«der arbeitsmarkt» 03/2013TEXT: Bettina Gugger
Bildung

Vom stillen Sterben des Lateins

An den Universitäten wankt das Lateinobligatorium. Die Medien loben immer wieder die positive Wirkung der Lateinkenntnisse auf die Sprachkompetenz, kaum jemand äussert sich explizit negativ über den Unterricht – und doch entrüstet sich niemand so richtig über sein Verschwinden.

Seit der Einführung der neuen Maturitätstypen im Jahr 1995 ist die Zahl der Maturanden, die alte Sprachen als Schwerpunkt wählen, dramatisch gesunken. 2011 schlossen nur 5,5 Prozent in Latein oder Altgriechisch ab. Hoch im Kurs steht dagegen das neue Schwerpunktfach PPP, Philosophie, Pädagogik und Psychologie. Laut Markus Diem, Bildungsforscher und Leiter der Studienberatung an der Universität Basel, fusst diese Entwicklung auf den siebziger Jahren, als die Sozialwissenschaften populär wurden. Damals fiel auch das Lateinobligatorium für das Jus- und das Medizinstudium weg.

Bis 1900 war an den Universitäten verbreitet Latein Vorlesungssprache. Heute finden gerade in den Naturwissenschaften die Vorlesungen auf Englisch statt; auch die Forschungsliteratur ist in Englisch. Den grössten Studienerfolg habe aber, so Diem, wer am Gymnasium Exakte Wissenschaften oder Latein als Schwerpunkt hatte. Das sagt natürlich nichts darüber aus, ob jemand eines dieser Fächer wählt, aber diese Studierenden sind bereits in deduktivem, systemischem Denken geschult, und dies ist in jedem Studium ein Vorteil. Diem beschreibt es so: «Schon im Kindergarten lässt sich sagen, welches von zwei Kindern Wissenschaftler wird: Es ist dasjenige, das mit dem Auspacken des Schleckstängels wartet, wenn man ihm einen zweiten verspricht, falls es sich eine halbe Stunde geduldet.» Die Wahl der Schülerinnen und Schüler spricht gegen das Latein. Eine tote Sprache zu beleben, ist natürlich nicht möglich, sie vor dem Vergessen zu schützen aber schon.

Deutschland verzeichnet eine viel höhere Quote an Abiturienten mit Lateinkenntnissen als die Schweiz, was sich als Reaktion auf die schlechten Resultate der PISA-Studie verstehen lässt. Diem bestätigt die Tendenz, dass im Nachbarland Lateinkenntnisse als Qualitätszeugnis wahrgenommen werden. Wer sie in der Schweiz im Lebenslauf aufführt, verschafft sich dadurch hingegen kaum Vorteile, so Diem. «Den Personalverantwortlichen ist nicht bewusst, welche Kompetenzen Latein vermittelt: mehr Ausdauer im Problemlösungsverhalten beispielsweise.»

Direkter versus indirekter Nutzen

Dadurch, dass beim Latein die aktive Sprachbeherrschung wegfällt, richtet sich der Fokus auf die Funktionalitäten und die Struktur der Sprache. Wer wie bei den modernen Sprachen vor allem durch Imitation lernt, kommt hier wie auch in der Mathematik nicht weiter. Lateinkenntnisse wirken sich dadurch vorteilhaft auf andere Sprachfächer aus. Laut der Studie Evamar II aus dem Jahr 2008, die im Auftrag des Bundes und der Kantone die Maturitätsreform von 1995 evaluierte, sind muttersprachliche Kompetenzen bei Lateinschülerinnen und -schülern besser ausgebildet. Darüber hinaus lassen sich im Lateinunterricht Prozesse des Sprachwandels aufzeigen. Was heute als angeblicher Sprachzerfall diskutiert wird, finde sich bereits in der lateinischen Sprache, sagt Lucius Hartmann, Gymnasiallehrer und Präsident der Schweizer Altphilologen.

