«der arbeitsmarkt» 03/2007

Meister der Erfahrung

Er war Bauer und er war Direktor des Zürcher Arbeitsamts. Eines der vielen Engagements von Ruedi Winkler ist es heute, «undiplomierten Fähigkeiten» zu besserer Anerkennung zu verhelfen.

Es war noch wie ein Naturgesetz. Der Älteste übernimmt den Hof. Und weil sein Bruder gar sieben Jahre jünger ist, schien die Sache damals gelaufen. «Es war klar, ich puure und er macht etwas anderes», beginnt Ruedi Winkler seinen Rückblick. Er wurde diplomierter Landwirt und sein Bruder ging zur Post – bis dieser immer mehr mit dem Hof zu liebäugeln begann. Für beide jedoch war das Gut in Grüningen im Zürcher Oberland zu klein. «Wir überlegten uns schliesslich, wer die besseren Chancen habe, einen andern Weg einzuschlagen.» Und das war Ruedi, der in der Schule der Bessere gewesen war. Berufsbegleitend holte er sich die Matura und begann als 30-Jähriger an der Uni Zürich das Studium der Nationalökonomie. «Wie so oft im Leben war vieles aber auch Zufall, ebenso gut hätte ich in Kanada landen können.»

Als Mister Arbeitslosigkeit Erfahrungen weitergegeben

Nach dem Studium arbeitete Winkler für fünf Jahre bei der Zürcher Kantonalbank. Er wurde Prokurist im Bereich Volkswirtschaft und Marketing, bis er ins Arbeitsamt der Stadt Zürich wechselte, wo er 17 Jahre blieb, erst als Abteilungsleiter, danach acht Jahre als dessen Direktor. Es war die Zeit der ersten grossen Arbeitslosenschübe und das Kürzel RAV war noch kein allgegenwärtiger Begriff, geschweige denn eine Institution. «Ich leitete damals im Arbeitsamt die Abteilung Beratung und Vermittlung, die sprunghaft anwuchs. Bis 700 Arbeitslose kamen jeden Monat hinzu. Die Stadt Zürich spürte die neue Arbeitsmarktlage in der Deutschschweiz zuerst, wir hatten 1993 schon ähnlich dramatische Zahlen wie die Welschen. Im Rest des Kantons und in den umliegenden Kantonen war der Druck noch weit weniger zu spüren.» Erst die Gesetzesvorlagen von 1994 gaben die Möglichkeit, eigentliche Regionale Arbeitsvermittlungszentren aufzubauen. Mit dem wesentlichen Vorteil, dass jetzt Geld vom Bund zu fliessen begann, während vorher die Stadt bezahlen musste. «Zusammen mit den Aargauern», erinnert sich Winkler, «waren wir die Ersten, die RAV eröffnen konnten, hatten doch unsere städtischen Arbeitsämter zuletzt fast schon wie solche funktioniert.»
Winkler war von 1988 bis 1994 Präsident der SP des Kantons Zürich und von 1987 bis 1999 sass er im Kantonsrat. Als Mister Arbeitslosigkeit war er für viele der erfahrene Kenner der neuen schweizerischen Problematik. Im Kantonsparlament legte er sich vor allem ins Zeug für die Themen Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung und Energie. Früh war er auch auf nationaler Ebene gefragt, etwa in der Geschäftsleitung des Verbandes der Schweizerischen Arbeitsämter. Ruedi Winkler, Personal- und Organisationsentwicklung – so steht es heute an der Fensterfront seines grossen Büros in Zürich-Albisrieden. Der 65-Jährige ist seit 2001 selbständiger Berater, ein Spätberufener sozusagen. Es scheint, als habe Winkler vergessen, dass er im Pensionsalter steht. «Diese Zahl beeindruckt mich wenig, Bauern arbeiten auch bis 85», sagt er schlagfertig. Projekte hier, Evaluationen dort, und da sind auch einige Präsidentschaften, die Winkler auf Trab halten, etwa beim Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH) oder im Verein Valida. Dieser will ein schweizerisches System zur Anerkennung und Validierung nicht formell erworbener Fähigkeiten schaffen und fördern, so heisst es in den Statuten, und auf diesem Gebiet für die Qualitätssicherung sorgen. Der Verein arbeitet mit den Sozialpartnern, den Berufsverbänden und weiteren, auch internationalen Institutionen zusammen. Der Erfahrung einen Wert verleihen, so heisst das Grundmotiv von Valida.

