«der arbeitsmarkt» 02/2009

«Wir haben uns selbst entmündigt»

Der St. Galler Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann über die Macht des Kapitals, die «unsichtbare Hand», die Gier der Manager und die Notwendigkeit, die Märkte staatlich zu regulieren.

Herr Thielemann, die Weltwirtschaft befindet sich seit ­Monaten im Sturzflug. Wie konnte es zu dieser schweren Krise kommen?
Ulrich Thielemann: Die Ursache der gegenwärtigen Krise sehe ich letztlich in den theoretischen Grundlagen der Wirtschafts­wissenschaften, insbesondere in der bedingungslosen Markt­gläubigkeit, die die Wirtschaftswelt in den letzten Jahrzehnten geprägt hat. Man hat die Akteure gewähren lassen, weil man überzeugt war, dass alles, was für das Finanzkapital gut ist, auch für alle anderen gut sei. Und man hat geglaubt, je mehr Kapital im Spiel sei, desto besser sei es für uns alle.

Dem ist nicht so?
Nein, es ist ein fataler Irrtum. Dieser hat dazu geführt, dass die Politik glaubte, das Kapital hofieren zu müssen, denn das Kapital schaffe ja die Arbeitsplätze. Doch damit hat sie sich selbst entmachtet. Die Politik tat alles, um sich im Beauty Contest für das global anlagesuchende Kapital schön zu machen. Damit ist jetzt Schluss. Man hat eingesehen, dass das Kapital globalen Regeln unterworfen werden muss. Das ist der Anfang vom Ende der Marktgläubigkeit.

Hat die Gier der Manager in diese Katastrophe geführt, wie vielfach zu lesen war?
Das wahre Problem ist der wissenschaftliche Boden, auf dem diese Mentalität der Gier steht. Die Akteure sind alle studierte Leute, sie sind alle durch die ökonomische Schule gegangen und haben da die Botschaft vermittelt bekommen, dass die Verfolgung des Eigeninteresses gut und in Ordnung sei. Die «unsichtbare Hand» des Marktes werde es schon richten, dass es am Ende Wohlstand für alle gibt. Nach dieser Theorie dürfen und sollen alle im eigenen Interesse agieren: die Kapitalgeber, denen keine Rendite zu hoch sein kann - das kann man als Gier bezeichnen -, und auch die Kapitaldienstleister, also das Management. Hohe Managervergütungen waren in breiten Kreisen der Öffentlichkeit so lange akzeptiert, als die Manager erfolgreich waren. Der «Erfolg» wurde aber einzig am Shareholder Value gemessen. Auch hier gab es diese naive Annahme: je höher die Renditen, desto besser für alle.

Warum ist das naiv?
Weil man gar nicht versteht, wie Wohlstand für alle entsteht. So hat die Politik das Motto ausgegeben: «Vorfahrt für Arbeit». Da aber das Kapital die Arbeitsplätze schafft, heisst das de facto «Vorfahrt fürs Kapital». Wenn an einem Standort die Lohnforderungen zu hoch sind oder die Rendite zu gering, sagt das Kapital: «Dann schaffen wir halt hier keine Arbeitsplätze.» Dem Kapital wurde ein Freifahrtschein gegeben, die Realwirtschaften, die Standorte gegeneinander auszuspielen. Entsprechend ist der Gewinnanteil am gesamtwirtschaftlichen Wohlstand massiv gestiegen.

Das Streben nach Gewinn ist das Problem?
Nicht das Gewinnstreben, die Gewinnmaximierung ist das Problem. Gewinnmaximierung heisst, alles daranzusetzen, dass die Gewinne so hoch wie möglich sind. Alle Wertgesichtspunkte - etwa auch die Fairness im Umgang mit Mitarbeitenden - würden dann der Rentabilität untergeordnet. Darum muss der Gewinn als ein Gesichtspunkt unter anderen angesehen werden. Gewinnstreben ist legitim und unverzichtbar. Gewinnmaximierung hingegen ist ethisch nicht rechtfertigungsfähig.

Was ist denn da zu Ende gegangen? Die Zeit der Marktgläubigkeit? Oder ist gar der Kapitalismus als Wirtschaftsprinzip am Ende?
Ich halte die Diskussion für müssig. Es gibt keine Alternative zum Markt. Die Frage ist vielmehr, welchen Regeln der Markt unterliegt und welchen Umfang er hat. Ich votiere für eine Begrenzung des Marktes und des Wettbewerbs, aber nicht für seine Abschaffung. Was sollte denn bitte an seine Stelle treten? Sollen wir nicht mehr kaufen und verkaufen können? Nötig ist vielmehr eine Durchdringung des Marktes mit ethischen Werten, nämlich der Verantwortbarkeit des eigenen Tuns: Das ist die Vision einer ­sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Gewinn- und Nutzenmaximierung sind damit nicht vereinbar. Die Begrenzung des Marktes mit seiner Maximierungslogik ist unter dem Gesichtspunkt der Fairness unverzichtbar. Sie dient, um einen Begriff unseres ­Direktors Peter Ulrich aufzunehmen, der «Lebensdienlichkeit».

Dem Markt Grenzen setzen: Wie soll das gehen? Niemand wird sich freiwillig einschränken.

Es wäre in der Tat vollständig abwegig, die Marktkräfte allein durch Appelle an die Vernunft der Individuen bändigen zu wollen. Uns als Individuen - auch als Managern oder Unternehmern - fehlt ja die Gewissheit, dass sich alle gleichermassen beschränken. Es mag zum Beispiel eine moralische Verbindlichkeit geben, wegen des Klimawandels weniger Auto zu fahren. Aber der Einzelne wird sein Verhalten nicht ändern, solange er nicht sicher sein kann, dass die anderen es auch tun. Hier stösst die Individualethik an ihre Grenzen: Die moralische Verbindlichkeit der Einsicht des Einzelnen ist in Grossgesellschaften einfach zu schwach. Der Markt braucht deshalb eine Ordnungsethik, um die Individual­ethik lebbar zu machen.

Sie rufen nach staatlicher Regulierung?

Wir brauchen eine sanktionsbewehrte Rechtsverbindlichkeit. Die Einsicht in die Grenzen der Individualethik ist es, die letztlich den Rechtsstaat begründet. Das gilt auch und gerade fürs Wirtschaften. Es ist die Aufgabe der Ordnungsethik, für die Gestaltung einer guten Rahmenordnung des Wirtschaftens zu sorgen. Der Sinn der Ordnungsethik ist nicht, die Individualethik und die Unternehmensethik überflüssig zu machen, sondern sie im Gegenteil zumutbar, lebbar zu machen. Sie muss dafür sorgen, dass der Verantwortungsbewusste nicht der Dumme ist. In demokratischen Rechtsstaaten geben wir uns diese Regeln selbst - damit wir nicht gezwungen sind, gegen unsere ethischen Einsichten zu handeln.

Brauchte es heute nicht eine globale Rechtsnorm, um auf die globalen Märkte Einfluss nehmen zu können?
Tatsächlich geht es heute um die Gestaltung einer Rahmenordnung auf globaler Ebene. Im Moment deutet sich an, dass eine globale ordnungsethische Perspektive anvisiert wird, eine Gestaltung und damit eine Begrenzung der globalen Marktkräfte. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, beide Vertreter eher konservativer, tendenziell marktgläubiger Kreise, sprechen schon länger von einer «Gestaltung der Globalisierung». Sie haben eingesehen, dass sie sich zu blossen Technikern der Attraktivitätssteigerung ihrer Standorte degradiert und damit die Politik entmachtet haben. Jetzt zeichnet sich eine Kehrtwende ab: «Le laisser-faire, c'est fini», hat Sarkozy gesagt. Und Merkel schlägt vor, eine UN-Agentur zu bilden, die die Grundsätze für eine gute und faire Ordnung der globalen Wirtschaft entwickeln soll.

Bedeutet das, dass die Politik das Primat über die Wirtschaft zurückgewinnt?
Ja. Die Politik kann aber nur dann das Primat zurückgewinnen, wenn sie da ansetzt, wo die Wettbewerbszwänge entstehen, auf der obersten Stufe der globalen Märkte, die im Wesentlichen vom Kapital bestimmt sind. Wir haben uns selbst entmündigt. Jetzt kommen wir zur Einsicht, dass die Märkte auf globaler Ebene reguliert werden müssen. Angela Merkel spricht von einer «menschlichen Marktwirtschaft». Es geht dabei nicht nur um das unmittelbare Krisenmanagement, sondern um eine Neu­gestaltung der globalen Marktwirtschaft.

Wo müsste man den Hebel ansetzen, wenn man eine Marktwirtschaft mit menschlichem Antlitz schaffen will?
Zuerst müssten wir einsehen, warum es falsch ist, den Markt zum alles beherrschenden Prinzip zu erheben. Das ist eine Bildungsaufgabe: Es geht darum, zu erkennen, was genau an der Marktgläubigkeit falsch ist - etwa dass sie auf einem metaphysischen Glauben beruht und deshalb irrational, voraufklärerisch ist. Doch an den Universitäten wird diese Frage überhaupt nicht gestellt. Dort wird den Studierenden indirekt Marktgläubigkeit beigebracht, indem ihnen Techniken vermittelt werden, wie die Gewinne maximiert werden können - was voraussetzt, dass sie maximiert werden sollen. Das Wirtschaften ist eine normative Angelegenheit, die sich auf bestimmte, historisch gewachsene Lehrmeinungen stützt. Es stellt sich die Frage, ob dieses Paradigma richtig oder falsch ist. Also müsste doch ein Wissenschafter sagen: «Oh, da gibt es noch ein anderes Paradigma, wie man das Wirtschaften sehen kann, das ist spannend.» Aber nichts dergleichen. Mich stört, dass diese wissenschaftliche Auseinander­setzung gar nicht gesucht wird.

Auch nicht an der Hochschule St. Gallen? Diese hat immerhin ein Institut für Wirtschaftsethik.

Die Arbeit des Instituts hat durchaus einen gewissen Einfluss. So basiert etwa das St. Galler Managementmodell in der aktuellen Fassung auch auf Grundlagen aus dem Hause der integrativen Unternehmensethik. Viele wissen allerdings nur vage, wofür der St. Galler Ansatz der Wirtschaftsethik eigentlich steht. Die Ethik gilt eben vielen noch als etwas Externes. Das eigene Forschen und Lehren wiederum sieht man als ethisch neutral an - obwohl es doch, wie jeder Studienanfänger gleich bemerkt, auf ein ziemlich undifferenziertes Lob der Marktlogik hinausläuft.

Wenn sich die Wirtschaft nicht freiwillig neu orientiert: Wer könnte denn Druck ausüben, damit sich etwas ändert?
Druck, das ist meine Sache nicht. Ich halte mich lieber an den «eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments», um es mit Jürgen Habermas zu sagen. Die Verfechter der Marktlogik mit kritischen, vielleicht unangenehmen Fragen zu konfrontieren - etwa seitens der Öffentlichkeit, der Medien und so weiter -, ist durchaus legitim. Dafür muss man aber argumentativ gut aufgestellt sein und benennen können, warum das Marktprinzip falsch ist.

Haben Sie eine Vision für die globale Gemeinschaft der Zukunft, wie das wirtschaftliche Leben gerechter zu gestalten wäre?
Der Einfluss des Kapitals müsste deutlich zurückgedrängt und ein gewisses Mass an Deglobalisierung eingeleitet werden, wie es ja auch viele Nichtregierungsorganisationen fordern. Das Wirtschaften darf ruhig wieder stärker regional ablaufen, jedenfalls nicht in beliebigem Ausmass global. Dies würde zu einer Entspannung führen, und zwar auf allen Seiten.

Sie fordern Protektionismus?
Darum geht es in der Tat. Es geht, nüchtern betrachtet, um den Schutz verantwortungsvollen Wirtschaftens davor, dass ihm alle ethischen Dimensionen ausgetrieben werden. Der Begriff «Protektion» bedeutet ja nichts anderes als Schutz. Dass er heute durchwegs diffamierend gebraucht wird, hängt damit zusammen, dass es äusserst gefährlich ist, bestehende Abhängigkeiten zu kappen. Das führt zur Krise. Es muss uns, der Weltgemeinschaft, darum gehen, uns gar nicht erst in beliebig weit reichende Abhängigkeiten zu bringen, und auch darum, die bestehenden Abhängigkeiten etwas abzubauen. Das passiert auch durch Sozialstandards. Man muss sich klarmachen: Entweder herrscht der unbegrenzte Wettbewerb, oder es gibt Protektionismus. Es ist ­einfach eine Frage des Masses.

Wettbewerb und freie Märkte haben doch zu mehr Wachstum geführt und damit Arbeitsplätze geschaffen.

Sie haben uns aber auch unserer Freiheit beraubt. Wettbewerb ist keine Schönwetterveranstaltung! Max Weber hat schon zu ­Beginn des letzten Jahrhunderts den Markt als Zwangszusammenhang erkannt und ihn als «herrenlose Sklaverei» bezeichnet, als anonymes Gebilde, gegen das wir uns nicht wehren können - ­solange wir den Wettbewerb nicht durch eine Rahmenordnung zähmen. Der Wettbewerbsprozess ist ein Prozess der «schöpferischen Zerstörung». Das Kapital schafft nicht einfach so Arbeitsplätze. Eine neue Einkommensposition zu generieren, ist nur durch Druck auf andere möglich. Wachstum gibt es erst dann, wenn diejenigen, die unter Druck sind, etwa weil ihnen die Kundschaft wegläuft, gezwungen sind, ebenfalls Arbeitsplätze zu schaffen und neue Einkommenspositionen aufzubauen. Die schaffen das Wachstum und nicht diejenigen, die als Erste neue Arbeitsplätze geschaffen haben. So entsteht der Wohlstand: durch Wettbewerbsdruck.
 
Was ist daran schlecht? Wir wollen doch alle im Wohlstand leben.
Wir bezahlen aber einen hohen Preis dafür, denn Wachstum und Konsumwohlstand verursachen auch marktexterne Kosten. Der Konflikt ist im Prozess bereits angelegt: zwischen marktinternen Werten - Geld und was man damit kaufen kann - und dem, was wir dafür aufs Spiel setzen müssen. Dieser Konflikt kann innerhalb der Marktlogik nicht beantwortet werden. Im Haushalt kann man aufhören, wenn man genug erwirtschaftet hat. Im Markt kann man das nicht. Wer sich zurücklehnt, ist damit automatisch auf der Verliererstrasse. Der Wettbewerb ist ein Raum, in dem das Recht des Stärkeren gilt.

Wo müsste man ansetzen, um die geltende Ordnung zu ­verändern?
Es liegt nicht an mir als Wissenschafter, zu beantworten, was das richtige Wirtschaften ist. Letztlich lautet die Frage, wie wir leben wollen. Das kann ich nicht über die Köpfe der Leute hinweg bestimmen, das wäre eine Kompetenzüberschreitung. Die Aufgabe der Wirtschaftsethik besteht vielmehr darin, Wert- und Normenkonflikte aufzuzeigen, die typischerweise übersehen werden, was zu Verkürzungen und Fehlurteilen führt. Sie kann aber nicht auch noch aufzeigen, wie diese Konflikte fair beizulegen sind.

Aber Sie können die Eckpunkte einer gerechten Rahmen­ordnung aus Sicht der Wirtschaftsethik benennen?
Die Ökonomen massen sich an, zu wissen, dass es generell richtig sei, dass die Märkte offen sind. Demgegenüber möchte ich die Option zumindest ins Spiel bringen, dass die Märkte begrenzt werden müssen. Wenn wir die Macht des Kapitals begrenzen, ­können wir Souveränität zurückgewinnen für eine Politik, die zur Fairness der Marktverhältnisse beiträgt. Meine Vision ist ein ­begrenzter Markt, in dem nicht der Wettbewerbsdruck alles ­erschlägt, in dem wir nicht gezwungen sind, mit jeder Faser ein Leben als Unternehmer unseres Humankapitals zu führen, nur um nicht auf der Verliererstrasse zu stehen. Der Wettbewerb entwickelt eine eigene Dynamik, die in einer massiven Spannung zur Freiheit steht: zur individuellen Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wie auch zur politischen Freiheit, zur Volks­souveränität. Insofern kann ich apodiktisch sagen, dass der ­Wettbewerb zu begrenzen ist, denn er greift in unsere Autonomie ein. Aber in welchem Mass er begrenzt werden muss, kann ich nicht sagen. Das ist eine politische Aufgabe. Sie zu erkennen, kann aber erst gelingen, wenn wir uns von der Marktgläubigkeit ver­abschiedet haben.

Zur Person

Dr. Ulrich Thielemann, 47, ist Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal und ist seit 1989 in St. Gallen. 1996 schloss er seine Dissertation zum Thema «Das Prinzip Markt» ab. Von September 1996 bis Dezember 1997 hielt er sich im Rahmen seines Habilitationsprojektes «Wettbewerb als Gerechtigkeits­konzept» an der American University in Washington D.C. in den USA auf. Von 1990 bis 1996 war er persönlicher Assistent von Prof. Peter Ulrich, seit 2001 ist er Vizepräsident des Instituts.

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