09.06.2016
FOTO UND TEXT: Julia Antoniou
Hans-Georg Hildebrandt

Hans Georg Hildebrandt, der Hersteller von trendigen Getränken der Marke Gents, nippt zur richtigen Zeit am richtigen Drink. Mit seinem Vermouth de Gents, hier serviert auf Eis, trifft er den Zeitgeist.

Alpin trifft auf Mediterran

Auf das Comeback des Wermuts stösst Hans Georg Hildebrandt gerne an. Genau rechtzeitig präsentiert er seinen Vermouth de Gents – einen Apéritifwein mit Schweizer Schafgarbe, französischem Süsswein und gewollt bitterem Nachgeschmack.

Vintage ist nicht nur bei Möbeln und Kleidern Mode. Auch Getränke tauchen aus der Versenkung hervor und aktualisieren klebrig-süsse Erinnerungen an vergangene Tage. Genau solches passiert gerade mit dem Wermut. Kaum eine Zeitung von Rang und Namen, die nicht das Revival des Aperitifweins zelebriert.

Den Wermutboom sah Hans Georg Hildebrandt vor drei Jahren heranrollen. Und zwar in Barcelona, das gar eine «hora del vermut» – eine Stunde des Wermuts – kennt, eingeläutet vom letzten Glockenton der Sonntagsmesse.

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Video: Julia Antoniou

In Hildebrandts Lieblingsstadt bieten mittlerweile viele kleine Produzenten eigene Wermutmischungen in sogenannten Vermuterias an. Und die Barceloneses greifen liebend gerne in frühen Abendstunden zu einem Gläschen des Kräuterweins, um ihre Lebensgeister zu wecken. Eine schöne Sitte, die sich auch in Italien und Frankreich, den Ursprungsländern der bittersüssen Aperitifweine, bis heute gehalten hat.

Denn den Bitterstoffen des namensstiftenden Wermutkrauts schreiben Kräuterkundler von alters her eine heilende Wirkung zu. Artemisia abinthum soll die Säfte in Bewegung bringen, die Verdauung anregen, die Leber reinigen und die Schwermut bekämpfen. 

Rezept aus der Kräuterapotheke
Was in Barcelona an jeder Strassenecke getrunken wird, könnte auch den Schweizern schmecken, dachte sich Hildebrandt. Er begann sich einzulesen, mit Freunden zu diskutieren, und stiess über den ehemaligen Chef der Zürcher Bergapotheke auf ein Rezept aus dem 19. Jahrhundert.

Hans Georg Hildebrandt
Heute ist der Lifestyle-Journalist und ehemalige Chefredaktor von «Das ideale Heim» als Erfinder von Getränken tätig – und hat sich innerhalb von vier Jahren erfolgreich auf dem Markt etabliert. Unter dem Label Gents lancierte Hildebrandt 2012 sein Swiss Roots Tonic Water mit der Hauptzutat gelber Enzian. Inzwischen umfasst seine Getränkefamilie auch ein Bitter Lemon und ein Ginger Ale. Und seit Januar 2016 ergänzt der Vermouth de Gents die Getränkepalette.

Das Grundrezept eines Wermuts ist einfach: Der Hersteller setzt Kräuter in Trinksprit an, lässt sie mazerieren (also ziehen), filtert ab und vermischt den Auszug mit einem Grundwein. Um ihn trinkbar zu machen, süsst er nach. Zu den häufig verwendeten Ingredienzen gehören Gewürznelken, Zimt, Zitronen- und Orangenschalen, Majoran und Ingwer – wobei die genaue Mischung natürlich streng geheim ist.

Süsswein zum Aufsexen
Der erste Versuch habe «wie eine fiese kleine Pfütze» geschmeckt, scherzt Hildebrandt. Doch Zucker dazuzukippen, sei ihm zu billig gewesen. So fügte Hildebrandt den Süsswein, den ein Freund im spanisch-französischen Grenzland Languedoc keltert, zum Grundwein – und fand die Mischung «sexy».

Vermouth de Gents

Der Vermouth de Gents war geboren. Als erste Geschmackgeberin kommt die Schweizer Moschus-Schafgarbe zur Geltung, im Weiteren sorgen Galanga und Ingwer aus den Tropen und Bittermandelöl aus Spanien für Würze. 

Als Grundwein nimmt Hildebrandt einen Pinot noir von der Zürcher Goldküste. Auf dem Weg zur richtigen Rezeptur liess er sich von Fachleuten beraten und tüftelte so lange, bis das Resultat ihn überzeugte. 

