«der arbeitsmarkt» 10/2005

Kinder und Beruf – Gemeinden müssen handeln

In der Schweiz fehlen 50000 Plätze in Krippen oder bei Tagesfamilien. Was ist dagegen zu tun? Jetzt sind die Gemeinden gefordert, sagt Nationalrätin Jacqueline Fehr im Interview mit dem «arbeitsmarkt».

«der arbeitsmarkt»: Befasst man sich mit Kinderbetreuung auf politischer Ebene, stösst man unweigerlich auf den Namen Jacqueline Fehr. Was ist Ihre persönliche Motivation für Ihr langjähriges Engagement in der Familienpolitik?

Jacqueline Fehr: Ich habe mich seit Beginn meiner politischen Karriere mit Gleichstellungs- und Sozialfragen auseinander gesetzt. Zudem war ich beruflich lange als Lehrerin in einem Stadtteil Zürichs tätig, der einen sehr hohen Anteil an ausländischer Wohnbevölkerung hat. Auch stellte sich in meinem Privatleben eines Tages die Kinderfrage und damit verbunden die Frage nach meiner beruflichen Zukunft. Ich habe also politisch, beruflich und privat erlebt, wie wichtig eine gute Familienpolitik für unser Land ist. Dabei gilt es zwei Hauptstränge zu beachten: einerseits die finanzielle Situation der schweizerischen Familien, die sich im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung verschlechtert. Andererseits ist es die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf, welche enorme Auswirkungen hat.

In der Schweiz fehlen 50000 Plätze in Krippen oder bei Tagesfamilien. Das sind die Resultate einer im Sommer veröffentlichten Nationalfondsstudie. Braucht es weiterführende Forschung im Bereich Kinderbetreuung?

J.F.: Ja, es braucht Folgestudien zur Verfeinerung der Bedarfsabklärungen und zur Frage der pädagogischen Bedeutung von familienergänzender Betreuung. Ebenso besteht bei der Integration, Sozialisation und in der Angebotsgestaltung Bedarf. Allerdings müssen wir uns auch bewusst sein, dass sich die schweizerische Politik von Forschungsergebnissen nicht sehr beeindrucken lässt.

Heisst das, dass das Thema bald wieder ad acta gelegt wird?
J.F.: Nein. Unsere Gesellschaft kann ihm nicht mehr ausweichen, das ist klar. Im Moment klemmt es bei den Gemeinden. Die müssen das nun als ihre neue Aufgabe wahrnehmen, so wie sie vor 150 Jahren den Aufbau der Volksschule oder vor 50 Jahren der Altersheime vorangetrieben haben. Heute stehen die familienergänzenden Betreuungsangebote an.

Wie soll das umgesetzt werden?
J.F.: Gefordert sind die politischen Parteien. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter in den Gemeinden für die entsprechenden Projekte grünes Licht geben. Die SP wird deshalb ihren Mitglieder in den Gemeindebehörden und Sektionen Weiterbildungen anbieten. Dadurch soll die Umsetzung beschleunigt werden. Es ist zu hoffen, dass sich die anderen Parteien im gleichen Stil engagieren werden.

Die Gemeinden müssen aktiver werden. Wie soll das in der Praxis aussehen?
J.F.: Die Erfahrung zeigt, dass es in erster Linie darum geht, Wissenslücken aufzufüllen. Häufig wissen die Gemeinden nicht genau, was ein familienergänzendes Betreuungsangebot ist, welche Betreuungsmöglichkeiten es gibt oder wie man Bedarfsabklärungen macht. Sie haben Probleme, die gewonnenen Zahlen richtig zu interpretieren. Diese Lücken müssen wir füllen, den Erfahrungsaustausch fördern. Wir müssen schauen, dass nicht jede Gemeinde das Rad neu erfindet. Die Erfahrungen sind schon vorhanden. Die Kantone haben koordinierende Aufgaben im Bereich Kinder- und Jugendschutz.

Der Bund hatte bis anhin keine Aufgaben im Bereich familienergänzende Betreuung.

J.F.: Mit der Anstossfinanzierung übernimmt er jedoch die Funktion eines Impulsgebers. Dafür wurden 200 Millionen Schweizer Franken bewilligt. Bis jetzt wurde erst ein Teil der gesprochenen Gelder beansprucht.

