«der arbeitsmarkt» 03/2014TEXT: Elisabeth Pacher
Praxisassessment

Vorarbeit zur beruflichen Wiedereingliederung

Ein praktischer Einsatz in der Werkstatt der Fachstelle Asylorganisation Zürich bringt Sozialhilfebezügern einen doppelten Nutzen. Er lotet ihr berufliches Potenzial aus und zeigt, welche weiteren Integrationsmassnahmen nötig sind, damit sie im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen können.

In der Werkstatt herrscht geschäftiges Treiben. An einem Tisch stanzen, kleben und walzen einige Teilnehmende verschiedene Materialien. Eine indischstämmige Frau ist in ihre Näharbeit vertieft und appliziert bunte Stoffstücke auf Kissenbezüge. Ein Mann und eine Frau stellen selbstgeschöpftes Papier her. In Teamarbeit giessen sie laufend Wasser über die aufgespannten Bögen. Trotz konzentriertem Arbeiten ist unter dem Dutzend Menschen immer wieder ein Lachen zu hören. Taucht eine Frage auf, ist die Werkstattleiterin nicht weit. Im Eingangsbereich der Werkstatt in der Tramont-Halle in Zürich Oerlikon sind die künstlerischen Erzeugnisse zu bestaunen: selber gemachte Karten, Lampenschirme mit gestanzten Elementen, Holzarbeiten und Papierwaren.

Abklärung in der Praxis

Das ist jedoch kein Bastelkurs. Vielmehr befinden sich die Männer und Frauen im Praxisassessment der Fachstelle Asylorganisation Zürich (AOZ). Diese vierwöchige Abklärung soll die zuweisenden Sozialämter und Gemeinden bei der Planung der beruflichen Integrationsstrategie von Sozialhilfeempfängern mit oder ohne Migrationshintergrund unterstützen. Für diese könne es herausfordernd sein, nur aufgrund von Gesprächen herauszufinden, welche Massnahme geeignet wäre. «Immer wieder steigen Personen aus Integrationsmassnahmen aus oder werden ausgeschlossen, weil das Angebot für die Teilnehmenden nicht adäquat ist, sie überfordert oder zu wenig motiviert sind», erklärt Beatrice Diener, Fachleiterin der beruflichen Abklärung bei der AOZ.

Da setzt das Praxisassessment seit 2009 an: Die Abklärung findet direkt im Arbeitsumfeld – in der Werkstatt – statt. Die Teilnehmergruppe arbeitet während vier Wochen unter Anleitung von Fachpersonen und Coachs in der Handwerkstatt. Die praktische Arbeit soll unter anderem Antworten darauf geben, wie eine Person die Arbeitsabläufe organisiert, wie sie sich unter Stress verhält und ob sie im Team arbeiten kann. «Besonders bewährt haben sich die Eigen- und die Fremdeinschätzung der Teilnehmenden zu ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten.» Diese können so die eigenen Ressourcen und ihr Entwicklungspotenzial im Hinblick auf die arbeitsmarktliche Integration besser erkennen. Gestützt auf standardisierte Testverfahren und die Analyse aus der Tätigkeit in der Handwerkstatt, empfiehlt die AOZ Massnahmen für die weitere Integrationsarbeit. «Aufgrund des Assessments erhalten die verantwortlichen Behörden ein Persönlichkeitsbild, eine Beurteilung der Schlüsselkompetenzen, einen Bericht zum Arbeitsverhalten und Verlauf des Programms sowie Empfehlungen für weitere Schritte zur Arbeitsintegration», sagt Beatrice Diener. Diese können so präzise auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden zugeschnitten werden.

Coaching und psychologische Hilfe

Für Mirsad Nevat (Name geändert) besteht dieser Schritt für die kommende Zeit vor allem darin, besser Deutsch zu lernen, um eine Arbeitsstelle zu finden. Der grosse, hagere Mann stammt aus Syrien und hat vor kurzem das Praxisassessment abgeschlossen. 2010 kam er nach einem Zwischenstopp in der Türkei in die Schweiz. «Ich ging direkt bei Gastronomiebetrieben vorbei und fragte nach Arbeit.» Ohne Arbeitserfahrung, Zeugnisse, Bewerbungsunterlagen und Lebenslauf hatte er allerdings keinen Erfolg. Seit neun Monaten hat der anerkannte Flüchtling eine Aufenthaltsbewilligung B und darf in der Schweiz arbeiten. Der zuständige Sozialarbeiter empfahl ihm, am Praxisassessment teilzunehmen, um seine Arbeitsmarktfähigkeit und seine Kompetenzen zu klären und einschätzen zu lassen. «Ich sollte lernen, wie der schweizerische Arbeitsmarkt funktioniert und meine beruflichen Fertigkeiten einzubringen», sagt der 26-Jährige.

