«der arbeitsmarkt» 06/2012

Zweite Chance für Niedrigqualifizierte

Ohne Berufsausbildung gestaltet sich die Stellensuche heute besonders schwierig. Für Betroffene kann sich die Perspektive durch die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen wesentlich verbessern.

«Es erwartet Sie die Chance, selbständig zu arbeiten und Ihre fachlichen und persönlichen Fähigkeiten als Pflegefachperson zu entfalten. Wir erwarten von Ihnen einen Abschluss als Fachperson Gesundheit EFZ.» Formulierungen dieser Art hat Michelle W. schon oft gelesen. Die 37-jährige alleinerziehende Mutter sucht seit mehreren Monaten eine Stelle im Pflegebereich. Bevor die gebürtige Philippinerin ihre heute schulpflichtige Tochter zur Welt brachte, arbeitete sie als Pflegerin in einem Altersheim. Eine Tätigkeit als Pflegefachperson würde Michelle W. sehr zusagen. Ohne Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) stehen die Chancen auf eine qualifizierte Stelle in diesem Bereich allerdings schlecht. Als Pflegerin kommt sie auch ohne Diplom irgendwo unter. Mit diesem Papier sähen ihre beruflichen und finanziellen Perspektiven aber viel besser aus. Schliesslich möchte sie ihrer Tochter etwas bieten können.

Michelle W. und ihre Geschichte sind erfunden – doch sie widerspiegeln die Realität. Das fiktive Beispiel sei klassisch, bestätigt Ruedi Winkler, Präsident des Vereins Valida, der sich für die Integration Niedrigqualifizierter im Arbeitsmarkt engagiert: «Gerade im Pflegebereich arbeiten viele Frauen ohne staatlich anerkannte Diplomausbildung.» Mit Infobroschüren und Veranstaltungen leistet die gemeinnützige Vereinigung Lobbyarbeit für die hier wenig bekannten sogenannten Validierungsprozesse. Menschen ohne anerkannte Grundausbildung können in diesen Prozessen nachträglich ein EFZ erwerben, ohne eine Vollausbildung absolvieren zu müssen.

Informelles Wissen anerkennen

Die Validierung von Bildungsleistungen ist ein fünfstufiges Verfahren, bei dem informell erworbene Kompetenzen für einen Berufsabschluss anerkannt werden. Um einen Berufsabschluss mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis zu erlangen, müssen die Absolventinnen und Absolventen in der Regel sogenannte Kurse in der Nachholbildung besuchen. Am Ende der Validierung prüfen Expertinnen und Experten der Berufsverbände die Dossiers der Kandidaten.

www.validacquis.ch

 

Fähigkeitsausweis nachträglich erwerben

Für Winkler steht fest: Menschen erwerben im täglichen Leben laufend neues Wissen. Vielen sei dieser Wissensschatz jedoch nicht bewusst. «In einem Validierungsprozess schauen wir zuerst, welche Kompetenzen ein Mensch in welchen Tätigkeiten bereits erworben hat. Dann geht es um die Frage, wie diese Person die weiteren Fachkenntnisse für einen anerkannten Abschluss erwerben kann», erklärt Winkler. Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) hat zwischen 2004 und 2009 im Projekt «Validierung von Bildungsleistungen» einen Leitfaden für berufliche Validierungsprozesse erarbeitet. Zuständig für die Umsetzung der Validierungsprozesse sind die einzelnen Kantone. Wichtige Partner sind die Berufsverbände, die am Ende der Validierung auch die Abschlusszeugnisse ausstellen.

Laut der aktuellen Erhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) aus dem Jahre 2012 stehen in der Schweiz 14 Prozent aller Erwachsenen ohne Berufs- und Mittelschulabschluss da. Davon sind 116 000 junge Menschen im Alter von 25 bis 34 Jahren betroffen. Für Stellensuchende dieser Altersklasse ist es besonders schwierig, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, stellt die BFS-Studie fest. Winkler bestätigt: «Ab 25 Jahren wird es für junge Erwachsene zunehmend schwierig, noch in eine Berufslehre einzusteigen.»

Durch den Wandel zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft stellt der Arbeitsmarkt immer höhere Anforderungen an Stellensuchende. Von diesem Trend seien zunehmend auch Stellen für Geringqualifizierte betroffen, sagt Flurina Semadeni vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO): «Selbst Hilfskräfte müssen immer mehr Qualifikationen mitbringen und Verantwortung übernehmen. Einfache Arbeiten, die man in ein bis zwei Tagen erlernen kann, gibt es immer weniger.»

Im SECO hat man erkannt, wie dringlich die Validierung von Kompetenzen ist, die auf informellem Weg erworben wurden. Das Amt befragte im vergangenen Jahr in einer Untersuchung die Kantone Zürich, Bern, St. Gallen und Graubünden zu ihren Erfahrungen mit Validierungsprozessen. Die Mehrheit der befragten kantonalen Arbeitsmarktbehörden erachteten die Kompetenzenanerkennungsverfahren als sinnvolle Massnahme.

Romandie spielt eine Vorreiterrolle

Die Kantone wendeten Validierungsprozesse heute jedoch noch sehr unterschiedlich an, stellt Ruedi Winkler fest. Eine Vorreiterrolle spiele dabei die Romandie: «Die Westschweiz orientiert sich punkto Bildungssystem stark an Frankreich, wo Validierungsprozesse schon länger angewendet werden.» In der deutschsprachigen Schweiz seien die Verfahren hingegen noch wenig bekannt.

Als erster Kanton der Deutschschweiz führte die Bildungsdirektion des Kantons Zürich 2005 Validierungsverfahren ein. Im vergangenen Jahr wurden 214 Fähigkeitszeugnisse ausgestellt. Für Teilnehmende ist das fünfphasige Verfahren mit Fixkosten von rund 780 Franken verbunden. Je nachdem, wie umfangreich eine Zusatzausbildung ausfällt, kommen Nachbildungskosten von 600 bis 6000 Franken hinzu. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich von einem bis zu dreieinhalb Jahren. Je nach Wohnort werden die Kosten vom Kanton mitgetragen.

Kaspar Senn leitet den Sektor Gesundheit, Natur und Kunst des Mittelschul- und Berufsbildungsamts Kanton Zürich. Er bezeichnet die Validierung als attraktiven berufsbegleitenden Bildungsweg. «Während des Validierungsverfahrens können die Kandidatinnen und Kandidaten einer Teilzeitbeschäftigung in der entsprechenden Branche nachgehen. Auf diese Weise können auch anfallende Kosten für die Nachholbildung gedeckt werden», sagt Senn. Das Verfahren eigne sich insbesondere auch für Frauen, die während der Familienphase einen Wiedereinstieg ins Berufsleben planten. Müsse eine Person fast das gesamte Bildungspaket nachholen, rät Senn, alternative Wege zum Berufsabschluss ins Auge zu fassen. «Eine Validierung empfiehlt sich für Personen, die schon einen gewissen Prozentsatz an Bildungsleistungen erwerben konnten. Ist keine ergänzende Bildung notwendig, lässt sich das Verfahren in neun Monaten abwickeln.»

Wichtige Verbundpartner für die Validierung sind neben den Kantonen das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) und die Organisationen der Arbeitswelt (OdA), die früheren Verbände. Das BBT ist für die Qualitätssicherung und Weiterentwicklung des Gesamtsystems zuständig, die OdA definieren die Qualifikationsprofile der einzelnen beruflichen Grundbildungen. Zudem stellen sie die Expertinnen und Experten für die Beurteilung der Dossiers der Teilnehmenden. Die Validierung ist heute in 18 Berufen möglich.

Laut dem BBT wurden 2010 rund 500 Abschlüsse in der beruflichen Grundbildung über die Validierung erworben. Im Jahr 2009 waren es circa 240. Die Erarbeitung der Validierungsinstrumente für die OdA bezeichnet das BBT als aufwendig, weshalb sich der Aufwand nicht in allen Branchen lohne. Das Modell liegt jedoch im Trend. So entwickelten jedes Jahr neue OdA Grundlagen für die Validierung von Bildungsleistungen in ihren Berufen, teilte das BBT auf Anfrage mit. Senn bezeichnet die Zusammenarbeit mit den Verbundpartnern als gut: «Die Validierung ist für alle noch Neuland, was gelegentlich Anpassungen und Kursänderungen zur Folge hat. Dieser Umstand stellt die Zusammenarbeit immer wieder vor Herausforderungen.»

Mythos Lehrabschlussprüfung

Ein Berufsabschluss stellt in unserem Bildungssystem einen soliden Wert dar. Für Senn ist die Lehrabschlussprüfung jedoch auch mit einem Mythos verbunden: «Das duale System mit schulischer Grundbildung und beruflicher Praxis ist sicherlich ein bewährtes Modell. Das Prüfungsergebnis einer Abschlussprüfung ist aber auch eine Momentaufnahme. Die Qualität der Ausbildung ergibt sich letztlich durch das Zusammenspiel von Lehrbetrieb, überbetrieblichen Kursen und Berufsfachschule.»

Geht aus der Validierung von Bildungsleistungen ein der LAP gleichwertiger Abschluss hervor? In welcher Form kann die Arbeitswelt profitieren? Diesbezüglich erhält das System sehr gute Noten von der Gesundheitsbranche. «Im Bereich der Grundbildung handelt es sich um gleichwertige Abschlüsse. Wir stehen hundertprozentig hinter der Validierung von Bildungsleistungen», sagt Urs Sieber von OdA Santé, der Nationalen Dachorganisation der Arbeitswelt Gesundheit. Die Nachholbildung zur Pflegefachperson EFZ entspreche deshalb dem grossen Bedürfnis nach qualifiziertem Personal im Gesundheitswesen.

In der Gastronomie sind Validierungen von Bildungsleistungen vor allem in der Westschweiz verbreitet. Die in Weggis ansässige Bildungsdachorganisation «Hotel & Gastro formation» lancierte vor rund vier Jahren mit den Kantonen Genf und Wallis ein Pilotprojekt für den Beruf Restaurationsfachfrau/Restaurationsfachmann EFZ. «Die bisher eingereichten Dossiers geben ein erfreuliches Bild ab», sagt Martin Schönbächler, der für die Aus- und Weiterbildung bei Hotel & Gastro formation verantwortlich zeichnet. Die Validierung von Bildungsleistungen spreche jedoch nicht die breite Masse an. In der Regel seien Personen beim Eintritt in das Verfahren 40 Jahre alt. «Sobald die Kantone eine repräsentative Anzahl EFZ ausgestellt haben, werden wir das Projekt einer Evaluation unterziehen. Sie bildet die Grundlage für eine mögliche Fortsetzung.» Bis dato haben die Kantone Wallis und Genf zusammen elf EFZ ausgestellt.

* Person und Situation fiktiv

Valida

Gründung Der gemeinnützige Verein setzt sich seit 2001 für die bessere Bekanntmachung der Validierung nicht formaler Lernleistungen ein. Er entwickelte als erste Organisation ein Konzept für Validierungen in der Schweiz.

Dienstleistungen Valida organisiert Tagungen, stellt Informationsmaterial bereit und unterstützt Berufsverbände und staatliche Institutionen beim Entwickeln neuer Projekte, die sich mit der Validierung nicht formaler Lernleistungen befassen.

www.valida.ch

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