«der arbeitsmarkt» 04/2015TEXT: Naomi JonesFOTO: Claudia Brijbag
Tieranwalt

«Ich bin kein Tierbetatscher»

Antoine F. Goetschel ist eine der wichtigsten Stimmen im Tierschutz der Schweiz. Als Jurist engagierte er sich erfolgreich für die Würde der Kreatur in der Verfassung. Seine Vision will er nun in die Welt hinaustragen.

«Besser ist besser als schlechter.» Diesen Satz wird der Fürsprecher der Tiere im Verlauf des Tages mehrmals wiederholen. Den Bart trägt er noch nicht lange. Daher wandern seine Hände dauernd ins Gesicht, streicheln übers Kinn und drehen Kringel in die grauen Haare. Der Bart und das kleine Grübchen auf der Nase verleihen Antoine François Goetschel etwas Katzenhaftes. Seine hellblauen Augen blicken wach und herausfordernd durch die Brille.

Recht auf Würde

Die Tiere in der Schweiz verdanken Antoine F. Goetschel, dass sie im Gesetz keine Sache mehr sind und dass sie als Kreaturen eine Würde besitzen. In Zürich hatten sie während neunzehn Jahren einen eigenen Anwalt. Das war weltweit einzigartig. Mit der von ihm gegründeten Stiftung Tier im Recht setzte sich Antoine F. Goetschel dafür ein, dass das Amt geschaffen wurde. Er war der letzte und prominenteste der drei Zürcher Tieranwälte, bevor die Funktion ans Veterinäramt überging.

Nun will er die rechtliche Situation von Tieren weltweit verbessern. Er gründete zusammen mit anderen Grössen der Tierrechtsbewegung wie etwa dem australischen Philosophen Peter Singer und dem amerikanischen Tierrechtsaktivisten Steven M. Wise das Global Animal Law Project (GAL). «Wir wollen die verschiedenen Tierschutzorganisationen dazu bringen, am gleichen Strick und am gleichen Ende zu ziehen», sagt der Schweizer Anwalt. Das Global Animal Law Project ist eine Vereinigung von Juristen und Ethikern. Sie stellen eine weltweite Sammlung der Tierschutzgesetze als Grundlage zur Verfügung und machen Vorschläge, wie die Situation der Tiere im Recht verbessert werden kann. Sie beraten Tierschützer, Tierschutzrechtler und interessierte Regierungen. Vor allem betreiben sie Öffentlichkeitsarbeit für ihre Ideen. Antoine F. Goetschel nutzt sein sechswöchiges Sabbatical in Berlin dafür.

«Ist die goldene Kuppel da vorne die wiederaufgebaute Synagoge?», fragt er den Berliner Taxifahrer. «Sind Sie Jude?», fragt dieser zurück. Tatsächlich, Antoine F. Goetschels Vater war Sohn eines jüdischen Seidenhändlers in Bern. Die Mutter, eine russisch-orthodoxe Französin – Grossnichte des Komponisten Sergei Rachmaninow –, hatte einen jüdischen Stiefvater und konvertierte bei der Heirat zum Judentum. «Wir hielten die Gesetze ein und segneten jedes Essen mit einem Dank. Das war bestes Achtsamkeitstraining», erzählt der 56-Jährige. Heute beschäftigt er sich mit dem tibetischen Buddhismus.

Innere Fellpflege

Die Achtsamkeit gehört zu seinem Wesen. Er ist elegant, höflich und geschmeidig, hat für alle ein freundliches Wort, hält Türen auf und hilft in Mäntel hinein. Seine Aufmerksamkeit widmet er bewusst dem Schönen und Guten. Deshalb gönnt er sich das Sabbatical im «prallen» Berlin: «Ich brauche viel Zeit für mich, um mit all den negativen Emotionen, die der Tierschutz mit sich bringt, fertig zu werden. Das ist innere Fellpflege, denn ich möchte meine Menschenfreundlichkeit weiterentwickeln und nicht in Menschenfeindlichkeit abgleiten.»

Aber natürlich arbeitet ein Mann wie Antoine F. Goetschel auch im Sabbatical. Hatte er doch schon nebst seinem Jurastudium mehrere Bücher geschrieben, war Hauptmann geworden und hatte eine Familie mit zwei Kindern unterhalten. In Berlin wirbt er für das Global Animal Law Project, sucht Verbündete und gibt Interviews, unter anderem der BBC und dem Deutschlandfunk. «Die Schweiz hat in Sachen Tierschutz und Rechtsstellung des Tieres einen hohen Standard. Dies will ich in der Welt bekannt machen. Denn ich habe eine Vision», sagt Antoine F. Goetschel.

