«der arbeitsmarkt» 05/2015TEXT: Annekatrin KapsFOTO: Simone Gloor
Kreative Hilfe

«Zuhause bekomme ich noch eine Depression dazu»

Die Arbeitsplätze im Basler Werkatelier sind heiss begehrt. Mit viel Herzblut produzieren hier psychisch Erkrankte Kleider, Schmuck und Dekoratives. Wie sie mit Nadel und Faden zu mehr Selbstwertgefühl und Tagesstruktur finden, zeigt ein Besuch vor Ort.

 

Hinter den Fenstern des altehrwürdigen Basler Stadthauses glitzern Perlenketten, leuchten Windlichter. Betritt man durch das prächtige Holztor das Gebäude, lädt ein Laden linker Hand zum Eintreten ein. Der schmale Raum ist mit einer Theke und Regalen ausgestattet, in Letzteren liegen Geschenkkarten und Accessoires. Links befindet sich das Zimmer mit den Fenstern zur Strasse; spätestens hier ist selbst der graueste Tag vergessen. Aus Knöpfen, Perlen oder Filz gefertigte Ketten – jede ein Unikat – sind auf einer Kommode arrangiert. In den Schubladen verbergen sich weitere Schmuckstücke. Kleine Stofftaschen und Geschenkkarten stehen auf Konsolen, neben einem Spiegel hängen Schals.

Bis auf die Möbelstücke sind alle Produkte im Werkatelier entstanden. In den drei benachbarten Räumen werden diese von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung hergestellt. Der Verein Werkatelier Basel, der neben dem Stadthaus eine weitere Werkstatt im Hegenheimerquartier unterhält, bietet 58 IV-Berechtigten begleitete Arbeit an. Heute arbeiten fünfzig Frauen und acht Männer in der 1984 gegründeten Werkstatt.

«Hier, schau mal, das habe ich gemacht», sagt Bianca Vollmer (Name geändert) stolz und zeigt ein mit grünem Papier und orangen Perlen verziertes Windlicht. Die 32-Jährige arbeitet hier seit zwei Jahren zwanzig Stunden pro Woche. «Mit Farben zu arbeiten, macht mir Freude», sagt die Frau mit der leisen Stimme. Sie schätze die Zusammenarbeit und habe so viele Leute kennengelernt. Mit einer der Teilnehmenden gehe sie auch öfters einen Kaffee trinken oder treffe sie sich manchmal am Samstag. Bianca Vollmer wohnt bei ihrer Mutter und kommt vier Tage in der Woche aus Lausen (BL) hierher.

Woran sie erkrankt ist, möchte sie nicht sagen. Sie überlegt lange, bevor sie doch erklärt, dass sie wegen ihrer Krankheit keine Ausbildung machen konnte. Nach der Schule hat Bianca Vollmer in einer Papeterie und auch im Globus als Dekorateurin geschnuppert, doch sie brauche «eine Arbeit, die ich langsam lernen kann». Im Werkatelier habe sie diesen Platz gefunden. «Hier fühle ich mich aufgehoben», sagt die scheu wirkende Frau.

Am liebsten arbeitet sie mit Papier. Nähen konnte sie schon vor dem Eintritt in die Werkstatt. «Ich habe viel dazugelernt und bin sehr fleissig.» Sie denke noch nicht darüber nach, woanders Arbeit zu suchen, meint sie abschliessend. 

Gemeinsam statt isoliert

«Für uns stehen die Menschen im Vordergrund, nicht ihre Erkrankungen», sagt Geschäftsleiterin Nicole Lima. Deren Krankheiten wie beispielsweise Schizophrenie, die Persönlichkeitsstörung Borderline oder schwere Depressionen sind dennoch kein Tabu im Werkatelier. Die Leute arbeiteten ohne Aggressionen und sprächen dabei über Gott und die Welt, illustriert sie die Stimmung in der Werkstatt. Die Pflegefachfrau für Psychiatrie weiss, was Stigmatisierung für ihre Klienten bedeutet. «Ich gehe arbeiten», sagen zu können, sei sehr wertvoll für die IV-Berechtigten. Die Tagesstruktur ist für alle Teilnehmenden wichtig. Die Vereinsamung zu durchbrechen und wieder soziale Kontakte zu knüpfen, sei sicher auch ein Grund, um im Werkatelier zu arbeiten.

