«der arbeitsmarkt» 06/2006

Keine Gefahr für den Werkplatz Schweiz

Arbeitsmarkt 2016 In zehn Jahren wird der Schweizer
Arbeitsmarkt älter, weiblicher und qualifizierter sein. Das pro-
gnostiziert Daniel Kalt, Leiter Economic Research bei UBS
Wealth Management, im Gespräch mit dem «arbeitsmarkt».

der arbeitsmarkt: Herr Kalt, was haben Sie vor zehn Jahren gemacht, und wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Daniel Kalt: Im Juni 1996 kam ich als junger Ökonom zur UBS. Hier gefällt es mir gut, deshalb kann ich nicht ausschliessen, dass ich in zehn Jahren noch in der einen oder anderen Funktion bei der UBS bin. Bestimmt werde ich aber in einem Bereich arbeiten, wo ich mein volkswirtschaftliches und ökonomisches Wissen einsetzen kann. Unsere Kinder gehen dann noch zur Schule, der Sohn vermutlich schon aufs Gymi. 
Sie erstellen Prognosen. Was meinen Sie zum Ausspruch des US-Computerpioniers Alan Kay: «Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist sie zu erfinden»?
Der Spruch gefällt mir. Für mich heisst das auch, dass wir mit unseren heutigen Entscheiden schon die Weichen für die Zukunft stellen, sie mitprägen. Ein Faible habe ich aber auch für den Mark-Twain-Spruch: «Prognosen sind immer recht schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.»
Mit welcher Arbeitslosenrate rechnen Sie in zehn Jahren?  
In zehn Jahren rechnen wir im Schnitt über den Konjunkturzyklus mit Arbeitslosenquoten zwischen 2,5 und 3 Prozent, also unter dem heutigen Niveau von 3,6 Prozent.  Die Jahrzehnte, in denen die Arbeitslosigkeit in der Schweiz unter 1 Prozent lag, sind unwiederbringlich vorbei. Im internationalen Vergleich schnitt und schneidet die Schweiz aber gut ab. Im übrigen Europa stieg in den letzten zehn Jahren nach einem Konjunkturtal und dem darauf folgenden Aufschwung die Sockelarbeitslosigkeit immer weiter an. Diesen Effekt werden wir mit unserem 
flexiblen Arbeitsmarkt in der Schweiz kaum erleben. Aber Fakt ist, dass auch wir einen bestimmten Sockel nicht mehr ganz wegbringen werden. (Grafik siehe pdf-Version)
Warum bleibt eine Sockelarbeitslosigkeit bestehen?
Als Hauptgrund sehe ich die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit. Wenn Sie einen IT-Spezialisten suchen, aber Sie finden nur zehn Bauarbeiter, was nützt das? Ausschlaggebend ist doch die Frage, ob der Arbeitslose dem Qualifikationsprofil des Unternehmens entspricht. Es wird immer schwieriger, alle Arbeitssuchenden wieder zu integrieren, weil sich die Anforderungen mit dem technischen Wandel laufend dramatisch verändern. Hier sind Wirtschaft und staatliches Bildungssystem gefordert, das Qualifikationsniveau zu erhöhen und Leute so auszubilden, dass sie sich auch in einem sich schnell wandelnden Umfeld auf dem Arbeitsmarkt behaupten können, vermittelbar bleiben. 
Welchen Effekt hat die zunehmende Überalterung in der Schweiz?
Über die nächsten 30 Jahre sinkt der Pegel des Erwerbspersonen-Pools laufend. Der Abfluss ist mit der steigenden Zahl der Rentner grösser als der Zufluss an neuen Arbeitskräften, der durch die sinkende Geburtenquote gebremst wird. Also stehen uns in den nächsten Jahrzehnten immer weniger Menschen im Erwerbsalter zur Verfügung. Wir haben berechnet, dass das Pensionsalter bis 2025 Schritt um Schritt um fast zwei Jahre erhöht werden muss, um den Demografie-effekt in der Schweiz zu neutralisieren. Da ist die Schweiz aber kein Sonderfall. In Deutschland beispielsweise ist die Situation noch stärker ausgeprägt. Am dramatischsten gestaltet sich die Demografiefalle in Japan.  Denn Japan besitzt traditionell eine sehr tiefe Immigrationsquote und eine tiefe Geburtenrate. 
Wie wird sich die Struktur des Arbeitsmarktes verändern? 
