«der arbeitsmarkt» 04/2008

Nachtschicht - Patienten, Polizisten und ein Schrei aus Koje sieben

Beim «Notfall» weiss man nie, wer kommt: Patienten mit Hundebiss oder mit einer Messerstichverletzung, mehrere auf einmal oder gar niemand. Das Personal im Notfallzentrum des Inselspitals in Bern ist auf jede Eventualität vorbereitet.

Es sieht so aus, als ob es eine ruhige Nacht wird. Um 23 Uhr, als die Pflegefachfrauen Rachel Leist und Rosmarie Muhmenthaler die Nachtschicht übernehmen, befinden sich zwei Patienten auf der chirurgischen Notfallstation. Ein Mann sitzt im «Nähstübchen» und wartet darauf, nach Hause gehen zu können. Die Assistenzärztin hat ihm vor zehn Minuten eine kleine Wunde am Hinterkopf genäht. Er habe den Kopf an der Heizung angeschlagen, sagt er. Im Nebenzimmer sitzt ein anderer Mann auf einem Untersuchungsstuhl. Er ist wegen Nasenblutens gekommen. Um halb zwölf haben beide Patienten den Notfall verlassen. Medizinstudent Lukas Beng, Assistenzärztin Andrea Schnell und Oberarzt Aris Exadaktylos ziehen sich ins Büro am Ende des Ganges zurück. Die Pflegefachfrauen bleiben im -Empfangsbereich.
Das Notfallzentrum am Berner Inselspital ist in einen chirurgischen und einen medizinischen Notfall unterteilt, die aber beide unter der gleichen Leitung stehen. Das Personal am Haupteingang weist die Patienten aufgrund ihrer Verletzung einer der beiden Stationen zu. Personen mit einem Herzinfarkt oder einer Alkoholvergiftung werden in den medizinischen Notfall eingeliefert. Hat sich jemand ein Bein gebrochen oder am Kopf verletzt, wird er in den chirurgischen Notfall gebracht.
Um 23.30 Uhr ist es nicht nur auf der chirurgischen Abteilung ruhig, sondern auch auf der medizinischen Station, die sich nur einen Gang und zwei Schwenktüren weiter befindet. Die Ärzte dieser Abteilung sitzen alle im Büro vor den Computern. Die einen, deren Dienst endet, schreiben ihre Berichte fertig. Die anderen, die den Dienst eben angetreten haben, prüfen ihre E-Mails. «Man muss die Zeiten nutzen, die ruhig sind», sagt eine Assistenzärztin. Denn das könne sich jederzeit ändern. Im Aufenthaltsraum gibt es eine Kaffeemaschine, auf dem Tisch liegt eine angebrochene Pralinenschachtel.
Sieben Minuten nach Mitternacht durchbricht ein «Pling» die Stille. Das Personal vom Hauptempfang kündigt einen Schwerverletzten an. Auf allen Bildschirmen steht in roter Farbe: «Mann mit Messerstich». Rot bedeutet schwerverletzt, Gelb mittelschwer, Grün leicht, und die blaue Farbe steht für -einen Kontrollbesuch. Von den 30000 Patienten, die hier jedes Jahr in den Notfall eingeliefert werden, sind zwei Drittel mittelschwer verletzt oder krank, bei einem Drittel der Patienten handelt es sich um Schwerverletzte oder Schwerkranke.
Im Schockraum in der chirurgischen -Abteilung liegt der Patient mit nacktem Oberkörper auf dem Behandlungstisch. In diesen Raum werden alle Schwerverletzten gebracht. Die Ärzte und die Pflegefachfrauen umringen den Patienten und prüfen seinen Zustand.
Den Notfall müsse man sich wie eine überdimensionierte Hausarztpraxis vorstellen, hat Oberarzt Aris Exadaktylos vorher erklärt. Die Aufgabe des Personals ist, herauszufinden, was dem Patienten fehlt. Um die leichteren Verletzungen kümmern sie sich selber, bei Schwerverletzten werden nach einer ersten Diagnose die Fachärzte herbeigerufen.
Es piepst und rauscht. Der verletzte junge Mann ist an den Pulsmesser angeschlossen. Das Rauschen stammt von der Sauerstoffmaske, die der Patient auf dem Gesicht hat. Er blutet auf der linken Seite, ist aber bei Bewusstsein und ansprechbar. Der Oberarzt ordnet eine Untersuchung im Computertomographen an. Zwei Pflegefachfrauen schieben die Untersuchungsliege mit dem Patienten in die Röntgenabteilung.
Eine Viertelstunde nach Mitternacht. Pflegefachfrau Rachel Leist ruft den Bauchchirurgen an. Sie informiert ihn über die Situation: «Messerstich im linken Brustkorb. Aris möchte, dass du ihn dir ansiehst. Es ist unklar, ob das Zwerchfall verletzt ist.»
Währenddessen wird ein neuer Patient eingeliefert. Drei Rettungssanitäter in leuchtend gelben Westen schieben eine Bahre her-ein, auf der ein älterer Mann liegt. «Nummer sieben», ruft die Pflegefachassistentin Rosmarie Muhmenthaler und zeigt auf eine Koje. Sie zieht den Vorhang zu und beginnt, sich um den Patienten zu kümmern. Der Mann hat einen Schlauch in der Blase, der verstopft ist. Rosmarie Muhmenthaler muss ihn spülen.
00.30 Der Patient mit dem Messerstich ist aus dem Computertomographen zurück. Er hat Glück gehabt, er ist nicht lebensgefährlich verletzt. Das Messer hat die Lunge angeritzt, andere Organe sind nicht verletzt. Der Oberarzt greift zum Telefon und informiert die Polizei über die Messerstecherei, die sich vor der Berner Reithalle zutrug.
00.45 Eine Polizistin und zwei Polizeiaspiranten erscheinen auf der Notfallstation. Sie erhalten vom Oberarzt die Erlaubnis, kurz mit dem jungen Mann zu sprechen. «Was ist passiert? Wo war es? Mit wem warst du zusammen?» Zwischen den Fragen beugt sich die Polizistin über den Patienten, um ihn zu verstehen. Die Antworten des jungen Mannes werden durch die Sauerstoffmaske verzerrt. Er spricht Französisch mit einem arabischen Akzent.
01.10 Die Ärzte entschliessen sich zu einem kleinen Eingriff. Sie werden dem Patienten einen Schlauch zwischen den Rippen einführen, um das Blut und die Luft abzuleiten, die sich zwischen dem Lungen- und dem Rippenfell angesammelt haben. Das Pflegepersonal zieht dem Patienten die restlichen Kleider aus. Die Assistenzärzte -ziehen grüne Kittel und weisse Handschuhe an, setzen grüne Hauben auf und ziehen sich einen blauen Mundschutz über. Der -Medizinstudent Lukas Beng hält die rechte Hand des Patienten. Zu Beginn des Eingriffs ist dieser ruhig, dann schreit er mehrmals auf. Die Assistenzärztin Andrea Schnell beruhigt ihn: «Wir geben Ihnen ein Schmerzmittel, ça va aller.» Eine Oberärztin steht während des Eingriffs neben ihr und gibt ihr ab und zu Anweisungen.
01.20 Die Polizisten sind noch da, sie -haben sich in den Flur vor dem Aufenthaltsraum zurückgezogen. Die Polizistin gibt über Funk die neusten Informationen durch: «Er sagt, das Portemonnaie sei ihm gestohlen worden. Wir versuchen, den Taxifahrer ausfindig zu machen.»
01.25 Der Mann aus Koje sieben schreit auf. Rosmarie Muhmenthaler eilt zu ihm und versucht zu verstehen, was er sagt. Die Polizistin gibt über Funk eine Zusammenfassung des Geschehens durch: «Fünf Marokkaner haben das Opfer mit dem Taxi zum Notfall gebracht. Opfer muss nicht operiert werden, wird überwacht. Am Tatort gibt es keine Blutspuren.»
01.35 Der Eingriff ist beendet. Die Assistenzärzte haben einen Schlauch oberhalb der Messerstichwunde eingeführt. Die grünen Kittel werden ausgezogen, zerknüllt und in den Abfallkorb geworfen. Fünf Minuten später haben alle den Raum verlassen. Der junge Mann richtet sich ein bisschen auf und schaut um sich. Die Assistenzärztin kehrt zurück und informiert ihn über seinen Zustand. Sie sagt, dass er in den nächsten Stunden noch Schmerzen verspüren werde.
01.50 Der Student Lukas Beng näht nach Anweisung die Stichwunde zu.
02.00 Zwei Rettungssanitäter kommen und bringen den Mann mit dem künstlichen Blasenkatheter zurück ins Pflegeheim. Der Oberarzt erscheint und kontrolliert den -Zustand des Patienten mit der Messerstichwunde. Die Polizistin gibt über Funk einen letzten Bericht durch: «Drei Zentimeter Stichwunde auf linker Seite, nichts Lebensgefährliches. Kleider haben wir sichergestellt.» Bevor sie um halb drei gehen, nehmen sie eine Blut- und Urinprobe des jungen Mannes mit sich.
02.40 Assistenzärztin Andrea Schnell schreibt den Bericht für den Rechtsmediziner. Ungewöhnlich ruhig sei es für diese Zeit, sagt der Oberarzt Aris Exadaktylos. Er zieht sich in sein Büro einen Stock tiefer zurück und legt sich hin. Der Dienst letzte Nacht war anstrengend. Ruft ihn die Pflegefachfrau auf seinem Handy an, ist er in wenigen Minuten wieder auf der Station.
03.00 Zwei Pflegefachfrauen kommen und bringen den jungen Mann mit der Messerstichwunde auf eine überwachte Station. Kaum haben sie das Bett den Gang entlang geschoben, erscheint der Rechtsmediziner. Er fragt nach dem Bericht und nimmt den Papiersack mit den Kleidern des jungen Mannes an sich. Seine Aufgabe ist es, Spuren zu sichern. Er geht zum Patienten, um -«Fingernagelschmutz» sicherzustellen.
Nun ist es ruhig, kein Patient befindet sich auf der Notfallstation. Von den Ereignissen der vergangenen vier Stunden zeugen einzig die halb leeren Harassen mit den -Wasserflaschen. Auf der Notfallstation ist es sehr warm, es herrschen schon fast tropische Temperaturen. Die Pflegefachfrau Rachel Leist trägt offene Sandalen, ihre Kollegin steht barfuss in den orangen Clocs. Es ist so warm auf der Station, damit die Patienten nicht frieren, wenn sie halb entkleidet auf den Untersuchungsbetten liegen.
Die Pflegefachfrauen nutzen die Pause und setzen sich mit einer Banane und Schokolade in eine Ecke. Sie müssen während ihres achtstündigen Dienstes immer anwesend sein. Die Assistenz- und Oberärzte dürfen sich während ihrer zwölfstündigen Schicht hinlegen, wenn sie nicht gebraucht werden. Assistenzärztin Andrea Schnell ist nicht müde. Sie hat seit mehreren Tagen Nachtdienst und ist in diesem Rhythmus drin. Um halb elf Uhr morgens ist sie von ihrer Nachtschicht nach Hause gekommen und hat bis vier Uhr nachmittags geschlafen. Der Notfalldienst gefällt ihr: «Es ist spannend, man weiss nie, was kommt.» Für Heinz Zimmermann, Chefarzt und Direktor des Notfallzentrums, ist das Unberechenbare das Typische, aber auch das Schwierige am Notfall. «Manchmal haben sie sieben Schwerverletzte auf einmal.» Man müsse die Kunst beherrschen, gleichzeitig mehrere Patienten zu versorgen.
03.45 Ein «Pling» kündigt den nächsten Patienten an. Das Personal vom Haupteingang schiebt einen Mann im Rollstuhl herein, eine Frau begleitet ihn. Der Mann hat starke Nierenschmerzen. Die Assistenzärztin erscheint in der Koje und fragt, ob er Wasser lösen kann. Sie ordnet ein Röntgenbild an.
04.20 Eine Rettungssanitäterin bringt drei junge Leute, die im Ausgang waren. Ein Mann und eine Frau sind von einem Hund in den Oberarm gebissen worden. Die Pflegefachfrau führt sie in das «Nähstübchen» und stellt die ersten Fragen: «Welche Rasse war es, wo tut es weh?»
