«der arbeitsmarkt» 05/2010

Lebenswerk und dritte Säule

Roland Gretler und sein Panoptikum zur Sozialgeschichte sind eine Institution, wie es sie kein zweites Mal gibt. In seinem Archiv im Dachgeschoss des Kanzleischulhauses in der Zürcher Innenstadt stapeln sich Fotos, Dokumente, Bücher, Flugblätter und Plakate bis unter die Decke.

«Wichtiger als die eigenen Bilder sind die aus der Geschichte. Es geht darum, all die bereits existierenden Fotos neu anzuschauen, überhaupt anzuschauen, und Einfluss auf deren Verwendung zu nehmen.» Roland Gretler, von Haus aus Fotograf, macht seit rund zwanzig Jahren keine eigenen Bilder mehr. Es sei eben eine Art Bilderstreik, in den er getreten sei, sagt er. Die digitale Entwicklung hat er ganz an sich vorbeiziehen lassen, den Umgang mit dem Computer überlässt er seiner Frau Anne. Viel lieber freut er sich an der dreissigjährigen IBM-Kugelkopfschreibmaschine, die er unlängst in der kantonalen Materialverwaltung gefunden hat. Roland Gretler ist Inhaber, Gründer und Erfinder des Panoptikums zur Sozialgeschichte, einer seit über dreissig Jahren bestehenden einzigartigen Sammlung zur Schweizer Arbeitergeschichte. In dieser Zeit hat Roland Gretler Abertausende von Fotos, Dokumenten, Flugblättern, Büchern und Plakaten angehäuft. Untergebracht ist das Panoptikum im Dachgeschoss des Kanzleischulhauses im Zürcher Kreis 4. Und passender könnte der Standort kaum sein, war das Quartier Aussersihl doch bis zur Jahrtausendwende stark geprägt von der Kultur der Arbeiter, vor allem der südländischen Immigranten und Gastarbeiter. 

Früh schon war bei Roland Gretler das Interesse an der Arbeitergeschichte da. Er habe einen Onkel gehabt, der bei Saurer gearbeitet habe und der ihm sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben sei. Ein richtiger Büezer sei das gewesen, erzählt er. «Weil er sehr früh gestorben ist, wollte ich mehr über sein Leben erfahren und begann zu recherchieren.» Und so setzte er sich zum ersten Mal mit dem Thema auseinander und schrieb mit «August W. - ein Arbeiterleben» einen Artikel für die linke Zeitschrift «Agitation». Die Geschichte war in ihrer Art damals neu und ungewohnt, und das Aufsehen, das er damit erregte, führte Gretler mit einigen wichtigen Exponenten der linken Kulturszene zusammen: dem Journalisten Niklaus Meienberg etwa oder Alexander J. Seiler, der in der Folge einen Dokumentarfilm über den Alltag der Arbeiterschaft in der Schweiz drehte. Doch daran, dass er dereinst ein ganz spezielles Archiv führen würde, das Panoptikum eben, verschwendete Gretler Anfang der Siebzigerjahre noch keinen Gedanken.

 

Die politische Aktion als Gesamtkunstwerk

Gretlers Interesse an der Arbeiterbewegung war immer ein kritisches. Er habe nie etwas romantisiert, wie das viele sogenannte neue Linke der 68er-Bewegung getan hätten. «Die Arbeiterbewegung durch die historische Brille betrachtet, reichte mir nicht.» Im Fokus seines Interesses stand immer auch das Hier und Jetzt, «die Lebensbedingungen der real existierenden Arbeiterbewegung», wie es Gretler beschreibt. Das seien in den Sechziger- und Siebzigerjahren die italienischen Gastarbeiter gewesen. Als er realisierte, dass es kaum Bilder dazu gab, begann er zu sammeln. Zunächst waren es Arbeiter aus seinem Bekanntenkreis, die ihm Material überliessen. Und gerade diese Bilder spielten und spielen noch heute eine wichtige Rolle in Gretlers Sammlung, weil sie den Alltag der Arbeiterschaft zeigen - das Leben ausserhalb der Streiks und Kundgebungen. Denn in der landläufigen Geschichte wurden die Arbeiter bisher nur wahrgenommen, wenn sie unruhig waren. Gretlers Sammlung ist auch ein Stück Alltagsgeschichte. 