Der künftige Arbeitsmarkt wird älter, weiblicher und qualifizierter sein. Es gibt Vorschläge, das Pensionsalter heraufzusetzen, es werden Versuche gemacht, die Arbeitsbedingungen für Frauen durch Kinderbetreuungsangebote zu verbessern und das Qualifikationsniveau de Arbeitnehmenden  insgesamt zu erhöhen. Wie die Demografie das künftige Arbeitsangebot beeinflusst, hängt also wesentlich von der politischen Reaktion ab. 
Haben ältere Arbeitnehmer dann grössere Chancen?
Grundsätzlich ja. Die Arbeitsteilung muss allerdings so gestaltet werden, dass man die Älteren gut in den Arbeitsprozess integrieren kann. Wenn es immer weniger junge Arbeitsmarktteilnehmer gibt und die Immigration auf dem heutigen Niveau bleibt, ist eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation älterer Arbeitnehmer eine logische Folge. Das heutige System der sozialen Sicherung schafft allerdings kaum Anreize, ältere Arbeitnehmende zu beschäftigen. Dass die Pensionskassenbeiträge mit dem Alter steigen, hilft auf dem Arbeitsmarkt sicher nicht. Man könnte Verzerrungen zugunsten älterer Arbeitnehmer aber durchaus ausbügeln.  
Oder brauchen wir mehr Immigranten?
Eine stärkere Einwanderung ist kein Allheilmittel gegen die ungünstige demografische Entwicklung. Japan beispielsweise, das derzeit gut 50000 Arbeitskräfte pro Jahr ins Land lässt, müsste jährlich eine knappe Million hereinlassen, um die Demografieeffekte auszugleichen. Europa müsste etwa dreimal mehr Immigranten als heute hereinlassen. Das überfordert aber eindeutig die Integrationsfähigkeiten der Länder.
Werden Lebensarbeitsstellen zur Rarität und Projektarbeit Normalität? 
Ja, der Trend zur Projektarbeit nimmt weiter zu, und die Lebensarbeitsstellen werden rarer. Vor allem sind flexiblere Arbeitsmodelle mit Rücksicht auf ältere Menschen und Frauen nötig. Auch ich habe in den letzten zehn Jahren innerhalb der Bank vier verschiedene Jobs gemacht, eigentlich ist es in diesem Sinn auch keine Lebensarbeitsstelle.
Welche Jobs werden künftig im Ausland erledigt, welche hierzulande? 
Das Thema Export von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer ist im letzten Jahrzehnt fast zu einem Hype geworden. Die realen Erfahrungen waren allerdings sehr gemischt. Ein Teil der erhofften Lohnkostenvorteile wurde durch den höheren Koordinationsaufwand oder die Behebung von Qualitätsproblemen teilweise kompensiert. Zudem besteht ein nicht zu unterschätzendes Risiko durch wenig ausgebaute Eigentumsrechte. Erfolg zeigte sich eher bei der Auslagerung von einfachen, standardisierten Prozessabläufen. Schwierig ist hingegen das Outsourcing von komplexen Prozessen. Ich sehe keine Gefahr, dass der Werkplatz Schweiz verschwindet. Hochpräzisions- und Qualitätsprodukte werden weiterhin hier produziert werden. Dazu kommt, dass in zehn Jahren ein guter Teil des Kostenvorteils der aufstrebenden Länder schon geschmolzen ist. Denn die Billiglohnländer holen im Lebensstandard laufend auf. 
Beeinträchtigt die demografische Komponente das Wachstumspotenzial der Schweiz?
Die Demografie wird die Schweiz etwa ein halbes Prozent Potenzialwachstum kosten, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Wird dagegen das Pensionsalter oder die Jahresarbeitszeit erhöht, könnte das Potenzialwachstum auf den derzeitigen 1,6 Prozent gehalten werden. Wir müssen uns also entscheiden: Sind wir mit 1 Prozent Wirtschaftswachstum zufrieden oder wollen wir lieber die 1,6 Prozent behalten? Darüber wird es vermutlich zu einem Volksentscheid kommen. Der Grund dafür, dass die USA in den letzten 20 Jahren rund 1 Prozent schneller gewachsen sind als Europa, ist, dass die Europäer ihre Wochenarbeitszeit laufend gesenkt haben, während die Amerikaner heute fast genauso viel arbeiten wie 1980. 
Wird in Ihren Augen die Finanzierung der Sozialwerke problematisch?