An einem ovalen Tisch sitzen mehrere Frauen, eine häkelt bedachtsam eine Mütze in verschiedenen Blautönen. Ihre Nachbarin arbeitet mit Pailletten und Papier, eine andere blättert zur Inspiration in einem Bastelmagazin. Eine Frau versorgt Wollreste in eine der beschrifteten Schachteln, gleichzeitig unterhält sie sich mit den Arbeitenden. Letztere ist eine von neun Teilzeit angestellten Mitarbeiterinnen, welche die IV-Berechtigten anleiten. Sozial- und Heilpädagoginnen, Textil- und Werklehrerinnen begleiten die psychisch Erkrankten, eine Kunsttherapeutin und eine Arbeitsagogin vervollständigen das Team. Nicole Lima bietet beispielsweise plastisches Gestalten an. Figuren aus Ton oder Pinnwände entstehen unter ihrer Anleitung.

Die Teilnehmenden müssen wegen der Unfallversicherung neun Stunden pro Woche arbeiten und können nach Absprache mehr leisten. Die meisten entscheiden sich für das Neun-Stunden-Pensum. Gearbeitet wird vormittags von neun bis zwölf, nachmittags von halb zwei bis fünf. Sie entscheiden selbst, ob sie beispielsweise die nächste Geschenkkarte gestalten oder etwas anderes produzieren wollen.

Die Gesamtproduktion steuern die Mitarbeiterinnen. Sie wissen, was die Kundschaft wünscht; besonders die Kleider mit den originellen Schnittmustern sind sehr gefragt. «Wir schauen auf die Qualität und bieten die Zeit dafür», unterstreicht die Geschäftsführerin. Ohne Leistungsdruck sollen die psychisch Erkrankten in einer anregenden Atmosphäre Selbstwertgefühl entwickeln und einen organisierten Arbeitsalltag erleben. Das Team um Nicole Lima unterstützen dabei acht freiwillige Helferinnen, die abwechslungsweise nachmittags im Laden bedienen. 

Kleine Erfolge bringen viel

Damit die Zusammenarbeit klappt, müssen sich alle an die Spielregeln halten. Sich gegenseitig zu unterstützen, ist eine davon, ein respektvoller Ton untereinander eine andere. Zur Begrüssung und zum Abschied gebe sich jedermann die Hand, erzählt Nicole Lima, die seit zweieinhalb Jahren das Werkatelier leitet. Vorher war sie als Heimleiterin in einem psychiatrischen Wohnheim tätig. Dort hatte das Team oft Schwierigkeiten, die Heimbewohner für die Werkstatt zu motivieren.

Im Basler Werkatelier freuen sich viele der IV-Bezüger auf die Arbeit und sehen sich als Teil des Ganzen. Das ergab die letzte Zufriedenheitsbefragung, die vom Verein alle drei Jahre durchgeführt wird. Einige sind so stolz auf ihre Produkte, dass sie diese sogar fotografieren, so Nicole Lima. Zwischen ein und fünf Franken verdienen die Teilnehmenden zusätzlich zum Stundenlohn von fünfzig Rappen. Die Produkte sind mit ihren Initialen gekennzeichnet. Manche der Produzierenden schreiben sogar das Kürzel eines anderen auf ihr Erzeugnis, um denjenigen zu unterstützen.

Vor allem die Näharbeiten sind sehr beliebt, auch die meisten der acht Männer mögen «das Nähen schaurig gern», weiss die 54-Jährige. Einige hätten aus Neugierde begonnen und seien mittlerweile Experten für Kniffliges wie beispielsweise Reissverschlüsse.

Unter den Frauen und Männern sind nur wenige, die wegen ihrer psychischen Beeinträchtigung keinen Beruf erlernt haben. Die anderen sind Akademikerinnen, Floristinnen oder Verkäufer, auch die handwerkliche Branche ist breit vertreten. Manche nehmen einstündige Anfahrtswege auf sich, denn teilnahmeberechtigt sind IV-Bezüger aus den Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Baselland und Solothurn. Die Kantone subventionieren auch den grössten Teil der Ausgaben, die «Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige» und private Sponsoren unterstützen das Werkatelier ebenfalls (siehe Kasten).

Die Arbeit in den beiden Werkstätten ist begehrt. «Wir haben regelmässig Anfragen, manche fragen über ein halbes Jahr immer wieder nach, bis ein Platz frei ist», weiss Nicole Lima. Sozialdienst, psychiatrische Einrichtungen und die IV vermitteln die hier Arbeitenden. Nicht wenige stossen durch Eigeninitiative zur Werkstatt.

