«der arbeitsmarkt» 12/2014TEXT: Naomi JonesFOTO: zvg
Frauenarbeit

«Menschen sollten Lebensmodell und Beruf frei wählen dürfen»

Eine Managerin verdient pro Jahr rund 30 000 Franken weniger als ihr Kollege. In Branchen mit hohem Frauenanteil sind die Löhne generell tiefer als in Männerberufen. Brigitte Liebig, Expertin im Bereich der Geschlechter- und Gleichstellungsforschung, erklärt, warum die Lohnungerechtigkeit auch den Männern schadet.

Brigitte Liebig, weshalb verdient eine Coiffeuse weniger als ein Schreiner?
Frauen arbeiten oft im Sektor der personenbezogenen Dienstleistungen. Dazu gehören neben dem Coiffeurgewerbe viele Gesundheits- und Sozialberufe, wie etwa die Altenpflege oder Sozialarbeit. In diesen Branchen beträgt der Frauenanteil bis zu 75 Prozent. Je höher der Frauenanteil in einem Wirtschaftszweig ist, desto tiefer sind die Löhne. Das hat damit zu tun, dass helfende Tätigkeiten verglichen mit entwerfenden und gestaltenden – wie im Schreinerberuf – noch wenig Anerkennung geniessen.

Wie berechnen Arbeitgeber die Löhne ihrer Angestellten?
Sie berechnen die Löhne aufgrund von Qualifikation und Erfahrung. Angebot und Nachfrage nach spezifischen Qualifikationen spielen natürlich eine Rolle. Manchmal sind Lohnvereinbarungen Teil eines Gesamtarbeitsvertrags. Im Management aber ist der Lohn oft Verhandlungsgegenstand. Vor allem in den Führungsetagen, wo die Lohntransparenz gering ist, unterscheiden sich die Gehälter von Frauen und Männern bei gleicher Qualifikation stark. Ein Manager verdient im Jahr durchschnittlich 30 000 Franken mehr als eine Managerin. Je höher der Lohn ist, desto höher ist in der Regel die Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern. Eine Akademikerin erhält 20 000 Franken pro Jahr weniger als ihr Kollege, eine kaufmännische Angestellte 4000 Franken weniger.

Warum bestehen sogenannte Frauen- und Männerberufe?
Mit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert wurde die inner- und ausserhäusliche Arbeit getrennt. In der von Landwirtschaft geprägten Gesellschaft gab es noch einen gemeinsamen Familienhaushalt. Erst die Trennung von Haus und Arbeit führte dazu, dass die Menschen unbezahlte Hausarbeit gering bewerteten und den Tätigkeiten zunehmend einen sogenannt weiblichen oder männlichen Charakter zuschrieben. In der Fabrik galten repetitive und wenig anspruchsvolle Arbeiten als besser für Frauen geeignet. Männer erhielten anspruchsvollere Arbeit und damit auch mehr Lohn. Zudem hatten sie besseren Zugang zu Bildung, während Frauen neben Haushalt, Kindern und Lohnarbeit oft keine Zeit hatten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Frauen in der Schweiz zum Studium zugelassen. In Europa war das früh.

Die häuslichen Arbeiten gehörten also neu in die Domäne der Frau, die Tätigkeiten ausserhalb des Hauses waren dem Mann vorbehalten?
Die Hausfrau entstand während der Industrialisierung und war zunächst ein rein bürgerliches Lebensmodell. Nur in bessergestellten Kreisen konnte der Mann die Familie allein ernähren, während sich die Frau der Hausarbeit und Kindererziehung widmete. Die meisten Frauen waren im Haus und im Erwerbsleben tätig. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Hausfrau einen Boom. In der Zeit des Wirtschaftswunders konnten sich auch Frauen in kleinbürgerlichen Familien auf den Haushalt beschränken. Allerdings dauerte diese Hoch-Zeit der Hausfrau nicht lang an. Technische Innovationen wie die Mikrowelle oder die Verbreitung von Fastfood werteten die häuslichen Aufgaben schnell ab. Gleichzeitig erkämpften sich Frauen im Zuge der Emanzipation vollständig den Zugang zur Bildung.

Der Soziologe Pierre Bourdieu brachte die tiefe Besoldung von Frauentätigkeiten mit einer kulturell tief verwurzelten Geringschätzung von Weiblichkeit in Zusammenhang. Werden Frauen geringgeschätzt?
Ich zögere, dies pauschal zu bestätigen. Denn zum Beispiel ist die Wertschätzung der Mutter in unserer Gesellschaft ambivalent. Doch tatsächlich lässt sich die Geringschätzung von Frauen indirekt auch aus der geringen Besoldung von sorgenden und helfenden Tätigkeiten ableiten. Teilzeitarbeit wird generell geringer als Vollzeitarbeit entlöhnt. Auch dies betrifft mehrheitlich Frauen. Positionen im Hochlohnbereich sind Frauen oft nur schwer zugänglich. Berufsfelder, die Frauen heute häufiger als Männer wählen, bilden neue Hierarchien aus: Zum Beispiel schliessen jetzt mehr Frauen als Männer in der Medizin ein Studium ab – und dieses Feld hat ja ein hohes Prestige. Aber innerhalb der medizinischen Bereiche ist nun eine Lohn- und Statushierarchie entstanden, die mit dem Geschlecht in Verbindung zu stehen scheint. In der Urologie sind fast ausschliesslich Männer tätig, die vorwiegend Männer behandeln. Hier sind die Löhne am höchsten. Die Pädiatrie hingegen hat einen hohen Frauenanteil und behandelt Kinder. Dort finden Sie die tiefsten Medizinerlöhne.