Das Praxisassessment richtet sich an Menschen, deren Arbeits- und Lernfähigkeit erst nach einer vertieften Beobachtungsphase im Arbeitsalltag bestimmt werden kann, wie das etwa auf Flüchtlinge mit geringen Sprachkenntnissen zutreffen kann oder auf Personen, die länger nicht in einem Arbeitsprozess waren. Manchmal sind die Teilnehmenden durch Traumata, Schulden, Alkohol- oder andere Drogenprobleme sowie familiäre Erschwernisse beeinträchtigt. Nach der Analyse der belastenden Situation erarbeiten sie mit Fachpersonen in Einzelgesprächen Lösungen oder werden an Fachstellen verwiesen.

Die Teilnehmenden betätigen sich zu 70 Prozent in der Werkstatt. Die restliche Zeit des Assessments dient dem Coaching, dem Bewerbungstraining oder ist für psychologische Abklärungen und Beratungen vorgesehen. Erfahrene Coachs und Sozialarbeiter unterstützen die Teilnehmenden dabei. Von Krieg und Gewalt traumatisierte Personen erhalten bei Bedarf und in Absprache mit den zuweisenden Stellen zusätzlich psychologische Begleitung beim psychosozialen Dienst der AOZ. Auch Mirsad Nevat wird eine solche Unterstützung in Anspruch nehmen. Weiter erhalten die Teilnehmenden die Möglichkeit, in einem der vielen Arbeitsintegrationsprogramme, die die AOZ auch anbietet, in verschiedenen Branchen zu «schnuppern», um einen Einblick in den jeweiligen Alltag zu erhalten.

Mit jeder der vier Wochen werden die Aufgaben im Praxisassessment komplexer. Erstellen die Frauen und Männer in der ersten Woche einfache Schmuckstücke aus Papier, fertigen sie in der zweiten Woche Lichterketten oder Holzobjekte an. In der Projektwoche danach entwickeln sie individuell anspruchsvollere Produkte. Die letzte Woche ist dafür reserviert, begonnene Arbeiten abzuschliessen und Kundenaufträge herzustellen. Jeder Freitag bietet Gestaltungsraum für eigene Ideen. Beatrice Diener: «Die Teilnehmenden sollen in ihrer Eigeninitiative gefördert werden und ihre Ideen einbringen können.» So kreierte Mirsad Nevat in der Projektwoche neben Schneider-arbeiten auch Ledertaschen, Perlenketten und filigrane, sogenannte «Königsketten». Oder er brachte Ideen für Kissenkreationen und neue handwerkliche Produkte ein, die andere Teilnehmende umsetzen.

Stolz zeigt Mirsad Nevat die Arbeiten, die er im Assessment geschaffen hat. Auf dem Tisch stapeln sich Lichterketten, Kissenbezüge, innovativ gestaltete Papiersäcke, Jacken und Schmuckkreationen aus selbstgeschöpftem Papier in leuchtenden Farben. Kissenbezüge mit phantasievollen Mustern stechen hervor. Seine Kleidungsstücke sind qualitativ hochwertig, jede Naht sitzt. Prachtstück ist ein blauer Pullover mit Kapuze in weichem fliessendem Stoff. Nur mit dem roten Jäckchen ist er nicht zufrieden. «Der Stoff ist zu grob, da halfen auch meine Fertigkeiten nicht weiter.»

Fähigkeiten entdeckt

Der gelernte Schneider hat sich im Assessment bewiesen und zeigte Führungsqualitäten. Er leitete die anderen Teilnehmenden an und gab sein Wissen im Schneiderhandwerk weiter. Auch das gehört zum Praxisassessment. Das Programm stellt die Frauen und Männer ins Zentrum und schafft Raum, eigene Stärken aufzuspüren. «Der Erfolg zeigt sich, wenn die Teilnehmenden ihre eigenen unbekannten Ressourcen erkennen und ihr Potenzial entfalten», sagt Beatrice Diener. Mirsad Nevat etwa entdeckte, dass er Menschen anleiten kann. «Die Arbeit im Team gefiel mir sehr und machte mich zufrieden», sagt er, und seine Augen strahlen. Die neu erkannten und erprobten Fähigkeiten soll er nun bei der Arbeitssuche als Trumpf einbringen. Der junge Mann hat das Assessment erfolgreich abgeschlossen und kann seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt realistischer einschätzen. Selbstverständlich ist das nicht. Es gebe immer wieder Teilnehmende, die so sehr belastet seien, dass eine unmittelbare Integration in den ersten Arbeitsmarkt wenig Sinn mache, sagt Beatrice Diener. «In einem solchen Fall kann zum Beispiel eine medizinische Abklärung oder eine psychiatrische Begleitung im Vordergrund stehen.»

Durch die Teilnahme am Praxisassessment hat Mirsad Nevat einen doppelten Gewinn. Seine Bewerbungsunterlagen sind optimiert, und eine Empfehlung für seine berufliche Zukunft in der Schweiz ist erstellt. Als nächster Schritt in Richtung Arbeitsintegration will Mirsad Nevat einen Intensivkurs Deutsch besuchen, angestrebt wird auch ein gemeinnütziger Einsatz im ersten Arbeitsmarkt. Weil er keine Zeugnisse besitzt und die Textilbranche ausgetrocknet ist, soll er mit einem solchen Einsatz erste Erfahrungen im schweizerischen Arbeitsmarkt sammeln und sich ein Arbeitszeugnis erarbeiten. Bei der Suche fokussiert er auf eine Lingerie mit Änderungsschneiderei, um später als Mitarbeiter in einer chemischen Reinigung mit Änderungsatelier zu arbeiten. Eine Alternative wäre ein Einsatz in einem Schulhaus als Hilfsabwart, da Mirsad Nevat technisch begabt ist.

Sein Fazit ist positiv. «Das Assessment hat mir viel gebracht. Auf einer Skala von zehn Punkten ist mein Zufriedenheitswert bei neun. Ich bin motiviert und kann mich wieder am Leben freuen.»

Fachstelle Asylorganisation Zürich
Organisation und Angebot Die AOZ ist eine Zürcher Fachorganisation im Migrations- und Integrationsbereich mit rund 500 Mitarbeitenden. Neben der Betreuung von Personen des Asylbereichs verfügt sie über ein umfassendes Bildungs- und Arbeitsintegrationsangebot. Seit den 1990er Jahren entwickelt die AOZ praxisnahe Angebote mit dem Ziel, Jugendliche sowie stellensuchende oder sozialhilfebeziehende Personen beruflich einzugliedern. Die AOZ ist eine nicht gewinnorientierte Organisation und arbeitet im Auftrag von Bund, Kanton Zürich, der Stadt Zürich und weiteren Gemeinden.
Praxisassessment Das Praxisassessment besteht seit 2009 und bildet die Grundlage für die Planung des passenden Integrationsweges. Es umfasst vier Wochen praktische Tätigkeit in der AOZ-Handwerkstatt. 2013 nahmen 21 Personen am Assessment teil. Das Angebot zielt auf die soziale und berufliche Integration von Sozialhilfebezügern mit oder ohne Migrationshintergrund ab. Die Teilnehmenden werden individuell beraten und erhalten eine Tagesstruktur in Gruppenarbeitsplätzen. Die Zuweisung in das Assessment erfolgt durch die Sozialämter oder die Gemeinden.
Integrationsprogramme Nach Abschluss des Praxisassessments stehen externe Angebote und Kurse, aber auch verschiedene Integrationsprogramme der AOZ zur Auswahl: Tasteria (Restaurant und Catering), Paprika (Restaurant und Catering – spezifisch für Frauen), Brockito (Verkauf, Räumungen, Entsorgungen), Züri rollt (Tätigkeiten rund ums Velo), Handwerkstatt (Arbeiten mit Papier und Textilien) sowie gemeinnützige Einsatzplätze.

 

 

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