«der arbeitsmarkt» 11/2007

Hochschulabsolventen unter Druck

Die Arbeitslosenversicherung muss sparen, einer der Sparvorschläge betrifft auch Hochschulabsolventen. Diese sollen nach dem Abschluss neu ein Jahr warten, bevor sie sich beim RAV anmelden können. Im akademischen Milieu stösst der Vorschlag auf Kritik.

Mit dem Studienabschluss sofort zum Arbeitsamt – was heute möglich ist, soll es in Zukunft nicht mehr sein. Finden Studierende nach ihrem Abschluss keinen Job, so müssen sie ein Jahr warten, bevor sie sich beim RAV anmelden können.
Dies ist einer der Vorschläge, welche die Expertenkommission der Arbeitslosenversicherung (ALV) dem Bundesrat zur Prüfung vorgelegt hat.
Die ALV hat fünf Milliarden Franken Schulden, sie braucht zusätzlich eine Milliarde pro Jahr. Der Bundesrat beauftragte deshalb eine Expertenkommission, Vorschläge zu einer Neufinanzierung auszuarbeiten. Deren Aufgabe ist es, die eine Hälfte durch einen Abbau der Leistungen einzusparen und die andere Hälfte durch eine Erhöhung der Einnahmen hereinzuholen.
Vorgesehen ist, auf der Einnahmenseite die Lohnbeiträge von 2 auf 2,3 Prozent zu erhöhen. Daraus würden Mehreinnahmen von 716 Millionen Franken resultieren. Auf der Leistungsseite möchte man nicht bei den Grundleistungen sparen, sondern Fehlanreize beseitigen, wie Serge Gaillard, Direktor für Arbeit beim SECO, betont. Einen dieser Fehlanreize sehen die Experten darin, dass man heute mit einer Beitragszeit von 12 Monaten Anrecht auf 18 Monate Taggeld hat. Sie schlagen vor, die Beitragszeit zu erhöhen. Neu hätte man erst mit 15 Monaten Anrecht auf die volle Anzahl von 400 Taggeldern.
Diese Massnahme würde Einsparungen von 68 Millionen Franken bringen.

Unterschiedliche Einschätzung der Beschäftigungschancen

Ganz von den ALV-Leistungen ausschliessen, wenigstens für das erste Jahr nach ihrem Abschluss, möchte man die Hochschulabsolventen. Heute haben diese Anrecht auf 260 Taggelder und einen Pauschalansatz. Die Experten schlagen nun vor, dass die Schul- und Studienabgängerinnen und -abgänger erst nach einem Jahr Anspruch auf diese Leis-tungen haben sollen. Dieser Vorschlag, der auch Absolventen in der Umschulung und Weiterbildung betrifft, würde mit den Kürzungen bei den Rückkehrern aus dem Ausland Einsparungen von 90 Millionen bringen. Von dieser Massnahme ausgenommen wären Studierende, die im letzten Jahr ihres Studiums einer Teilzeitarbeit nachgingen und dabei mindestens 500 Franken im Monat verdienten. Sie haben während 12 Monaten Beiträge einbezahlt und hätten somit bei Erwerbslosigkeit Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung. Mit weiteren Verschärfungen und Korrekturen auf der Leistungsseite könnten so insgesamt 481 Millionen Franken eingespart werden.
Dass auch Studierende von den Sparbemühungen betroffen sind, erklärt Dominique Babey, Leiter der Arbeitslosenversicherung, mit deren guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. «Diese Leute sind gut ausgebildet und haben die besten Voraussetzungen, eine Stelle zu finden.» Nicht alle teilen aber diese Einschätzung. Fachleute aus dem Universitätsbereich reagieren skeptisch auf den Vorschlag der Expertenkommission. Keine gute Idee findet es beispielsweise Thomas Tschümperlin, Leiter des Ressorts Studierende an der Universität Zürich. Er stört sich vor allem an der Wartefrist von einem Jahr, die er als zu lang erachtet. Er fände einen Monat Wartefrist angemessen. Zurzeit sei es zwar weniger schwierig, eine Stelle zu finden, es gebe aber gewisse Fächer der Geisteswissenschaften, mit denen die Arbeitssuche schwieriger sei als mit anderen. Theologen hätten zurzeit keine Probleme, eine Stelle zu finden, als Ethnologe müsse man schon mehr Phantasie aufwenden.