Weshalb ist das so?
Darunter liegen tief verwurzelte Machtinteressen, wie Bourdieu aufzeigt. Diese Interessen sind uns sowohl als Frauen wie als Männern oft nicht bewusst. Das heisst, die Wertigkeit von Berufen scheint uns selbstverständlich. Wir hinterfragen sie nicht. Dadurch besitzen sie gesellschaftliche Legitimität. Letztlich stehen dahinter aber klare Machtansprüche. Hinzu kommen natürlich die kurzfristigen Interessen der Betriebe: Sie erwarten durch tiefere Löhne Ersparnisse, die sich aber mittel- und langfristig kaum auszahlen dürften.

Berufe können sich von reinen Männerberufen zu beinahe reinen Frauenberufen wandeln, wie dies bei den Lehrern oder Restauratoren geschehen ist. Was passiert mit den Löhnen, wenn der Frauenanteil steigt?
Die Löhne sinken. Oft geht die sogenannte Feminisierung von Berufen auch mit einem Prestigeverlust des Berufsfeldes einher. Mit dem Anstieg des Frauenanteils sind aber nicht nur Nachteile verbunden. Berufsrollen werden überdacht und der Beruf professionalisiert. Zudem verändern sich die Arbeitsformen. Das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf kommt auf. Unternehmen schaffen Teilzeitstellen.

Ist auch das Umgekehrte möglich?
Mit der Professionalisierung von Berufen, etwa in der Pflege oder in der frühkindlichen Erziehung, steigen die Löhne, und diese Arbeiten gewinnen für Männer an Attraktivität. Studien verweisen darauf, dass die Lohnhöhe für Männer bei der Berufswahl eine wichtige Rolle spielt.

Wie könnten Arbeitgeber junge Männer vermehrt in Frauenberufe locken?
Frauenberufe sind für junge Männer nicht sehr attraktiv, weil sie weniger Prestige und geringere Löhne aufweisen. Insbesondere Care-Arbeit, also die Pflege und Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Erwachsenen, hat in unserer Gesellschaft bisher einen sehr geringen Stellenwert. Dies, obwohl der Care-Bedarf infolge der wachsenden Zahl an älteren Menschen in unserer Gesellschaft steigt. Arbeitgeber erreichen heute noch nicht viele Männer, obwohl sich immer mehr für sorgende Tätigkeiten interessieren. Diese Männer lassen sich durch verbesserte Löhne und gute Arbeitsbedingungen ansprechen.

Wie liesse sich das Prestige von Frauenberufen denn ändern?
Wir müssen vermehrt eine Diskussion über den Wert von Sorgearbeit führen. Welchen Stellenwert haben fürsorgliche Aufgaben in unserer Gesellschaft? Wie wollen wir einmal unsere Kinder oder unsere Eltern versorgen? Und haben sorgende Tätigkeiten nur einen Stellenwert, wenn sie bezahlt sind? Damit müssen wir wieder über die unbezahlten Tätigkeiten in Haushalt und Familie nachdenken. In unserer Gesellschaft ist bezahlte Arbeit oberster Massstab für Wertschätzung und Anerkennung. Einige Autoren sprechen von einer totalen Arbeitsgesellschaft, welche die Sphäre des Privaten aushöhlt. Unter diesen Bedingungen haben weder junge Männer noch Mädchen wirklich eine Wahl, ob und in welcher Lebensphase sie einer bezahlten Tätigkeit nachgehen oder ob sie sich zum Beispiel für Kinder oder alt gewordene Eltern einsetzen wollen. Heute vereinnahmt der Beruf Frauen wie Männer, und wir organisieren unser ganzes Leben um diesen herum. Auch die Frauenpolitik der letzten Jahrzehnte hat vor allem auf die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt gezielt: Erwerbsbiografien von Frauen gleichen sich zunehmend denen der Männer an. Natürlich ist es schwierig, die Organisation von bezahlter und unbezahlter Arbeit grundlegend zu ändern. Aber wir müssen weiterdenken und uns fragen, ob wir eine derart vereinnahmende Arbeitsgesellschaft wollen. Auch Männer sollten sich das fragen.

Nachdem sich die Frauen von der männlichen Herrschaft emanzipiert haben, müssten sich nun die Männer vom Diktat des Berufs befreien?
So ungefähr. Das zentrale Stichwort ist die Wahlfreiheit. Wir müssen nicht Mädchen in Männerberufe zwängen und junge Männer in Frauenberufe. Sondern wir müssen Voraussetzungen schaffen, dass Menschen ihr Lebensmodell und ihren Beruf frei wählen dürfen. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir müssen klar sehen: Heute dominieren Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die viele Männer in ein Schema zwingen. So getrauen sich junge Männer nicht, einen Frauenberuf zu ergreifen, weil sie sich vor den Hänseleien der Schulkollegen fürchten müssen, und Männer, die sich als Väter engagieren wollen, stossen bei ihren Arbeitgebern immer noch auf wenig Verständnis. Frauen wie Männer können also von einem Nachdenken über den Wert von Arbeit nur gewinnen.

Brigitte Liebig, 55, ist Professorin an der Hochschule für Angewandte Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz und Präsidentin der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60). Im Auftrag des Bundes beleuchten hier 21 Projekte die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz unter verschiedenen Aspekten. Im September dieses Jahres präsentierten die Forscherinnen und Forscher die Resultate der grossangelegten Studie und formulierten Empfehlungen zur Gleichstellungspolitik und an die Wirtschaft.

 

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