«der arbeitsmarkt» 03/2015TEXT: Naomi JonesFOTO: Stefan Zürrer
Fehlanreiz

«Vielleicht hätten wir einfach nur die Boni verbieten müssen»

Wettbewerb unter Mitarbeitenden schadet einem Unternehmen häufig mehr, als dass er nützt. Belohnung und Bestrafung wirkten sich negativ auf die Motivation der Mitarbeitenden aus, sagt Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement an der Hochschule St. Gallen.

Antoinette Weibel, in Schweizer Spitälern infizieren sich jährlich 1000 Menschen aufgrund von mangelnder Hygiene. Haben Spitäler eine schlechte Fehlerkultur, oder wissen wir von den Fällen, weil sie ein besonders gutes Fehlermanagement haben?
Spitäler sind daran, ein gutes Fehlermanagement zu etablieren. Sie arbeiten sowohl an der Prävention, zum Beispiel von Infektionen, als auch am Fehlermanagement. Sie schaffen Systeme, damit sich auch die Pflegerin getraut, den Chefarzt auf einen Fehler hinzuweisen, oder machen Fallstudienkonferenzen. Spitäler sind vielleicht noch nicht dort, wo sie sein könnten, aber sie haben sich die High-Reliability-Organisationen, also Organisationen, in denen Sicherheit die höchste Rolle spielt, wie etwa die Flugsicherung, zum Vorbild genommen. Vieles bewegt sich. Manchmal scheint es, als würden sich die Ärzte gegen eine Fehlerkultur sträuben. Das glaube ich aber nicht. Wogegen sich die Ärzte allenfalls sträuben, ist zu viel misstrauische Kontrolle von oben, also vom Staat und von den Krankenkassen. Ich kann sie durchaus verstehen.

Wie gehen Sie persönlich mit Fehlern um?
In meinem Fall als Wissenschaftlerin sind Fehler eher Misserfolge. Sie gehören zur Tagesordnung. Der letzte war die Absage einer Konferenz, an der ich mich mit meinem Team mit einem Beitrag beworben hatte. Ich ärgere mich natürlich darüber. Wenn der Ärger abgeklungen ist, studiere ich die Begründung der Absage nochmals genau und frage mich, was ich verbessern kann. Ein anderes Beispiel ist die Studentenevaluation meiner ersten Vorlesung an der Hochschule St. Gallen. Sie war nicht so gut, wie ich es gewünscht hätte. Um aus der Evaluation zu lernen, suchte ich das Gespräch mit den Studierenden und natürlich mit meinem Team.

Menschen sind rasch geneigt, den Fehler bei den Umständen zu sehen. Wie lernt man aus Fehlern?
Ich bin nicht Psychologin und kann daher nicht sagen, wie der einzelne Mensch genau lernt. Ich habe aber durchaus eine Idee, wie Unternehmen aus Fehlern lernen können. Sie können Fehlerprävention und Fehlermanagement betreiben. In der Prävention sollen Fehler gar nicht erst entstehen. Arbeitsabläufe werden verbessert. Da Fehler dennoch auftreten können, sind Puffer und Sicherheitsdispositive nötig. Informatiker speichern die Daten nicht nur in der Cloud, sondern auch physisch. Man denkt in Szenarien und entwickelt einen Plan B und C.

Und Fehlermanagement?
Fehlermanagement heisst, Fehler zu erkennen, zu melden und daraus zu lernen. Die Mitarbeitenden müssen dies wollen, können und tun. Für das Wollen ist die Fehlerkultur im Unternehmen zentral. Sie ist das Gegenteil einer Sündenbockkultur. Wenn ich befürchte, als Schuldige aus dem Unternehmen zu fallen, werde ich sicher keinen Fehler einräumen. Ich brauche geeignete Instrumente, um Fehler melden zu können. Kürzlich las ich von einem Unternehmen, das alle Fehler in einem goldenen Buch notierte. Ich mag die Symbolik. Schliesslich ist kritisches Denken wichtig. Wir haben rasch eine Lösung zur Hand, aber wir nehmen uns zu wenig Zeit, die Ursache zu suchen. Die Japaner wenden die sogenannte Zehn-W-Technik an. Sie fragen zehnmal, warum der Fehler passiert ist.

Das bedeutet, sie betrachten das Problem von allen Seiten?
Ja, wer aus einem Fehler lernen will, muss in die Tiefe gehen und darf sich nicht zu schnell zufrieden geben. Dazu brauchen wir Zeit, uns mit dem Team zu besprechen, zurückzuschauen und Distanz zu nehmen. Die meisten Unternehmen haben heute zu wenige Reflexionsmöglichkeiten.

Weshalb?
Weil wir in den letzten 15 Jahren viele Puffer und Redundanzen aus den Systemen herausgenommen haben.Unsere ganzen Unternehmen sind sehr schlank und auf Effizienz getrimmt. Zeitreserven sind bewusst abgebaut worden. Aber diese Zeit fehlt nun im Fehlermanagement.