Der Unterricht in den modernen Sprachen setzt auf Kommunikation, was die mühsame Übersetzungsarbeit im Latein als unnütz erscheinen lässt. Eine Sprache, so die Lateingegner, dient in erster Linie dazu, sich zu verständigen. Martin Ebel, Literaturredaktor beim «Tages-Anzeiger», schrieb im Jahr 2000 in einem Plädoyer gegen den Lateinunterricht: «Von den vier Fertigkeiten des Fremdsprachenunterrichts – Lesen und Schreiben, Verstehen und Sprechen – kann nur eine einzige, das Lesen, gelernt werden, realistisch: das mühsame Auseinandernehmen langer, 2000 Jahre alter Sätze. Nicht aber, was eine Sprache entscheidend ausmacht: Kommunikation.» Während die Befürworter des Lateinunterrichts die Funktionalität einer Sprache ins Zentrum ihrer Argumentation rücken, argumentieren die Gegner mit dem Nutzen.

Wechselspiel zwischen Universitäten und Gymnasien

Die drei grössten Universitäten der Schweiz, Zürich, Bern und Basel, stellen unterschiedliche Lateinanforderungen. Während Zürich weitgehend am Obligatorium festhält, haben Bern und Basel ihre Zulassungsbedingungen gelockert. «Basel vertritt die Politik, dass nur so viel Latein erforderlich ist, wie im Studium gebraucht wird», sagt Studienberater Diem. Wer Neuere Geschichte in Basel studiert, muss nicht zwingend Lateinkenntnisse vorweisen. Auch in Bern sind Lateinkenntnisse im Fach Geschichte nur noch für alte und mittelalterliche Geschichte Voraussetzung. Samuel Moser, Lateinlehrer in Biel und Literaturkritiker der «NZZ», findet diese Entwicklung gefährlich: «Das entspricht der Meinung, dass die Welt vorgestern angefangen hat und alles Frühere bedeutungslose Vorstufen waren. Die Probleme, die schon die Antike, und da sind die Griechen wiederum interessanter als die Römer, bereits erkannt und exemplarisch durchdacht hat, veralten nie.»

Möglich machte diese Entwicklung an den Universitäten die Autonomie der einzelnen Institute: Weil Forschungsgelder von der Anzahl der Studierenden abhängen, schneiden sich die Institute ins eigene Fleisch, wenn sie an potenziellen Hürden festhalten. Dem Latein droht das gleiche Schicksal wie der Theologie: Weniger als ein Prozent der Studierenden an der Universität Basel belegen das Fach, auf einen Theologieprofessor kommt gesamtschweizerisch gesehen in drei Jahren ein Absolvent. Im Herbstsemester 2012 haben sich an der Universität Basel zwei Studierende erfolgreich für das Fach Latinistik beworben. Der Lateinunterricht an den Sekundar- und Mittelschulen werde früher oder später am Lehrkräftemangel scheitern, prognostiziert Moser und schliesst lakonisch: «Als Lateinlehrer hat man beste Berufsaussichten, da keine Konkurrenz besteht.» Moser räumt aber auch ein, dass Latein durch das Obligatorium am Untergymnasium lange geschützt war. «Als das Fach auf den freien Markt geworfen wurde, hatte es grosse Mühe, gegenüber der Konkurrenz zu bestehen. Der Ausbau von Englisch und die Stundenreduktionen im Latein führten dazu, dass Latein nur noch für sehr gute Schüler und Schülerinnen zugänglich wurde, was früher nicht der Fall war.» Im Kanton Bern hätten die Lateinlehrkäfte auf Gymnasialstufe am meisten damit zu kämpfen, dass die Sekundarschulen Latein nicht anbieten oder die Lernenden nicht über das Lateinangebot am Gymnasium informieren würden, so Moser. In Zürich hingegen, wo Latein noch im Untergymnasium verankert ist, wählen die Lernenden das Fach am zweithäufigsten als Schwerpunkt, und es geniesst auch an der Universität einen hohen Stellenwert.