Wo liegen die Schwächen des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für familien-ergänzende Kinderbetreuung?
J.F.: Die Anstossfinanzierung kann nur subsidiär helfen. Das heisst, Bundesgelder fliessen nur dort, wo ein Projekt breit abgestützt ist und man davon ausgehen kann, dass es auch längerfristig überlebt. All jene, die erwartet haben, dass die Anstossfinanzierung alle Probleme lösen wird, sind möglicherweise enttäuscht. Umgekehrt dürfen wir doch feststellen, dass dank der Anstossfinanzierung bald einmal 10000 neue Krippenplätze entstanden sind.

Das Gesetz zur Anstossfinanzierung ist auf acht Jahre befristet. An der Kompetenzordnung hat man nichts geändert.
J.F.: Was nach 2010 geschieht, ist offen. Eine Prognose, wie es nach dem Ende der Anstossfinanzierung weitergehen wird, wage ich nicht zu stellen.

Es gibt die Familienpolitik, Sozialpolitik, Integrationspolitik. Irgendwo dazwischen liegt die Kinderbetreuung.
J.F.: Es fehlt vor allem an der Koordination. Dieser Mangel betrifft sowohl die staatliche Seite als auch die Seite der nichtstaatlichen Organisationen. Die Zeit ist auch reif für ein Bundesamt für Kinder, Jugendliche und Familien. Ich habe mich so lange geweigert, ein solches Bundesamt zu fordern, als keine konkreten Inhalte vorhanden waren. Das hat sich nun aber geändert.

Welche Auswirkungen hat der Mangel n Koordination?
J.F.: Das führt zu perversen Effekten. Weil die einkommensabhängigen Tarifsysteme nicht aufeinander abgestimmt sind, erhält eine Mutter, die mehr arbeitet, plötzlich keine Subventionierung mehr. Dadurch muss sie mehr für die Kinderbetreuung ausgeben, hat aber gleichzeitig weniger Geld zur Verfügung, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Von perversen Effekten sprechen wir dann, wenn eine Mutter, die ihr
Arbeitspensum erhöht, unter dem Strich weniger Geld hat als vorher, wo sie weniger arbeitete.

Steuererleichterungen zur Entlastung der Familien sind immer wieder Anlass für politische Diskussionen.
J.F.: Steuererleichterungen sind immer zwiespältig. Tendenziell zeigt sich, dass Steuersenkungen die einkommensstarken Familien überproportional bevorteilen. Die mittleren und unteren Einkommen schneiden eher schlecht ab. Eine Steuererleichterung hat den Effekt, dass der Staat weniger Einnahmen hat und deshalb Leistungen abbauen muss. Damit müssen vor allem Familien mehr Leistungen direkt finanzieren. Die bisherige Praxis der Steuerpolitik ist daher für die Familien ein Verlustgeschäft und somit ein Etikettenschwindel. Die Einführung von so genannten Gutschriften zu einem fixen Beitrag wäre aber eine Möglichkeit, um Familien zu entlasten.

Integration beginnt im Kindesalter. Sind spezielle Massnahmen zur Integration ausländischer Kinder geplant?
J.F.: Sehr viele ausländische Familien verfügen nicht über ein hohes Einkommen. Sie sind – wie viele Schweizer Familien auch – auf subventionierte Plätze angewiesen. Die Gemeinden müssen erkennen, dass es sinnvoller ist, in familienergänzende Betreuung zu investieren, als später spezielle Angebote für fremdsprachige Kinder zu finanzieren.

Wird das Betreuungspersonal in diesem Zusammenhang speziell geschult?
J.F.: Interkulturelle Kompetenz ist gefragt und muss bei der Ausbildung berücksichtigt werden. Besonders bei der Betreuung im Vorschulalter ist dies wichtig. Vielfach kommen ausländische Familien dann zum ersten Mal mit dieser Institution in Kontakt. Das führt zu einem Kulturtransfer und einer Öffnung der Familie. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Integration. Die Chancen für die weitere schulische und berufliche Laufbahn der Kinder werden dadurch verbessert.

