provokant auf der Webseite seiner früheren Kirchgemeinde; heute würde er eher sagen, dass sich unsere Art, von und über Gott zu sprechen, verändert habe. Und sie habe sich auch verändern müssen, wenn man sich Ereignisse wie Auschwitz vor Augen halte mit der Frage, wo Gott denn da geblieben sei.

Aber mit solchen Überlegungen lässt sich nicht das grosse Geschäft machen im Vergleich mit anderen Angeboten auf dem Markt der Religionen, welche die Gläubigen nicht nur im Bereich zwischen Adamsapfel und Fontanelle abholen, sondern beim Gefühl, beim emotionalen Erlebnis. Spiritualität als Spektakel entspricht offenbar nach wie vor einem Bedürfnis zahlreicher Menschen, die einen direkten Draht zum Jenseits und zur Transzendenz suchen, aber auch angesichts des offenkundigen Mangels an Sinn, der sich in der Konsumgesellschaft hinter der Masse der Güter bemerkbar macht. Der «rationale» oder zum Teil sogar agnostische Zugang zur Spiritualität über den Bibeltext, wie er sich in der protestantischen Tradition herausgebildet hat, lässt sich auf keinen Fall zelebrieren wie ein Rockkonzert oder eben eine adventistische oder pfingstliche Massenveranstaltung mit Wunderheilungen, Ohnmachtsanfällen und so weiter.

Das Reformationsjahr in Genf

Als Vorsteher der «Compagnie des Pasteurs et Diacres» (Vereinigung der Pfarrer und Diakone) ist Blaise Menu mitverantwortlich für die Entwicklung des theologischen Diskurses in der protestantischen Kirche; in dieser Funktion hat er auch seine Rolle im Rahmen der Aktivitäten zum 500-Jahr-Jubiläum der protestantischen Reformation, das im Jahr 2017 gefeiert wird. Der Auftakt faDas Reformationsdenkmal in Genf.nd am 3. November 2016 in Genf statt, unter anderem mit einer Ansprache von Bundesrat Alain Berset und in Gegenwart der obersten Repräsentanten der schweizerischen, deutschen und europäischen Kirchen. Zahllose Anlässe finden im Jubiläumsjahr im ganzen Land statt; Genf steuert den Schlusspunkt bei mit dem grossen Jugendfestival «ReformAction», das vom 3. bis 5. November 2017 stattfindet. 

Nachwuchsfragen spielen auch in der Welt der Reformierten eine zentrale Rolle. Neue Formen werden getestet, auch ausserhalb des Jubiläumsjahres. So zeigt die Genfer protestantische Kirche auf ihrer Webseite eine Reihe von Videoclips unter dem Titel «Ma femme est pasteure» (Meine Frau ist Pfarrerin), welche ironisch-witzige Episoden schildern aus dem Eheleben einer protestantischen Pfarrfrau und ihres atheistischen Ehemanns. Wie weit sich Religion und Ironie vertragen und ob auf diesem Weg tatsächlich ein Zugang zum Glauben geschaffen werden kann, muss offenbleiben, ganz abgesehen von der oben erwähnten Grundsatzfrage, ob Gott lacht. Wie auch immer: Lustig, geistreich, witzig sind die Beiträge allemal. Und das gefällt natürlich auch Pfarrer Menu.

 

500 Jahre Reformation

Die evangelischen Kirchen feiern 2017 das 500-Jahr-Jubiläum der Reformation. Am 31. Oktober 1517 nagelte Doktor Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Türe der Schlosskirche zu Wittenberg, vertiefte die Papstkritik mit zahlreichen Predigt-Publikationen und übersetzte kurze Zeit später die Bibel. Die Bewegung breitete sich aus und festigte sich, unter anderem in Zürich unter Ulrich Zwingli und seinem Nachfolger Heinrich Bullinger und vor allem in Genf unter Jean Calvin. Calvin hatte eine enorme Ausstrahlung nach Frankreich, in die Niederlande und über seinen Anhänger John Knox nach Schottland. 

Die lutherische Kirche etablierte sich neben Deutschland vor allem in den skandinavischen Ländern und zum Teil in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika. Stark von der Reformation beeinflusst sind auch die anglikanische Kirche in England sowie die grosse baptistische Kirche, welche in den englischen Kolonien in Nordamerika Fuss fasste. Der bekannte Soziologe Max Weber brachte Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem den Calvinismus in Verbindung mit der kapitalistischen Akkumulations- und Arbeitsmoral; die Reformation erscheint so als wichtige Vorbereiterin für die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen und Errungenschaften der letzten Jahrhunderte.

Die Geschichte der Reformation und später der katholischen Gegenreformation liest sich wie ein Krimi. Sie wurde schnell mitgeprägt durch die verschiedenen Interessen der weltlichen Macht, die sich mit der Religion überlagerten. Nach zahlreichen grösseren und kleineren Auseinandersetzungen brachte die Aufklärung vom 18. Jahrhundert an auch die Religionsfreiheit, welche heute nicht mehr wegzudenken ist in den modernen Gesellschaften.