Über den Bildungswert

Die Fürsprecher des Lateins machen den Unterricht aber nicht von den Anforderungen der Universitäten abhängig. Sie betonen den Bildungswert an sich. Bei den 15- bis 16-Jährigen stehe nicht der Output im Zentrum, so Moser, sondern «die Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur, das Übersetzen als wichtige Kulturtechnik und letztlich das Denken in einer historischen Dimension überhaupt». Der Bildungswert des Lateins bestehe darin, dass die Persönlichkeit des Schülers oder der Schülerin ausgebildet werde, unabhängig davon, wie gut er oder sie die Sprache am Schluss beherrsche. Auch Hartmann betont, dass die Matura nicht allein Studierende produzieren wolle, sondern Maturanden und Maturandinnen, die für die Gesellschaft vorbereitet sind, gereifte Persönlichkeiten, die beispielsweise im Bewusstsein lebten, dass die Demokratie keine moderne Erfindung ist, sondern auf der Antike fusst.

In Internetforen geben ehemals geplagte Lateinschüler ihrem Frust übers nutzlose Pauken Ausdruck. Moser ärgert sich, wenn Leute das Fach nur an persönlichen, negativen Erfahrungen messen. Der Lateinunterricht mochte da und dort altväterisch gewesen sein, am Ende liesse sich aber jedes Fach mit diesem Argument kritisieren. Pascal Hollenstein, Historiker und Ressortleiter Inland bei der «NZZ am Sonntag», griff in einem Beitrag vom 21. Oktober 2012 das Argument der Nutzlosigkeit auf. Besser als eine tote Sprache sollte man eine moderne Sprache lernen; Philosophie, Ideen- und Kirchengeschichte lerne man anderorts. Wie Ebel verteidigt auch Hollenstein die wertvolle Zeit der jungen Menschen, die durch den Lateinunterricht beschnitten würde.

Volksschule als wichtigster Vermittler

Die Arbeitsgruppe «Latein macht Schule» wiederum konnte genau mit dem Argument des Nutzens Erfolge erzielen. Auslöser für die Bildung der Arbeitsgruppe war der Entwurf des Lehrplans 21 (Deutschschweizer Lehrplan für die Volksschule), in dem Latein laut Martin Müller, Fachdidaktiker an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und Gymnasiallehrer, ursprünglich nicht vorkam. Der Lehrplan 21 will die Ziele in der Volksschule kantonsübergreifend vereinheitlichen. Co-Projektleiterin Kathrin Schmocker wehrt sich gegen den Vorwurf, Latein im neuen Lehrplan nicht vorgesehen zu haben. Die Erziehungsdirektorinnen und -direktoren beschlossen, dass ein Lehrplan für Latein ausgearbeitet werden sollte, wenn mehrere Kantone dies wünschen und finanzieren. Die Intervention von «Latein macht Schule» zeigte Erfolg. Die Kantone Aargau, Appenzell Innerrhoden, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Freiburg und Schaffhausen beteiligen sich am Projekt. Als entscheidend erwies sich das Argument, «dass Latein einen wertvollen Beitrag zur Mehrsprachendidaktik leistet, dadurch, dass es aus sprachgeschichtlichen Gründen so viele Verbindungen zu den modernen Sprachen aufweist. Man weiss heute, dass Menschen Sprachen nicht isoliert lernen, sondern Wissen aus einer Sprache auf andere übertragen. So können auch Migrationskinder von ihrer Muttersprache für das Sprachenlernen profitieren. Der Nutzen von sprachenübergreifendem Transfer ist um ein Vielfaches grösser als derjenige des Lernens aus Fehlern», so Müller. Über die Hälfte des englischen Wortschatzes gehe auf das Latein zurück. Lege er seinen Schülern und Schülerinnen einen portugiesischen Text vor, würden diese die Kernaussagen ohne Probleme verstehen.