04.30 Anruf von der Rega. Sie landen in zwanzig Minuten und haben einen Patienten mit einem Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma. «Jetzt geht es los», sagt die Pflegefachfrau Rachel Leist. Sie startet eine Reihe von Anrufen. Zuerst informiert sie den Oberarzt, dann ruft sie den Anästhesisten und den Neurochirurgen an. Zuletzt gibt sie der Röntgenabteilung Bescheid.
04.45 Die jungen Leute mit den Hundebissen sind verarztet und können gehen. Der Mann hat drei grosse Pflaster, die fast seinen ganzen tätowierten Oberarm verdecken. Die Frau hat einen Abdruck am Arm, ist aber nicht richtig gebissen worden. Im Schockraum versammeln sich die Ärzte.
04.55 Rotorengeräusch kündigt den Helikopter an. Drei Minuten später schieben der Notarzt, der Rettungssanitäter und der Pilot einen Mann auf einer Bahre herein. Sein Kopf und sein Nacken sind durch einen Halskragen fixiert, aus seinem Mund ragt ein Schlauch. Der Mann hat die Augen geschlossen und ein leicht gerötetes Gesicht. Im Schockraum wird er aus dem roten Isolationssack geschält und der Kleidungsstücke entledigt. Unter den Oberkörper wird eine Röntgenplatte gelegt. Der Notarzt informiert die anwesenden Ärzte. Der Mann war bei einem Fest und hat einige Gläser Wein getrunken. Als er draussen pinkelte, verlor er das Gleichgewicht und fiel auf den Hinterkopf. Der Oberarzt gibt Anweisungen: «Röntgen und dann los auf die Plätze.»
05.10 Der Mann mit dem Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma wird in den Computertomographen geschoben. Der Notarzt schreibt im Gang den Bericht, dann fliegt die Rega-Mannschaft zurück zum Stützpunkt in Bern-Belp.
05.22 Die Rettungssanitäter bringen einen neuen Patienten. Wieder ist es ein älterer Mann mit Blasenproblemen. Unterdessen ist der Patient aus dem Computertomographen zurück. Die Ärzte können Entwarnung geben. Er hat sich beim Sturz nicht ernsthaft verletzt. Es sind keine Blutungen im Kopf sichtbar. Die Ärzte entfernen die Halskrause und verlassen nach und nach den Schockraum.
05.35 Die Urologin kommt zu dem älteren Mann, der Blut im Urin hat. Sie bringt einen Rollkoffer mit, der mit verschiedenen Schläuchen und Kathetern gefüllt ist. Sie beginnt einen Katheter zu legen, um die Harnblase zu spülen.
06.00 Die Anästhesistin und der Anästhesiepfleger sind die Einzigen, die noch im Schockraum beim Patienten sind. Sie haben ihm ein Aufwachmittel gespritzt. Jetzt warten sie, bis auf einer Abteilung ein Bett für ihn frei wird und sie ihn dorthin verlegen können. Aus dem Zimmer des Nierenpatienten dringen Schnarchgeräusche. Die Schmerzmittel, die er erhielt, scheinen zu wirken.
06.30 Die Putzfrau erscheint und nimmt den Boden im Schockraum nass auf. Die Urologin hat noch keine Zeit gehabt, nach dem Nierenpatienten zu sehen. Sie hat während der letzten Stunde eine Spülung nach der anderen durchgeführt, um das Blut im Urin des alten Mannes zu verdünnen. Bis jetzt ohne Erfolg. Sie bittet Pflegefachfrau Rachel Leist um mehr Spülflüssigkeit.
07.00 Tageslicht dringt in die Kojen. Die Pflegeassistentin Rosmarie Muhmenthaler zieht es nach Hause. «Heute wird ein schöner Tag.» Für sie und ihre Kollegin Rachel Leist ist die Schicht zu Ende. Zwei neue Pflegefachfrauen erscheinen. Assistenzärztin Andrea Schnell hat noch bis um neun Uhr früh Dienst.
Eine Durchschnittsnacht sei es gewesen, sagt sie. «Nicht hektisch, aber auch nicht langweilig. Alles kam schön nacheinander.»

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