Das heisst, die Unternehmen müssten sich entschleunigen?
Zum Teil. Auf jeden Fall müssten sie Phasen der Reflexion einbauen, in denen die Mitarbeitenden Zeit haben, langsam sein dürfen und nachdenken können.

Gilt dies vor allem für den einzelnen Mitarbeiter oder eher für den Chef?
Fehlermanagement baut stark auf den Teamgedanken. Nicht der einzelne Mitarbeiter ist verantwortlich für den Fehler, sondern das System. Viele Unternehmen sehen Fehler als Verschwendung von Zeit oder Ressourcen. Sie legen den Fokus auf Prävention, denn Fehler sind vor allem ärgerlich. Ich denke aber, dass Fehler auch hier eine Chance sein könnten, um beispielsweise Prozesse zu verbessern.

Wo wird das Fehlermanagement betrieben?
High-Reliability-Organisationen wie die Flugsicherung oder Atomkraftwerke sind so komplexe Systeme, dass Fehler unvermeidbar sind. Solche Organisationen brauchen Mitarbeitende, die mitdenken. Sie müssen richtig reagieren und Schlimmeres vermeiden. Diese Unternehmen betreiben ein aktives Fehlermanagement. Die Flugsicherung Sky Guide spricht sogar von einer Fehlerbesessenheit. Sie sammelt und analysiert auch kleine Fehler und solche, die beinahe geschehen. So hofft Sky Guide, den grossen und tragischen Fehler zu vermeiden. Und dann gibt es die innovativen Organisationen, die Forschung betreiben. Fehler werden als Chance und Option wahrgenommen. Die Mitarbeitenden sollen umdenken und experimentieren. Die Dinge dürfen auch mal schieflaufen. Viele Innovationen sind glückliche Zufälle, und Fehler sind da, um Neues zu entdecken.

Hilft Fehlermanagement auch anderen Firmen?
Ich würde behaupten, dass Fehlermanagement vielen Unternehmen gut täte. Sie setzen heute vor allem auf Prävention mittels rigoroser Kontrolle und Strafe. Der Fokus liegt auf dem einzelnen Mitarbeiter. Aber ich glaube, dass die Mentalität von High-Reliability-Organisationen auch bei ihnen, etwa bei den Banken, hilfreich wäre, um aus Fehlern zu lernen und dadurch die nächste Bankenkrise zu verhindern. Generell gilt: Wir schalten alle irgendwann in den Autopiloten. Dann geschehen Fehler. Deshalb müssen wir wachsam bleiben.

Wie können wir das tun?
Dazu brauchen wir genügend Ruhepausen. An schwierigen Problemen sollten wir vielleicht zu zweit arbeiten. Unternehmen und Mitarbeitende dürfen nicht selbstzufrieden werden. Wer denkt, er habe alles im Griff, wird nachlässig. Hier helfen Fortbildung, Supervisionen und Diversität. Ein Team braucht Leute, die anders denken.

Interessieren sich andere Branchen für das Fehlermanagement?
Zum Teil, etwa die Pharma oder Spitäler. Aber ich glaube nicht, dass sich die Banken ein Vorbild an der Flugsicherung nehmen. Die UBS verbietet neuerdings private Handys am Arbeitsplatz. Das deutet nicht auf einen Gesinnungswandel hin. Basis eines guten Fehlermanagements sind psychologische Sicherheit, Vertrauen und Respekt. Rigorose Kontrolle, starker Wettbewerb zwischen den Mitarbeitenden und hohe Boni sind hingegen kontraproduktiv. Wenn die Mitarbeitenden im Wettbewerb zueinander stehen, werden sie sich keine Blösse geben und einen Fehler melden. Zudem: Wenn der variable Lohn einen grossen Anteil an meinem Gesamtlohn ausmacht, werde ich konservativ, bekomme einen Tunnelblick und konzentriere mich in erster Linie darauf, den Bonus zu bekommen und nicht einen Fehler, der «im Anmarsch» ist, zu erkennen. Fehlermanagement beruht auf Mitdenken, und dieses kann ein Unternehmen nicht kaufen. Hohe Boni können die intrinsische Motivation verdrängen, die für das Mitdenken sehr wichtig ist.

Liesse sich auch die Haltung der innovativen Unternehmen, dass Fehler willkommen sind, auf Banken übertragen?
Ja, Banken dürften innovativer sein. Unterdessen hat Google eine Banklizenz. Das Business wird sich vermutlich fundamental verändern. Innovationsmöglichkeiten sind vorhanden. Mir scheint bloss, dass Banken diese noch nicht ausreichend nutzen.

Weshalb täten die Banken gut daran, sich in Sachen Fehlermanagement ein Vorbild zu nehmen?
Sie könnten zum Beispiel reflektierter mit Risiken oder ethischen Problemen umgehen. Denn gesellschaftliche Normen zu brechen, kann sich längerfristig als Fehler erweisen. Die Banken könnten sich mit ihren Mitarbeitenden Gedanken dazu machen und gewisse Verhaltensweisen verändern.