Die Romandie gibt bei der Validierung den Ton an

Rund 70 Prozent seiner Fähigkeiten und Kompetenzen erwirbt der moderne Mensch beim Arbeiten, in der Familie, bei Hobbys und Nebenbeschäftigungen. Nur etwa 30 Prozent holt er sich aus Schule, Studium, Kursen und offiziellen Weiterbildungen. «Während es jedoch für die 30 Prozent jede Menge Ausweise, Diplome und Atteste gibt», holt Winkler aus, «existiert für die andern 70 Prozent noch fast nichts Entsprechendes.» Diese Tatsache passe überhaupt nicht in die heutige Zeit und in die neue Philosophie des lebenslangen Lernens. «Noch immer ist es so, dass eher einen Job findet, wer studiert hat und wenig versteht, als jemand, der viel versteht, aber keinen Abschluss hat. Die Valida-Idee kam mir natürlich im Umgang mit den Erwerbslosen. Dort sehen Sie wirklich viele Leute, die relativ viel können, aber ständig Probleme haben, wenn sie sich bewerben, weil sie nichts vorlegen können.» Was kann jemand wirklich? Sogar Kaderleute, so Winklers Erfahrung, wissen oft nicht, was sie beherrschen. Von den eigenen Kompetenzen hat man oft wilde Vorstellungen, völlig irrationale, Selbst- und Fremdbild klaffen auseinander. «Grundsätzlich können die Leute eigentlich viel mehr, als sie selber wissen, sie stellen aber das Falsche in den Vordergrund», so Winkler. Für viele Menschen wird es zu einem ewigen Handicap, dass sie nach einer Stelle suchen, die sie gar nicht ausfüllen können, statt dass sie das Gebiet zu finden lernen, wo ihre Stärken zum Tragen kommen können.
«Ich habe dann entdeckt», treibt Winkler seine Erkenntnisse vorwärts, «dass die Welschen viel weiter sind und mit ihren Kompentenzzentren – den centres de bilan – viel systematischer erfassen, was jemand kann, was er gemacht und dabei gelernt hat. Die Republik Genf», lacht er, «ist da besonders stark, sie schert sich wenig darum, wenn der Bund etwas noch nicht will. Sie erfindet einfach eine lokale Lösung – oft stark inspiriert von Frankreich.» Für etwa siebzig Berufe kann man in Genf einen kantonalen Fähigkeitsausweis erwerben, allein auf Grund der nicht formell erworbenen Kompetenzen.
Als Weg zur Anerkennung persönlicher Kompetenzen schlägt das System Valida drei Stufen vor:

1 Persönliche Anerkennung
Selbstevaluation
Die persönliche Anerkennung ist der Prozess, durch den eine Person ihre nicht
formell erworbenen Kompetenzen selber erfasst und sich ihrer bewusst wird. Es führt zu einem besseren Bild von sich selbst – ein wesentlicher Schritt für die Wahl des richtigen Jobs.

2 Institutionelle Anerkennung
Fremdevalutation
In diesem Prozessschritt werden einer Person durch eine öffentliche Instanz genau bestimmte Kompetenzen offiziell bestätigt. Dieser Nachweis kann erbracht werden durch Arbeitsämter, Berufsbildungsämter, Berufsberatungen oder Berufsverbände. Lücken werden sichtbar gemacht.

3 Validierung
Amtliche Beglaubigung, Zertifizierung
Die Validierung nicht formell erworbener Kompetenzen unterliegt staatlich anerkannten Behörden und Instanzen. Diese können sowohl den Erhalt eines vollen oder eines Teildiploms beschliessen. In letzterem Fall werden die Betreffenden möglicherweise motiviert, fehlende Kompetenzen auf formellem Weg zu erwerben.