Qualitätssicherung beginnt bei der Ausbildung des Personals. Sind diesbezüglich Massnahmen vorgesehen?
J.F.: Ja. Im neuen Berufsbildungsgesetz werden die Anforderungen für den Beruf der Kleinkindererzieherin auf eidgenössischer Ebene festgelegt. Bis vor kurzem war der Beruf der Kleinkindererzieherin nicht klar geregelt. Je nach Ausbildungsort waren andere Anforderungen zu erfüllen.
Arbeitnehmer fordern zunehmend ein Engagement der Unternehmen im Bereich Kinderbetreuung. Sollen Unternehmen in diesem Zusammenhang unterstützt werden?
J.F.: Eine direkte staatliche Unterstützung der Unternehmen kann ich mir nicht vorstellen. Hingegen kann ich mir sehr gut vorstellen, dass der Bund oder die Kantone eine Moderationsrolle übernehmen. Sie können Wissen zur Verfügung stellen und als Drehscheibe funktionieren.

Wie könnte diese Moderationsrolle aussehen?
J.F.: Einerseits, indem der Bund alle relevanten Akteure an einen Tisch einlädt und mit ihnen eine Strategie für den Ausbau der familienergänzenden Betreuung festlegt.
Er könnte aber auch Dienstleistungen in Form von Beratung unterstützen. Es gibt beispielsweise den «Familienservice». Das ist eine private Dienstleistungsfirma, die Unternehmen berät. Die Firma baut auch Kinderkrippen in Unternehmen auf und führt als Geschäftsstelle verschiedene Arbeitgeberkrippen. Einer solchen Firma könnte der Bund beispielsweise den Auftrag geben, neue Betreuungs- oder Finanzierungsmodelle
zu entwickeln.

In der Schweiz gibt es drei Betreuungsmodelle: Kinderkrippen, schulergänzende Betreuungsangebote und Tagesfamilien. Andere Länder sind weiter.
J.F.: Ja, das stimmt. Wir haben zwei Lücken. Einerseits ist eine Angebotslücke für Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren vorhanden, die nicht in einer Tagesschule sind. Andererseits haben wir in ländlichen Regionen ein Problem mit den Krippen. Für das zweite Feld könnte allenfalls das Modell der Tagesfamilie weiterentwickelt werden. Wir haben jedoch in der Schweiz relativ wenige Tagesfamilien.

Welche Anreize bieten sich an?
J.F.: In Schweden zum Beispiel erhalten die Tagesfamilien wie bei uns etwa eine Gemeindekrankenschwester einen Arbeitsvertrag von der Gemeinde. In der Schweiz sind die Tagesfamilien privat organisiert. Eine Aufwertung des schweizerischen Modells analog zu Schweden wäre eine Lösung.

Gibt es noch andere alternative Betreuungsangebote mit Vorbildcharakter?
J.F.: In Österreich etwa gibt es das Modell «Pflegenest». Das ist eine Mischung zwischen Krippe und Tagesfamilien. Bei diesem Modell betreut eine Person drei bis vier Kinder zu Hause. Das ist eine flexiblere Form als eine normale Kinderkrippe, da keine Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden müssen. Bei den herkömmlichen Kinderkrippen braucht es dagegen eine grössere Anzahl Kinder und mehr Betreuungspersonal.

Wie sieht es mit dem Angebot für Jugendliche aus?
J.F.: Für Jugendliche kennen wir so genannte Schülerkafis. Das sind Formen von autonomer Freizeitgestaltung, die gleichzeitig sozialpädagogisch betreut sind. Es gibt solche Betreuungsformen im Ausland, aber auch in der Stadt Zürich. Das Angebot für Jugendliche ist nicht gross genug und muss ausgebaut werden. Das ist eine wichtige Aufgabe, die es in nächster Zeit zu lösen gilt. Jugendliche im Alter von 12 bis 15 sind eine Risikogruppe, da sie sehr anfällig auf Einflüsse von aussen sind.

Wird die Konvention der Uno über die Rechte des Kindes bei der Schaffung von Betreuungsplätzen in der Schweiz berücksichtigt?
J.F.: Rhetorisch ja. Sie wird immer wieder erwähnt, wenn begründet wird, weshalb der Staat in der Frage der Kinderbetreuung aktiv wird. Aber als verbindlicher Auftrag wird die Kinderrechtskonvention nicht verstanden. Es wird noch viel politische Arbeit brauchen, um der Konvention auch in unserem Land mehr Gewicht zu geben.

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