Wären sie dann noch so reich?
Das ist schwierig zu sagen. Einem innovativen Unternehmen wie 3M, der Firma, die Post-it erfunden hat, geht es auch gut. Generell bin ich der Meinung, dass es sich auszahlt, wenn ein Unternehmen auf Respekt, Vertrauen und intrinsischer Motivation aufbaut. Mit- und umdenkende Mitarbeitende erkennen Risiken und sind innovativer.

Wie könnte sich das System ändern?
Ein mutiger Chef, ein starker Verwaltungsrat oder ein innovatives Team wären gefragt. Mit einem anderen System würden Banken vielleicht auch wieder einfacher Talente anziehen. Für meine Studierenden sind Banken nicht mehr so attraktive Arbeitgeber wie noch vor ein paar Jahren. Eine andere Möglichkeit sind Regulierungen von aussen. Ich bin zwar kein Freund davon, denn sie unterbinden die Eigeninitiative. Manchmal stellt sich jedoch eher die Frage, welche Regulierungen sinnvoll sind. Vielleicht hätten wir die Boni komplett verbieten statt bloss einschränken müssen, und zwar europaweit. Dafür hätte man dann allenfalls auf viele andere Regulierungen verzichten können.

Warum?
Ich habe den Glauben aufgegeben, dass alles, was wichtig ist, mess- und berechenbar ist. Bonus- und Malussysteme funktionieren nur, wenn die wünschbaren Verhaltensweisen messbar sind. Das ist aber häufig nicht der Fall. Smarte Mitarbeitende können dann das Lohnsystem austricksen. Zudem verringern diese Anreizsysteme Eigeninitiative und Engagement aus Herzblut. Beides sind Verhaltensweisen, die wir sowohl im Fehlermanagement als auch in einer innovativen Umgebung suchen.  

Im Fall CS – die Bank wurde in den USA wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu einer Busse von 2,8 Milliarden Dollar verurteilt – wundert mich, dass sich die Firmenspitze offenbar nicht für die Fehler verantwortlich gefühlt hat. Gibt es je nach Hierarchiestufe einen andern Umgang mit Fehlern?
Fehler können auf jeder Stufe entstehen. Im Fehlermanagement sucht man die Ursache von Fehlern gemeinsam – man möchte gemeinsam das System verbessern. Unternehmen, die ausschliesslich auf Fehlervermeidung setzen, suchen meist eher einen Sündenbock. Lernprozesse kommen kaum in Gang. Trotzdem gilt hier Vorsicht. Nebst Fehlern gibt es Sabotage und Betrug. Gegen Betrug muss man vorgehen.

Wie lassen sich Fehler von Betrug unterscheiden?
Fehler sind nicht intentional. Betrug geschieht hingegen absichtlich. Der Unterschied ist nicht immer klar. Das ist die Krux. Aber gerade darum muss ein Unternehmen sachte mit Fehlerverursachern umgehen und im Zweifel Gnade vor Recht praktizieren. Eine Misstrauensvermutung als Generaleinstellung ist sicher nicht sinnvoll. Im Unternehmen sollte man sich darüber unterhalten, wie der Wertekodex aussieht. Diese Werte müssen gelebt werden – nicht zuletzt auch von oben. Viele Leitbilder sind leider nur Papier.

Die Sündenbockkultur betrifft aber nicht nur Banken, sondern auch Politiker und Amtsträger. Haben wir in der Schweiz eine intolerante Gesellschaft?
Das Vertrauen in die Institutionen ist heute sehr tief. Wir haben keinen Vertrauensvorschuss mehr. Die Leute sind besser informiert als früher und schauen genauer hin. Früher konnte ich nicht beurteilen, was ein Spital oder ein Anwalt tat. Heute meinen wir oft, dass wir die Arbeit der andern beurteilen können. So ergibt sich eine Mischung aus Misstrauen und Halbwissen, die zu einer höheren Klagefreudigkeit führt. Aber zum Teil ist das Wissen weit fortgeschritten. Die Bürger sind kritischer. Politiker und Institutionen müssen Vertrauen aufbauen. Das ist ein langer und schwieriger Weg. Sie müssen mit der Presse, dem Staat und den Bürgern in einen Dialog treten.

Antoinette Weibel, 45, ist seit Februar 2014 Professorin für Personalmanagement an der Hochschule St. Gallen (HSG). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Vertrauen und Motivation. Antoinette Weibel studierte in Zürich Ökonomie. Sie promovierte über «Kooperation in strategischen Wissensnetzwerken» und habilitierte über «Freiwilliges Arbeitsengagement». Nach der Habilitation wurde sie Professorin für Management an der Universitären Hochschule Liechtenstein. Zwei Jahre später wechselte sie an die Universität Konstanz, bis sie den Ruf der HSG erhielt. Die Professorin lebt mit ihren zwei Katzen Max und Lotte in Dietikon (ZH).

 

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