Ein ziemlich bitteres Getränk
«Ich wollte etwas machen, das von mir erzählt», so Hildebrandt. Mit dem grasig-bitteren Aroma der Schafgarbe und der französischen Trinksüsse verbindet sein Vermouth de Gents sozusagen das Alpine mit dem Mediterranen. 

Hildebrandt charakterisiert seinen Wermut als «ziemlich bitteres Getränk». Um einiges bitterer als Wermutweine aus Barcelona oder die kommerziell hergestellten Marken wie Martini, die mit Zucker gesüsst und Kräuterpulvern gewürzt sind. Dafür sei er «stark im Ausdruck» und damit genau das, was seine Liebhaber suchten.

Hans Georg Hildebrandt schmeckt sein roter Vermouth am besten auf Eis, mit einem Stück Orangenschale. Er eigne sich aber auch sehr gut für Drinks: etwa für den momentan hoch angesagten Negroni, zusammen mit Gin und Campari, alles zu gleichen Teilen.

Produzieren lässt Hildebrandt von einem Weintechnologen bei Zweifel Weine in Höngg. Die Flasche ziert ein Luftschiff, das im UV-Licht leuchtet, designt von Hildebrandts Partnerin und Grafikerin Nina Thoenen. Eine kleine Spielerei, die ihm Freude bereitet. Zu haben ist der 18,5-prozentige Schweizer Wermut für 35 Franken.

Wiederbelebung der Aperitifkultur
Dass Wermut den Hype um den ebenfalls wiederentdeckten Gin ablöse, publizierte der bekannte Food-Journalist und Sensoriker Patrick Zbinden schon vor der allgemeinen Gewahrwerdung des Booms. Vermuterias, die sich von Barcelona bis nach London ausbreiten, geben ihm recht. Persönlich ist Zbinden den Wermutaperitifs in deren Heimatstadt Turin wieder auf die Spur gekommen. Er ordnet deren Wiederentdeckung in einen grösseren Zusammenhang ein.

«Es geht um die Wiederbelebung der Aperitifkultur; darum, den Magen genüsslich aufs Essen einzustimmen.» Ein Megatrend, der hierzulande Traditionsmarken wie dem Wermutaperitif Martinazzi Bitter von Matter-Luginbühl oder dem Weisflog Bitter von Fassbind eine zeitgeistige Würdigung beschert – nicht zuletzt auch wegen der bezaubernden Retro-Etiketten. Dass das Thema generell in der Luft liege, zeige beispielsweise auch die Ausstellung «La grafica per l’aperitivo», die im Herbst 2015 in Chiasso zu sehen war. Zbinden rät jedoch allen, ihre Entdeckungsreise in die Welt des Wermuts mit einem Carpano antica formula zu starten, der Mutter aller Aperitifgetränke.

Eine kleine Wermutgeschichte
Seit der Antike bereiteten die Menschen Kräuterweine zu Heilzwecken. Eine Tradition, die sich lange hielt, wie das bittere Apothekerrezept aus dem 19. Jahrhundert zeigt, von dem Hans Georg Hildebrandt für seine Eigenmarke ausging. Den ersten Wermutwein der angenehmen Sorte kreierte der Turiner Antonio Benedetto Carpano im Jahr 1786 auf der Basis von süssem Moscato. Seine Absicht war, eine süffige Rotweinalternative für Damen auf den Markt zu bringen. Mit grösstem Erfolg. Sein mit Karamell gesüsster Carpano Vermouth war so begehrt, dass die Bar, die ihn anbot, 24 Stunden geöffnet hatte.

In Italien entstanden in der Folge um Turin herum zahlreiche Varianten – zuerst weisse, später auch rote: Cinzano, Rossi, Gancia, Bosca, Cora oder Contratto. Marken, die den Wermutaperitif international etablierten. In Frankreich setzten sich eher trockene Wermuts durch: Noilly Prat oder Dolin. Sie finden auch in der Küche Anwendung und verleihen pikanten Speisen das gewisse Etwas.

Bis in die 1960er-Jahre waren Martini und Co. als Inbegriff einer südländisch angehauchten Apérokultur beliebt. Seither sind die Wermutgetränke in die hinteren Ränge der Bargestelle gerückt. Nun sorgen kleine Produzenten, die Liebhaber ansprechen, für eine neue Wertschätzung. Seit 2012 entstanden weltweit über hundert neue Marken.

Den heutigen Herstellern geht es eindeutig um mehr, als schlechte Weine trinkbar zu machen – wie böse Zungen früher behaupteten. Als Handwerker experimentieren sie in alle Geschmacksrichtungen. Mit der Zugabe von ausgewählten Kräutern, Gewürzen und Weinen setzen ihre Produkte einen Kontrapunkt zu industriell hergestellten Wermutgetränken.