Auf der Karte des traditionsreichen Restaurants «borchardt» in Berlin Mitte findet sich unter den vielen klassischen Fleischgerichten auch Gänseleber. Statt sich darüber zu ärgern, freut sich der Tierschützer, dass auch ein veganes Gericht auf der Karte steht: «Seit den achtziger Jahren hat sich für Vegetarier viel geändert. Im Militär habe ich mich eine Zeit lang von Salat und trockenem Reis mit Salatsauce ernährt.» Er isst seit dreissig Jahren kein Fleisch und keinen Fisch mehr, lebt aber nicht vegan. «Ich bin bei allem Engagement auch noch ein Mensch, und die Leidensolympiade mag ich nicht.» Um für die Position der Tiere im Recht zu kämpfen, brauche er Mehrheiten. Diese würde er mit radikalen Forderungen nicht gewinnen. Überhaupt widerspreche es seinem Menschenbild, andere durch den Appell an tiefe Emotionen, wie Abscheu und Hass, zu manipulieren.

Antoine F. Goetschel glaubt an die Aufklärung und ans Recht: «Das Recht gibt eine Struktur vor, die auch bei Meinungsverschiedenheiten gilt. Ethische Argumente überzeugen nicht alle Menschen gleich. Sie gehen viel weiter als die Tierschutzgesetze und bewegen sich oft im Bereich des Utopischen. Aber die Gesetze setzen einen Standard und können Andersdenkenden gegenüber durchgesetzt werden.»

Löwe und Lamm

Seine Utopie ist eine Welt, in der Tiere nicht für Ziele und Zwecke der Menschen missbraucht werden, sondern friedlich mit ihnen zusammenleben. Tiere sollen ihr eigenes Leben um ihrer selbst willen leben dürfen und als Tiere behandelt werden. Denn zur rechtlichen Definition der Würde der Kreatur gehört wie auch zur Menschenwürde das Anerkennen eines Eigenwerts und der Anspruch, nicht Mittel zum Zweck zu sein. Das ist ein rechtliches und nicht ein philosophisches Konzept. Die rechtlich garantierte Würde der Kreatur schützt zumindest Heimtiere davor, instrumentalisiert zu werden. Die Instrumentalisierung eines Tieres kann harmlos beginnen, wenn ein Tier zum Beispiel als Modeaccessoire oder als Partnerersatz gehalten wird, und brutal enden, etwa mit dem qualvollen Tod eines Tieres aus purer Lust. «Von den 700 Fällen, die auf meinem Tisch landeten, betraf die Hälfte Heimtiere, die vernachlässigt oder misshandelt worden waren», berichtet der ehemalige Tieranwalt.

Wenn Menschen Tiere vermenschlichten, so Antoine F. Goetschel, bestehe die Gefahr, dass die Menschen die Bedürfnisse der Tiere nicht wahrnehmen könnten. «Wenn ein Tier eine Art Mensch zweiter Klasse sein soll, projiziert die Halterin oder der Halter möglicherweise seine eigenen Bedürfnisse auf das Tier.» Eine träge Hundehalterin denkt vielleicht, ihr Hündchen gehe ebenso ungerne nach draussen wie sie selbst, und vernachlässigt dadurch ihren Liebling. Denn ein Hund hat nicht die gleichen Bedürfnisse wie der Mensch, er braucht kein goldenes Collier und teures Futter. Er braucht Auslauf und Sozialkontakte zu andern Hunden.

Im Gegensatz zu radikalen Tierrechtsaktivisten befürwortet Antoine F. Goetschel sogar das Halten von Heimtieren, wenn die Menschen die Bedürfnisse der Tiere erkennen und befriedigen. «Tierschutz ist eine Art Aufmerksamkeitstraining. Ich muss versuchen, die Perspektive des andern Wesens einzunehmen.» Unter anderem deshalb schlug er in seiner Dissertation vor, Heimtierhaltung in die Grundrechte aufzunehmen: «Sie kann zur Menschwerdung des Menschen beitragen.»

Er faltet die Serviette auf und steckt einen Zipfel in den Ausschnitt. Dann drapiert er das Tuch sorgfältig auf der Brust und nimmt die Gabel: «Wäre der Salat immer so gut wie dieser hier, würde ich viel mehr davon essen!» Er isst so langsam und konzentriert, wie er spricht.

Die Utopie gebe die Richtung an. Bis dahin, wenn es denn überhaupt so weit komme, seien konkrete Schritte nötig, um die Situation der Tiere zu verbessern. Dabei sei jeder Schritt gut: «Denn besser ist besser als schlechter.» Und es sei bitter nötig. Der weltweite Fleischkonsum hat in den letzten Jahren drastisch zugenommen. Das bedeutet, dass auch die industrielle Tierhaltung zunimmt. Für die Menschen in den Schwellenländern ist das Fleisch erschwinglich geworden. «Ihnen aber das Fleischessen zu verbieten, wäre heikel und käme einem geistigen Imperialismus nahe.» Davon ist Antoine F. Goetschel überzeugt.