Ausgehend von diesen ersten Bildern begann die Sammlung zu wachsen. In seiner politisch aktiven Zeit bei der PdA zwischen 1964 und 1969 und den damit verbundenen Bekanntschaften erschlossen sich Gretler neue Quellen. Es sprach sich herum, dass er ein dankbarer Abnehmer für allerlei Materialien rund um die Arbeitergeschichte war, und schliesslich hatte er auch das Privileg, das Vermächtnis des 1929 gegründeten Schweizerischen Arbeiterfotobundes zu übernehmen. 

Zu seinen liebsten Erinnerungsstücken aus dieser politisch aktiven Zeit gehört ein Flugblatt, das er damals produzierte. Es zeigt das Antlitz der Rocklegende Jimi Hendrix, und ein kreisrundes Amulett um seinen Hals trägt die Aufschrift «Rebellion ist berechtigt». Dieser Satz könnte linker nicht sein, stammt er doch von Mao Zedong, dem berüchtigten chinesischen Kulturrevolutionär. Doch Gretler hat dazu Distanz gewonnen, auch wenn in seiner Brust noch immer das Herz des 68ers und Linken schlägt. Vom Kommunismus ist er enttäuscht: Er sei etwas für den Kopf, für die Fantasie und die Träume, und gehöre zu den Paradiesbildern. Die Realisierung im Hier und Jetzt habe immer zu Katastrophen geführt, weil die Lösung der Gewaltfrage im Wege stand. 

Seine Aktivitäten beschränkten sich jedoch nicht nur auf das Gestalten origineller Flugblätter. Mehrere Aktionen, etwa eine Kundgebung mit Strassentheater gegen den Vietnamkrieg, konzipierte er nicht nur, er nahm auch aktiv daran teil und dokumentierte sie schliesslich als Fotograf. Die Aktion als Gesamtkunstwerk sozusagen.

Es waren für Gretler spezielle und bewegte Jahre, weil er sich lange Zeit zwischen zwei Welten bewegte, die so gar nicht zusammenpassen wollten - und das auch heute nicht tun. Denn er war eigentlich Werbefotograf, und noch dazu einer mit beeindruckenden Referenzen, arbeitete er doch unter anderem als Assistent beim Industrie- und Werbefotografen René Groebli und als Atelierchef beim Werber Rudolf Farner, wobei er gerade mit Letzterem das politische Heu nicht auf der gleichen Bühne hatte. So kam es, dass er sich immer wieder mit einem Bein im Erwerbsleben, mit dem anderen in der politischen Heimat fand. «Nicht selten habe ich am Morgen Werbefotos gemacht und bin dann am Nachmittag desselben Tages gegen den Kapitalismus auf die Strasse gegangen», erzählt er, lächelt spitzbübisch und zieht einen Augenblick später ein paar A4-Seiten aus einem Stapel. Es sind Fichen mit Aufzeichnungen aus den Sechzigerjahren, die belegen, dass Gretler - wie viele andere Linke und Gewerkschafter auch - durch den Staat observiert wurde und allein durch seine politische Aktivität offensichtlich den Tatbestand erfüllte, ein subversives Element der Gesellschaft zu sein.