Prophylaktische RAV-Anmeldungen unterbinden

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Birgit Müller, die das Career Service Center (CSC) der Universität Basel leitet. Sie, die Studierende bei der Karriereplanung und beim Berufseinstieg berät und unterstützt, würde die Wartefrist auf ein halbes Jahr verkürzen. Ihre Einschätzung des Arbeitsmarktes: «Man findet schon eine Stelle, aber es braucht Zeit.» Viele Studierende würden nicht gleich im Anschluss, sondern erst ein paar Monate nach ihrem Abschluss eine Stelle finden. Wer beispielsweise im Sommer abschliesse, der habe gleich die Sommerferien vor sich, in denen generell weniger Leute eingestellt würden. Schliesse man im Herbst ab, habe man das Problem, dass viele Firmen ihr Budget schon ausgeschöpft hätten und erst wieder im neuen Jahr Leute einstellten. Birgit Müller betont, dass sich die Hochschulabsolventen trotz guter Konjunktur nicht einfach bequem zurücklehnen und aus zwölf verschiedenen Angeboten auswählen könnten. Man müsse sich schon bemühen und beispielsweise ein fachspezifisches Bewerbungsdossier verfassen. Hilfreich sei aber – und hier teilt sie die Meinung des Chefs der Arbeitslosenversicherung –, wenn Studierende möglichst früh anfingen, sich für die Stellensuche vorzubereiten und nicht erst im Prüfungsstress überlegten, wo sie sich nachher bewerben möchten.
Für Dominique Babey ist denn auch dieser Gedanke einer der Hauptgründe für den Sparvorschlag. Es soll ein gewisser Druck aufgebaut werden. «Der Druck wird dazu führen, dass sich Studierende ein Jahr vorher mit dem Gedanken befassen.» So soll seiner Meinung nach vermieden werden, dass sich Studierende nach dem Abschluss einfach mal prophylaktisch beim Arbeitsamt anmelden und sich dann darauf verlassen, in ein paar Monaten schon etwas zu finden.
Gesicherte Zahlen darüber, wie viele Hochschulabsolventen sich gleich nach ihrem Abschluss beim Arbeitsamt anmelden, fehlen. Es gibt zwar Angaben darüber, wie viele Studierende bei den RAV angemeldet sind; im September waren es 1611. Allerdings ist die Definition des Begriffes «Studierende» weit gefasst. Studienabsolventen wie auch Studienabbrecher sind darin erfasst, zwischen Hochschul- und Fachhochschulabsolventen wird nicht unterschieden. Nicht ersichtlich aus diesen Daten ist zudem, zu welchem Zeitpunkt sich Studierende beim RAV anmelden. Ob sie sich gleich nach dem Abschluss einschreiben oder erst nach ein paar Monaten.
Vom Bundesamt für Statistik (BFS) gibt es aber Studien, welche die Situation der Hochschulabsolventen ein Jahr nach Studienabschluss aufzeigen. Diese zeigen, dass sich jeweils die Hälfte bis ein Drittel derje-nigen Studierenden, die auf Stellensuche sind, beim Arbeitsamt anmelden. 2005 waren ein Jahr nach Studienabschluss noch 7,96 Prozent der Universitätsabsolventen auf Stellensuche, 34 Prozent davon waren beim Arbeitsamt angemeldet. 2003, als sich die Wirtschaftslage schlechter präsentierte, waren ungefähr gleich viele Absolventen auf Stellensuche wie 2005, allerdings waren doppelt so viele beim Arbeitsamt angemeldet. 2003 befanden sich 8,18 Prozent der Universitätsabsolventen ein Jahr nach Studienabschluss auf Stellensuche, davon waren 60 Prozent beim Arbeitsamt einge-schrieben.  
Markus Diem, Studienberater an der Universität Basel, ist überzeugt, dass Hochschulabsolventen keinen Missbrauch mit der Arbeitslosenversicherung treiben. «Die haben viel zu viel zu verlieren.» Hochschulabsolventen hätten Jahre ins Studium investiert und kein Interesse daran, nach dem Studium lange arbeitslos zu sein. Das Bild des faulen Studenten geistert seiner Meinung nach vor allem in der Politik herum. Birgit Müller, deren Career Center laut ihren Angaben von den Studierenden regelrecht überrannt wird, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Von allen Kursen, die sie bis jetzt angeboten hat, sei derjenige über die Anmeldung beim RAV der am schlechtesten besuchte Kurs gewesen.