Stark Dampf für die Validierungsidee macht die EU – zur Freude von Valida. «Man redet vor allem von Bachelor und Master», schält Winkler heraus, «dabei hat die von 31 Ländern unterzeichnete Kopenhagener Erklärung in der Berufsbildung genauso ehrgeizige Ziele wie bei den Hochschulabschlüssen, unter anderem eben gerade diese Anerkennung nicht formeller Lernleistungen.» Die Schweiz muss nachziehen, um europa-kompatibel zu bleiben. Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) hat
Ende letzten Jahres einen «Nationalen Leitfaden für die Validierung von Bildungsleistungen» in die Vernehmlassung geschickt. Er ist unter www.validacquis.ch abrufbar. Der Zug kommt langsam ins Rollen – und fährt hinein in das typisch schweizerische
föderalistische System.

Komplexität könnte das Modell gefährden

Der Bund hat zwar ja gesagt zur Validierung, umsetzen aber müssen sie die Kantone. Letztlich entscheidend sind dabei auch die kantonalen Berufsverbände von KV bis Metallarbeiterverband. Und bei denen herrscht nicht nur Begeisterung darüber, dass sie
einen neuen Weg öffnen sollen neben dem traditionellen, der über die formelle Ausbildung und Prüfungen führt. «Die Bildungsstätten haben natürlich eine gewisse Angst – nach meinem Dafürhalten unbegründet –, sie würden Auszubildende verlieren und man wolle den Weg frei machen, um auf
billigem Weg zu Ausweisen und Diplomen zu kommen. Neues verunsichert halt. Grundsätzlich aber machen die Verbände mit.» Es geht nun darum, für möglichst viele Abschlüsse das Kompetenzprofil zu erarbeiten, damit Diplome oder Teildiplome auch über die Validierung der nicht formell erworbenen Kompetenzen erreichbar werden. Wie nach Rom können viele Wege dorthin führen.
Der heikle Punkt sei natürlich, meint Winkler, dass jetzt viele gescheite Leute an der Sache herumschrauben und alles derart komplex werden könnte, dass dieser alternative Weg statt zum Anreiz zur Abschreckung werde. Fortgeschritten ist die Validierung im Gesundheitswesen. Im Kanton Zürich ist zum Beispiel der Ausweis Fachangestellte Gesundheit (FaGe) so konzipiert worden, dass praxiserprobte Interessentinnen und Interessenten ihre Fähigkeiten nachweisen und Fehlendes nachholen können und auf dem Weg der Validierung zum Berufszeugnis kommen. An diesem Beispiel lässt sich aufzeigen, wie ein Anerkennungsverfahren auch in andern Berufssparten ablaufen könnte. (Siehe Kasten.) Auch wenn der letzte Schritt, die Zertifizierung, oft noch nicht gemacht werden kann, lohne es sich, nachzufragen, welche Berufsberatungen die Kompetenzenbilanzierung anbieten. Oft ist sie auch bei privaten Anbietern zu haben. Die Berufsberatung des Kantons Zürich führt seit 2006 offiziell ein «Zentrum für Kompetenzenbilanz».

Aus Erfahrungen Älterer und Jüngerer Synergien schaffen

Jetzt, wo die Validierung «Staatsaffäre» geworden ist, hat Winkler mehr Zeit für sein anderes Thema. Der demografische Wandel, das heisst die Tatsache, dass der Anteil der Menschen über 45 zunimmt, zwingt Unternehmen, den veränderten Bedürfnissen auch in ihrer Belegschaft Rechnung zu tragen. Sowohl Grünschnäbel als auch Oldies haben ihr eigenes Potenzial, mit dem man clever haushalten sollte. Eine generationengerechte Betriebskultur müsse geschaffen werden, findet Winkler. «So wird es bei der Personalrekrutierung künftig immer mehr auch darum gehen, die Stärken der Jünge-ren mit jenen der Älteren bestmöglich zu kombinieren, damit optimal durchmischte Arbeitsteams entstehen.» Es liege in der Hand der Firmenführung, auf den Synergien zwischen Jungen und Älteren aufzubauen. Tut sie es nicht, gefährdet sie das Unternehmen.
Links: www.valida.ch, www.validacquis.ch
www.berufsberatung.zh.ch, www.ruediwinkler.ch

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