 

140 Schubladen voller Geschichten

Mit dem Rückzug aus der Werbefotografie folgte auch ein wirtschaftlicher Karriereknick, den die Gretlers mit dem beruflichen Wiedereinstieg von Anne Gretler beim Sekretariat der Gewerkschaft VPOD auffingen - was auch dem Geschlechterrollenverständnis des Ehepaars entsprach. Streben nach Reichtum sei sein Ding nie gewesen, sagt Gretler. Doch mit dem Entscheid, ein Bildarchiv zur Geschichte der Arbeiterbewegung aufzubauen, waren auch die ökonomischen Weichen entsprechend gestellt. Der Lohn
dafür war das Glück, das tun zu können, as ihm am meisten Freude bereitete und wo er seine vielschichtigen Kenntnisse und Interessen aus Geschichte und Fotografie verbinden konnte. 

Als seine idealtypischen «Kunden» stellte er sich zunächst die Organisationen der Arbeiter, allen voran die Gewerkschaften, vor. Die wichtigsten Benützer seiner Dienstleistungen seien aber bald Historiker, Journalisten, Filmer, das Fernsehen, Ausstellungsmacher, Lehrmittelverlage gewesen. Mit der Zeit sei auch Interesse von neuen, jungen Wissenschaften wie der Kulturanthropologie oder der Alltagsethnologie aufgekommen. Ihnen allen stellt Gretler heute noch Bilder und Dokumente zur Verfügung, die es sonst nirgends gibt, und verlangt dafür ein Honorar.

Bei der städtischen Materialverwaltung von Zürich kam Roland Gretler zu den ersten Archivschränken, von denen sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Dutzende dazugesellt haben. «Inzwischen sind es etwa 140 Schubladen», sagt er. Roland Gretler sammelt nicht einzelne Momentaufnahmen, er sammelt Geschichte und Geschichten. Und jede einzelne dieser 140 Schubladen steckt voll kleiner Geschichten. Da überrascht es auch nicht, dass er nichts von der Binsenwahrheit hält, ein Bild spreche jeweils für sich. «Eben nicht», sagt er. «Es sind das Bild und sein Kontext, die die ganze Geschichte erzählen.»

Gegen Ende der Siebzigerjahre institutionalisierte sich Gretlers Sammlung ein erstes Mal dahingehend, dass sie einen Namen bekam: «Bildarchiv und Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung». Erst später wurde daraus das heutige «Panoptikum». Nicht ohne Stolz zieht er ein Blatt Briefpapier hervor, das erste seines Unternehmens. Dass Gretler und seine Sammlung schon damals ein Begriff waren, zeigen auch die als Referenzen aufgeführten Namen in der Fusszeile des Briefpapiers: Die Namen der Schriftsteller Peter Bichsel und Otto F. Walter stehen ebenso dort wie jene des damaligen Bundesrates Willi Ritschard oder der Gewerkschaftsvertreterin und späteren Bundesrätin Ruth Dreifuss.

 

Vietnamkrieg, Judenverfolgung, Minderheiten

Sein ungeheurer Wissensdurst und die Eigenschaft, die Welt in Zusammenhängen zu sehen, zwangen Roland Gretler zur Erkenntnis, dass der Zugang zur Geschichte nicht nur über die Geschichte der Arbeiterbewegung führte. Andere Themen weckten seine Neugier. Er setzte sich mit dem Vietnamkrieg auseinander. Zielsicher steuert er in seinem Archiv auf einen Stapel zu und zeigt stolz die Front einer vietnamesischen Zeitung aus dem Jahr 1969, die mit dem Abschuss des dreitausendsten amerikanischen Flugzeugs titelt. «Ich habe mir damals diese Zeitung auf verschlungenen Wegen schicken lassen», sagt er. «Die konnte man nicht einfach am Kiosk kaufen.» Und wieder dieses spitzbübische Lächeln. Gretler kommt gerne vom Hundertsten ins Tausendste, wenn er erzählt, springt vom Vietnamkrieg zum
Holocaust und zur Judenverfolgung und zeigt auf eine Wand, an der das Porträt eines siebenjährigen Knaben hängt, der zusammen mit seiner Mutter als Überlebender aus dem KZ kam und den er damals, 1944, als Mitschüler kennen gelernt hat. Minderheiten und ihre Geschichten haben es ihm angetan. Und schon verlässt er die Zeit des Zweiten Weltkriegs wieder, geht noch einmal ein Jahrhundert zurück und zieht zwischen zwei Schränken ein gerahmtes Flugblatt aus dem 19. Jahrhundert hervor. Das «Bundesgesetz die Heimatlosigkeit betreffend» ist ein Aufruf an die Sans-Papiers von damals, sich in ihren Aufenthaltsgemeinden als Bürger registrieren zu lassen. 

Und immer wieder ist der 1. Mai und seine Geschichte Thema in Roland Gretlers Sammlung. Eigentlich hat er immer von einem Museum zur Zeitgeschichte des Tags der Arbeit geträumt, «um die Idee des 1. Mai als Emanzipationsbewegung zu bewahren», wie er sagt. Durch die Fülle der Themen sah er immer mehr soziale und politische Zusammenhänge, lief bisweilen aber auch Gefahr, sich zu weit vom «roten Faden», der Geschichte der Emanzipation - sprich Befreiung - der Benachteiligten und Unterdrückten, zu entfernen. «Leider kam es immer wieder vor, dass ich ausgeliehene Objekte nie mehr zurückerhielt», so Gretler. Und als hätte er das vorbereitet, kommt ihm eine Dokumentenmappe in die Finger, in der eine Notiz über ein noch ausstehendes Bild vermerkt ist. Die Notiz stammt aus dem Jahr 1984. Auch das eine kleine Geschichte inmitten vieler Geschichten in seiner Sammlung, und schon nimmt er diesen neuen Faden auf und beginnt ihn weiterzuspinnen, als ihn seine Frau daran erinnert, worauf er eigentlich hinauswollte. Man bekommt unweigerlich den Eindruck, dass sie das ordnende Prinzip ist hinter der Sammelwut ihres Mannes. Doch sie helfe nur dann und wann aus und kümmere sich um die Buchhaltung, sagt sie, das Archiv sei seine Sache. Als eigentliches Archiv wolle er sein Panoptikum allerdings nicht verstanden wissen, wirft er ein. Es gebe ja nicht einmal einen Katalog. Seine Frau lacht. «Der Katalog ist er selbst.»

 

Leidenschaft, aber auch Wertanlage und Altersvorsorge

Worauf er eigentlich hinauswollte: Es gelte, langsam ans Aufhören zu denken. So gewissenhaft, wie Gretler sein Panoptikum in den letzten über dreissig Jahren gehegt, gepflegt und mit Objekten gefüttert hat, so gewissenhaft bereitet er sich nun darauf vor, von seiner Sammlung Abschied zu nehmen und sie in guten Händen zu wissen. In guten Händen heisst für ihn: Die Sammlung soll Interessierten offenstehen und benützt werden, sie soll nicht die Leidenschaft eines Sammlers befriedigen und in einem Keller verschwinden. Interessenten gebe es einige, darunter namhafte Institutionen wie das Schweizerische Landesmuseum oder das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich. Hier wie dort sähe Gretler die Zukunft seines Panoptikums gerne. Die Sammlung ist aber nicht nur Leidenschaft, sie ist auch Wertanlage und Altersvorsorge. Denn über die Jahre hat Gretler viel Geld in die kleinen und grossen Schätze investiert. Und da sind noch viele Laufmeter Illustrierte aus dem 19. Jahrhundert, die er noch nicht erschlossen hat und deren Wert sich auf viele zehntausend Franken bemisst, Fotografien namhafter Künstler wie Tina Modotti, Robert Capa, Helmar Lerski, Gerda Taro und Lewis W. Hine, dazu einmalige Bücher und grafische Blätter, unter anderem von Käthe Kollwitz. «Das Panoptikum ist meine dritte Säule», sagt Roland Gretler. Und lächelt wieder dieses spitzbübische Lächeln. 

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