Regula Imboden (Name geändert) kam vor vier Jahren über die Tagesklinik der Psychiatrie Baselland ins Werkatelier. «Ich wollte wieder arbeiten», sagt die gelernte Hotelfachfrau. Sie näht vom Lavendelsäckchen bis hin zu Kleidern alles gern. Die Abwechslung der Angebote – sie kreiert Schmuckstücke, stellt Geschenkkarten her – gefällt ihr. Die Mutter dreier erwachsener Kinder hatte jahrelang als Hausfrau den Familienalltag gemanagt und zusätzlich als Putzfrau gearbeitet.

«Unter die Leute zu gehen und dieser Ort helfen mir sehr, vor allem wenn ich Stimmen im Kopf höre», erklärt die 52-Jährige, die so geerdet wirkt und immer für ein Spässchen zu haben ist. Vor sechs Jahren erhielt sie die Diagnose Schizophrenie. Zwei- bis dreimal im Jahr leidet sie unter längeren Psychosen, «doch bleibe ich zuhause, bekomme ich noch eine Depression dazu». Trotzdem gibt es Phasen, wo sie zwei Tage nicht arbeiten kann und sich abmeldet.

Verlässlichkeit ist unbestritten

Die Mehrheit der Beschäftigten gibt bei Rückfällen oder Krisen Bescheid, bestätigt Nicole Lima. Andernfalls warten die Mitarbeitenden bis zu drei Stunden, um dann nachzufragen. Die psychisch Beeinträchtigten seien zuverlässig, was sich auch daran zeige, dass alle schon vor ihrer regulären Arbeitszeit kämen. Einige sitzen in den Werkräumen zusammen, manche gehen gemeinsam ins benachbarte Café.

Im Krankheitsfall müssen die IV-Berechtigten, analog zur freien Wirtschaft, ein Arztzeugnis vorweisen. Falls jemand das versäumt und ausserdem das Telefon über einen längeren Zeitpunkt nicht abnimmt, werde der Arbeitsplatz aufgelöst, sagt die Geschäftsleiterin. Allerdings hat sie das im Werkatelier noch nie erlebt. «Druck bringt nichts, wenn sich jemand zurückzieht», erklärt sie. Bei Problemen nehme sie sich Zeit, «zehn Minuten für ein Gespräch sind immer drin».

Das Zuhören schätzt auch Regula Imboden, die neben den neun Stunden in der Werkstatt noch stundenweise als Putzfrau arbeitet. Ihre Arbeitgeber sind zwar über ihre Situation informiert, trotzdem hat sie Zweifel, in der «normalen Welt ausserhalb des Ateliers wieder Fuss zu fassen». Denn sie ist überzeugt: «Auch wenn ich einen Rückfall habe, müsste ich dort weiterarbeiten können.»

Wo Menschen zusammen arbeiten, kann es Differenzen geben. In der geschützten Werkstatt in der Stadthausgasse hat Nicole Lima selten Reibereien erlebt. Wenn doch, sei es um ausstehende Arbeiten gegangen, à la «Du könntest auch mal den Boden wischen». Bahnt sich eine Krise bei einem oder einer der Beschäftigten an, intervenieren die geschulten Mitarbeitenden, welche die Signale frühzeitig erkennen. Bei Schizophrenie äussert sich das in der Vernachlässigung des Äusseren oder zunehmender verbaler Aggression. Zweimal passierte das in den letzten beiden Jahren, sagt Nicole Lima. In einem Fall realisierte die Betroffene selber ihren Zustand und blieb daheim. Im anderen wurde die Person nach einem Gespräch heimgeschickt.

Während einige der psychisch Beeinträchtigten mit dem Werkatelier älter geworden sind und bald pensioniert werden, können die Jüngeren die Werkstatt als Sprungbrett nutzen, wenn sie eine Lehre ausserhalb anstreben. Denn die Spielregeln im Atelier wie Zuverlässigkeit und gegenseitiger Respekt seien dabei die gleichen wie in der freien Wirtschaft.

Ob nun ein Basteltipp, die positive Gruppendynamik oder die Wertschätzung den Einzelnen Auftrieb geben, lässt sich nicht genau bestimmen. Doch funktioniert das Prinzip Werkatelier im Alltag wie auch bei ungewöhnlicheren Aktionen. Beim Jubiläumsfest im letzten Jahr war der unbestrittene Höhepunkt die Modeschau. Dreissig Kundinnen und zehn der psychisch Erkrankten präsentierten die selbst kreierten Kleider. Bis auf die Strasse hinaus staute sich das Publikum, um die neue Kollektion zu bewundern. Eines der Mannequins war Bianca Vollmer.

 

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