Fachkräfte kämpfen gegen Vorurteile an

Zu kämpfen habe die Arbeitsgruppe «Latein macht Schule» mit strukturellen Problemen, so Müller. Weil am Gymnasium alle die gleichen Voraussetzungen mitbringen sollten, würden die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft Latein zwar auf der Sekundarstufe I implementieren. Trotzdem beginne am Gymnasium der Unterricht wieder bei null. Viele Kantone betrachteten das Latein als ein gymnasiales Fach, das nicht an die Volksschule gehöre. Das hänge auch mit dem Vorurteil zusammen, es sei elitär. Auch Lateinlehrer Moser sind diese Ressentiments, dass Latein etwas für die Mehrbesseren und nur für besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sei, bekannt. In Biel laufe die Reduktion der Stundenzahl auf nur noch drei Stunden pro Woche genau darauf hinaus: Nur noch gute Schüler und Schülerinnen könnten das Tempo halten, die Lerninhalte müssten insgesamt heruntergebrochen werden. «Das ist etwa so, wie wenn im Deutschunterricht nur noch Kinderbücher gelesen würden», beschreibt Moser die Entwicklung. Den Klassiker Horaz habe er vor sechs Jahren das letzte Mal mit Schülern gelesen, bei Vergil komme er manchmal knapp zu ein paar Zeilen.

«Römer-Disneyland» ersetzt Geschichte

Neben dem Bildungswert des Lateinunterrichts beschäftigt die Befürworter eine zentrale Frage, die in der Nutzendiskussion untergeht: nämlich was verloren geht, wenn das Latein nach und nach aus dem Bildungskanon verschwindet. «Wenn immer weniger Historiker mit Quellen arbeiten, wird sich die Forschung bald nur noch auf Übersetzungen konzentrieren. Da Übersetzungen immer Interpretationen sind, drohen Details zu verschwinden, sie sind nicht mehr als solche erkennbar», gibt Moser zu bedenken. Latein erfordert Genauigkeit der Übersetzung, ein einzelner Buchstabe kann über den Inhalt einer Aussage entscheiden. Anstatt durch Übersetzungsarbeit den Reichtum einer Fremdsprache zu entdecken, setzt der Fremdsprachenunterricht auf Kommunikation. «Die Welt wird dadurch ärmer», findet Müller. So könne das Englisch in der Wissenschaft nicht als eigentliches Englisch bezeichnet werden. Müller spricht von einem Esperanto-Englisch, das von einem Oxford-Englisch meilenweit entfernt sei. «Indem wir uns nicht mehr um Übersetzungen bemühen, geht ein Stück Sprachbewusstsein verloren, das kritische Denken wird nicht mehr geschult. Was mit dem Denken passiert, tangiert natürlich auch unsere Wahrnehmung», gibt Moser zu bedenken. «Eine klassizistische Säule in einer Bahnhofshalle beispielsweise wird nicht mehr als solche erkannt. Die Menschen werden blind», meint Moser. Er sieht einen Zusammenhang zwischen den Stimmen, die sich kritisch gegen Übersetzungsarbeit im Unterricht äussern, und dem grossen Zulauf von Römer-Disneyland-Veranstaltungen, wo eine Kultur auf zwei, drei Erkennungsmerkmale reduziert wird. Auch Müller betrachtet diesen Trend skeptisch. «Es ist ein grosses Ärgernis, wenn sogar die NZZ am Sonntag in ihrem Artikel über den Lateinunterricht auf Asterix-Illustrationen zurückgreift.»

Dabei hat die Antike nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. So fragt Müller seine Schüler, ob es gerechtfertigt sei, jemanden zu töten, der bereits am Boden liege, und verweist damit auf die Zeitgeschichte: Durften die Revolutionäre Gaddafi ermorden oder die Amerikaner Bin Laden? Ein moralisches Problem, das schon Vergil in der Schlussszene seiner «Aeneis» behandelte, an der er im 3. Jahrzehnt vor Christus arbeitete. Müller dient dieses Epos als Panoptikum des eigenen Lebens: Am Fremden sieht man, was einem selbst verborgen bleibt.

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