Eine Stimme für die Schwachen

Antoine F. Goetschels Beziehung zu Tieren sei eher distanziert und rational als emotional. Das erzählt sein ehemaliger Pfadfinderfreund Alex Rübel, der heute Direktor des Zürcher Zoos ist. Insbesondere, was das Halten von Wildtieren in Zoos angehe, seien sie nicht gleicher Meinung. Doch sein Freund in Kindertagen habe in der Schweiz viel für den Tierschutz bewirkt, so Zoodirektor Alex Rübel.

«Ich bin kein Tierbetatscher», sagt Antoine F. Goetschel von sich. «Aber der Tod meines Meerschweinchens hat mich als Kind tief betrübt. Mit meiner ersten Familie hatte ich Katzen: Täseli, Romulus und Remus. Später lebte ich zeitweise mit den Hunden, Katzen und Ratten meiner Freundin zusammen. Heute mag ich die Katze meiner Nachbarin Bea sehr gern.»

Bea Schenk wohnt mit ihrer Katze im gleichen Haus wie Antoine F. Goetschel. Die beiden philosophieren oft bei einem Glas Wein über Gott und die Welt. Sie sehe in Antoines Umgang mit Tieren grossen Respekt, beschreibt sie seine Beziehung zu Tieren. Er lasse Tieren ihren Raum und nehme sie an, wie sie seien. Das gelte auch für seinen Umgang mit Menschen.

Antoine F. Goetschel wollte nach dem humanistischen Gymnasium gerne Literatur und Sprachen studieren. Als er 19 Jahre alt war, kam seine Tochter zur Welt. Ein Sohn folgte, und viel später hatte Antoine F. Goetschel einen zweiten Sohn mit einer andern Frau. So suchte er als junger Mann ein Studium, das kurz war und mit dem er seine junge Familie ernähren konnte: Jus. Während des Studiums interessierte er sich für Minderheiten, was er seinem Freund und Mentor Ludwig A. Minelli verdankte, dem Gründer der Sterbehilfeorganisation Dignitas.

Damals war Ludwig A. Minelli noch Journalist, der sich für Menschenrechte engagierte. «Von ihm lernte ich, dass das Recht etwas ist, das sich verändern lässt, wenn es einem nicht passt», berichtet Antoine F. Goetschel. Der Freund verschaffte ihm während des Studiums Aufträge, unter anderem den, der sein Interesse am Tierschutzrecht weckte. Antoine F. Goetschel half ihm dafür, sämtliche Schweizer Gesetzestexte zusammenzutragen, in denen Tiere vorkommen. Anschliessend verfasste er einen Kommentar zum Schweizer Tierschutzgesetz. Schliesslich war die rechtliche Stellung des Tieres auch sein Dissertationsthema.

Lustvoll leben

Antoine F. Goetschel geht gemächlich und doch mit schwungvollen Schritten die Französische Strasse entlang. Der Qwstion-Rucksack hängt lässig an seinem Rücken. Hinkt er ein ganz klein wenig?

«Am 24. Dezember hatte ich in Berlin-Köpenick mit meinem Mini einen Unfall. Die Strasse war bei den Tramgeleisen ein Stück offen, und ich achtete mich nicht. Das Auto fiel etwa vierzig Zentimeter tief und sass dann auf den Geleisen fest.» Obwohl er eine Gehirnerschütterung davontrug, erzählt Antoine F. Goetschel mit Schalk davon: «Mein aufgebockter Mini war ein passendes Bild für das Global Animal Law Project. Ich komme damit nicht weiter, weil wir noch zu wenige Leute im Wagen haben. Ich brauche für das Projekt nicht einen Mini, sondern ein Tram oder besser einen Zug für viele Mitwirkende.»

Vorerst sucht Antoine F. Goetschel ein weiteres Taxi. Er hat in Berlins veganem Restaurant «Mio Matto» einen Tisch für das Abendessen reserviert. Im gleichen Gebäude befinden sich ein kleiner Supermarkt und ein Schuhladen, die ausschliesslich vegane Produkte anbieten. Ein paar Minuten zu früh, streift der Bonvivant durch die Regale, nimmt hie und da einen Schuh. «Das sieht aus wie echtes Wildleder!» Er staunt und fragt die Verkäuferin, aus welchem Material das Lederimitat sei. Er selbst trägt Lederschuhe, die er hegt und pflegt. «Ich will nicht auf jede Freude verzichten. Ich will mein Leben lustvoll leben. Aber alles, was das Leiden von Tieren mindert, ist gut. Besser ist besser als schlechter.» 

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