Die Finanzierung der Sozialwerke ist aufgrund der Demografie nicht akut gefährdet. Aber sie kostet deutlich mehr Umverteilung zwischen den Generationen. Der Alterslastquotient von heute vier Arbeitnehmern auf einen Rentner wird bis 2025/2030 auf gut zwei Arbeitnehmer pro Rentner zurückgehen. Wir haben in unserer kürzlich erschienen Demografiestudie hierzu verschiedene Szenarien durchgerechnet. Wenn Erwerbstätige und Rentner zukünftig im selben Ausmass am Einkommenswachstum von 1,1 Prozent partizipieren sollen, müssten die Jungen im Jahr 2025 über zwölf Lohnprozente an die Rentner transferieren, wenn nach dem Umlageverfahren finanziert wird. Wenn im anderen Extremfall keine zusätzlichen Transfers mehr an die Rentnergenerationen beschlossen werden – also der Anteil des Volkseinkommens, der an die Alten geht, konstant bleibt –, dann würde das Pro-Kopf-Einkommen der Rentenempfänger jährlich um ein Prozent zurückgehen.
Welche Branchen profitieren von der erwarteten Entwicklung?
Generell wird in einer überalterten Gesellschaft die Gesundheitsbranche am deutlichsten gewinnen, wie beispielsweise Pharma, Medizinaltechnik oder die Schönheitsbranche. Mit einer positiven Entwicklung rechnen dürfen auch einzelne Segmente des Immobiliensektors. Dagegen wird die Mobilität deutlich kleiner geschrieben, und es wird weniger für Kleidung ausgegeben. Ausbildung, Nahrung und Freizeit können sich in etwa auf dem heutigen Niveau halten, müssen sich aber einer veränderten Nachfrage anpassen. 
Ist mit einem Einbruch an den Aktienmärkten zu rechnen?
Die Finanzmärkte werden von der demografischen Entwicklung kaum beeinflusst, hier spielen andere Faktoren eine grössere Rolle. Horrorszenarien über einen Börsencrash, weil die Baby-Boom-Generation Aktien abstösst, um ihren nahen Lebensabend zu finanzieren, sind nicht gerechtfertigt. Schon ein Blick auf die Verteilung des Nettofinanzvermögens nach Altersgruppen eines durchschnittlichen amerikanischen Haushalts zeigt, dass das Vermögen im Alter 
von 40 bis 60 Jahren angehäuft wird, später aber kaum abnimmt. Es wird also vererbt. 
Möglicherweise könnten aufgrund der Demografie die Renditen bei Obligationen etwas sinken. Dafür sprece die grössere Nachfrage nach sichereren Anlageinstrumenten älterer Personen und die Umschichtung von Vermögen der Pensionskassen aus Aktien in Obligationen – und hier mit 
kürzeren Laufzeiten, wenn die Versicherten altern. 
Wird dann weniger gespart? 
In den heutigen Industrieländern dürfte die Sparquote tatsächlich leicht sinken. Global wird sie aber ausgeglichen durch eine höhere Sparneigung in den neuen Wachstumsstaaten. Solange diese mehr sparen können und die Finanzmärkte integriert bleiben, beeinflusst die demografische Entwicklung der Industriestaaten die globale Sparquote nicht. Gefährlich wäre in dieser Situation allerdings, den globalen Austausch von Sparmitteln, Investitionen und Gütern zu unterbinden.
Sie sind ja ein grosser Globalisierungsbefürworter.
Wir brauchen die internationale Arbeitsteilung und die internationale Mobilität des Kapitals. Damit wirken wir möglichen Gefahren der Demografiefalle entgegen. Vom oft geschmähten Teufelskind Globalisierung profitiert nämlich auch die Schweiz. Fakt ist: Wir können heute mehr Wertschöpfung in die neu industrialisierten Länder exportieren als noch vor zehn Jahren.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der Handel mit China. Vor zehn Jahren war die Handelsbilanz Schweiz-China noch defizitär, das heisst die Chinesen haben mehr billige Textilwaren und Spielwaren in die Schweiz exportiert, als Schweizer ihre Produkte in China absetzen konnten. Dieses Verhältnis hat sich ins Gegenteil verkehrt. Heute kann die Schweiz mehr Maschinen, Luxusuhren und Präzisionsinstrumente nach China exportieren, und die Handelsbilanz war in den letzten Jahren mindestens ausgeglichen oder wies sogar einen Überschuss aus.
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