Praktikumsangebot der RAV erleichtert den Berufseinstieg

Weitere Studien des BFS zeigen, dass grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Studienfächern bestehen. Mediziner, Juristinnen und Absolventen der technischen Wissenschaften finden schneller und leichter eine Stelle nach Studienabschluss als die Geisteswissenschafter und Sozialwissenschafterinnen. 2005 hatten ein halbes Jahr nach Studienabschluss 80 Prozent der Mediziner eine Stelle in ihrem Fachbereich gefunden. Bei den Geisteswissenschafterinnen waren es zum gleichen Zeitpunkt 51 Prozent. Noch grösser sind laut der Studie «Von der Hochschule ins Berufsleben» die Unterschiede nach eineinhalb Jahren. 90 Prozent der
Mediziner hatten eineinhalb Jahre nach Studienabschluss eine adäquate Stelle gefunden. Bei den Geisteswissenschafterinnen waren es zum gleichen Zeitpunkt 60 Prozent, die eine für ihre Ausbildung angemessene Stelle fanden.
Besonders schwierig scheinen es dabei die Ethnologen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Jeder der angefragten Vertreter aus dem Universitätsbereich nannte zuerst dieses Studienfach als Beispiel für die schwierigere Stellensuche. In manchen RAV haben die Ethnologen daher schon den Übernamen  «Bauchwehgrüppchen» erhalten.
Für Studienberater Markus Diem sind die grösseren Schwierigkeiten der Geisteswissenschafter auf dem Arbeitsmarkt nicht verwunderlich. Medizinerinnen und Juris-ten würden einen Beruf erlernen, die Geistes- und Naturwissenschafter dagegen ein Thema. Absolventen dieser Fächer bräuchten ein Kontaktnetz und die Möglichkeit, Praktika oder Volontariate zu absolvieren. Markus Diem ist der Ansicht, dass die Privatwirtschaft für Absolventen der Geistes- und Naturwissenschaften zu wenig dieser Ein-stiegshilfen anbietet. Aus diesem Grund findet er es legitim, wenn Absolventen dieser Fächer das Praktikumsangebot des RAV für den Berufseinstieg benützen. «Irgendjemand muss die Anfangsinvestition tätigen.» Fällt dieses Angebot weg, dann befürchtet der Studienberater, dass viele Absolventen in fachfremde Berufe einsteigen und so für ihr ursprüngliches Studiengebiet verloren gehen. Die Vorschläge der Expertenkommission bezeichnet er aus diesem Grund als volkswirtschaftlichen Unsinn.
Dominique Babey, Leiter der Arbeitslosenversicherung, teilt diese Einschätzung nicht. Er ist der Ansicht, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, gut Ausgebildeten unter die Arme zu greifen. Man müsse die Kräfte des Marktes spielen lassen, dies seien die Spielregeln.
Ob die Vorschläge der Expertenkommission in dieser Form umgesetzt werden, ist noch völlig offen. Ende Jahr werden die Vorschläge dem Bundesrat vorgelegt, Anfang nächsten Jahres werden sie dann veröffent-licht und in die Vernehmlassung geschickt. Sollten die Vorschläge durch das Parlament angenommen werden, so würde die ALV-Revision frühestens 2010 in Kraft treten.

Zur PDF-Version: