«der arbeitsmarkt» 06/2006

Halb Zürich holte hier zum ersten Mal Luft

Im Haus, wo heute «der arbeitsmarkt» entsteht, kamen einst Tausende Menschen zur Welt. Die ehrwürdige Pflegi war eine
Pionierin in der Krankenpflege.

Wer die Legende Pflegi verstehen will, muss Anlauf nehmen und zurückspringen bis ans Ende des 19. Jahrhunderts. Die Stadt Zürich hatte erst 150000 Einwohner. Seinerzeit gab es, in unseren heutigen Modewörtern ausgedrückt, grossen Handlungsbedarf im Gesundheitswesen, es herrschte Reformstau. Die Ordenshäuser und Diakonissenanstalten konnten – bei aller Barmherzigkeit – den Bedarf an Pflegepersonal nicht mehr decken. Nebst Nächstenliebe war immer mehr auch Kompetenz gefragt. Das weltliche Pflegepersonal bestand aus so genannten Lohnwärterinnen und -wärtern, nicht selten sogar aus Strafgefangenen. Ohne private Initiative bewegte sich wenig. Die öffentliche Hand gab, um im Bild zu bleiben, ihre Hand erst zögerlich. Der Staat wird es schon richten – diese Abholmentalität war noch wenig verbreitet. So sind es denn oft kleinere Gemeinwesen sowie Einzelpersonen, die in jener Zeit Initiativen zünden. 
Für die Pflegi ins Zeug legte sich zuvorderst die Ärztin Anna Heer (1863 bis 1918) – eine Strasse in Zürich dankt es ihr noch heute. Am ersten Schweizerischen Frauenkongress 1896 in Genf forderte sie eindringlich die «Hebung und bessere Ausbildung der freien Krankenpflegerin» und umriss erstmals die revolutionäre Idee einer Pflegerinnenschule mit angegliedertem Frauenspital. Von Frauen für Frauen. Im ganzen Land wurde bald Geld gesammelt und beherzt gespendet. Am Stadtrand – er war noch ganz schön zentrumsnah – konnte dank dem Entgegenkommen der Zürcher Behörden für 124314 Franken Land gekauft werden. Bauherrin: die vom Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein gegründete «Stiftung Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich». Kosten: eine halbe Million Franken. Am 11. Juli 1899, einem sehr bewusst gewählten Datum, war Spatenstich. Genau 25 Jahre zuvor hatte die erste Frau der Schweiz die Doktorwürde in Medizin erhalten: die Aargauerin Marie Vögtlin (1845 bis 1916). Sie und Anna Heer waren die grossen Promotorinnen und Motoren der Pflegi. Wie knapp das Geld, aber auch wie gross die Power war, das Unternehmen auf die Beine zu bringen, hätten wir gesehen, wenn wir im Frühling 1900 im Restaurant Zum Karl dem Grossen gewesen wären. Aber eben, unsere eigene Geburt war noch Zukunftsmusik. Im Saal dieses – selbstverständlich alkoholfreien – Lokals waren bis zu vierzig Frauen und Mädchen freiwillig daran, aus Tuch Weisswäsche zu nähen, Spitalwäsche für die Pflegi.

Zum Schutz der jungen Pflegerinnen musste ein eigenes Schwesternhaus her

Die Pflegerinnenschule bestimmte rasch wesentlich den Standard in der schweizerischen Krankenpflege und gründete über die Jahrzehnte hinweg an vielen Spitälern und Kliniken Aussenstationen. Der Schwesternberuf gewann an Achtung und Status. Andere Zeiten, andere Freuden: Dass die frisch diplomierten Schwestern, wie wir in den Annalen nachlesen, «an der Feier 1904 erstmals einheitlich in die schwarze Tracht gekleidet erscheinen durften», wurde als Meilenstein gefeiert. Einblick in die damaligen Sorgen und Ängste gibt Anna von Segesser in ihrer Biographie über Anna Heer: «Der Platzmangel für die Unterkunft der Schwestern, und deshalb der Plan für die Erstellung eines Schwesternhauses, bildeten um das Jahr 1904 ein neu auftauchendes Problem. Die Einquartierung der Schwestern in Mietwohnungen der Nachbarschaft verursachte Unzukömmlichkeiten. Sie zwang die jungen Schwestern, oft einzeln ihre Schlafstätten aufzusuchen und setzte sie dadurch auf ihrem Gang durch das dazumal keineswegs immer vertrauenserweckende Quartier unliebsamen Zufälligkeiten aus. Besonders ist es aber die Unmöglichkeit, in nächster Nähe gelegene und ruhige Unterkunftsräume für die Schülerinnen zu finden, welche den lebhaften Wunsch nach einem Schwesternheim auf eigenem Grund und Boden in unmittelbarer Nähe der Anstalt nicht mehr zur Ruhe bringen lässt, bis zu dessen Erfüllung im Jahre 1908.»

37799 Geburten in einem halben Jahrhundert und jede Menge Prominenz

Der nächste Quantensprung geschieht 1934/35. Draussen tobt der Baulärm, es wird massiv erweitert, während in den Altbauten die Betten bis zu 110 Prozent belegt sind. Schwester Hermine Humbel, ehemalige Verwalterin, erzählt in einer Erinnerungsschrift: «Zur Zeit der Überfüllung wurden überall, auch in die Badezimmer, Notbetten hineingeschoben. Längst vermochten die Nebenräume der immer wachsenden Beanspruchung nicht mehr zu genügen. Auf den Gängen wurden Rapporte abgegeben, Kurven geschrieben, Verbandszeug gewickelt, mündliche und telefonische Auskünfte an Angehörige erteilt, Schülerinnen belehrt, auf diesen Gängen, wo ständig Reservebetten, Schränke, Transportwagen herumstanden. Heute wickelt sich die ganze Geschäftigkeit in den sogenannten Stationszimmern der Schwestern in Ruhe ab. Überall eingeschaltete Kämmerchen nehmen den unbenützten Hausrat, die Koffern der Patientinnen und bei Nacht auch ihre vielen, gar so vielen Blumen auf. Von Geräuschen weniger geplagt liegen die Patientinnen höchstens noch zu viert in den hellen, luftigen Zimmern. Lichtsignale haben das frühere Läutwerk ersetzt.» Neuer Glanz, neue Grösse, neuer Name. «Schweizerische Pflegerinnenschule mit Krankenhaus in Zürich» heisst es fortan. Doch «männerfreundlich» wird die Pflegi erst ab 1964. Dann und wann einen Adam im Personal sah man schon früher, aber als Patienten gibt es ihn erst jetzt. Es war zum Nachteil geworden für die Schwesternausbildung, ein Spital nur für Eva und Kleinkinder sein zu wollen. Geburtshilfe und Gynäkologie bleiben aber die Königsdisziplin.
Herr und Frau Zürcher kamen an der Pflegi kaum vorbei. Sie gingen dorthin entweder als Patient, als Gebärende, als nägelkauender werdender Vater, als Neugeborenes, bestimmt aber irgendwann einmal auf Krankenbesuch. Zu jenen, die am Fuss des Zürichbergs zum ersten Mal ins grelle Licht unserer Welt blinzelten, gehört manche Prominenz. Jammerschade nur, dass ein grosses Stück «Geburtenbuchhaltung» mysteriös und just in dem Moment spurlos verschwindet, vielleicht gar im Abfall, als man darüber nachdenkt, ob es in ein Museum gehöre. Wer weiss, 
vielleicht werden die grossen Wälzer mit den handschriftlichen Einträgen – ebenso unerklärlich wieder auftauchend – in fünfzig Jahren bei Christie’s für teures Geld versteigert werden. 37799 Menschen sind im ersten halben Jahrhundert (1901 bis 1950) in der Pflegi zur Welt gekommen. Das entspricht der heutigen Einwohnerzahl von La Chaux-de-Fonds. Bezeugt den ersten Schnuuf taten hier der spätere beliebte oberste Stadtzürcher, Stapi Sigi Widmer, der Schriftsteller Adolf Muschg oder die Söhne des Kabarettistenpaares Margrit und César Keiser-Läubli – Mathis und Lorenz. Letzterer ist nicht weit vom Stamm gefallen, wir kennen ihn als begnadeten Apfel, äh, als Unterhalter nationaler Güte. 

Von der Pflegi zum gepflegten Architekturpark

Wenn wir «Arbeitsmärktler» an der Carmenstrasse 28 mit unseren Ideen schwanger gehen und PC oder Mac anwerfen, dann ist uns selten bewusst, dass man – oder doch eher Frau – in diesen Räumen ununterbrochen in Erwartung und guter Hoffnung war. Viel banges Warten auf den ersten Schrei eines neuen Erdbewohners. Eine Startrampe in den All-Tag für über 100000 Menschen waren diese Gemäuer. Bis dann, ja, bis dann das grosse Gesundschrumpfen der Krankenhäuser kam und sogar die legendäre Pflegi auf dem Papier rot durchgestrichen wurde. Sie fusionierte mit der Diakonissenanstalt Neumünster und zügelte ihre Aktivitäten 1999 nach Zollikerberg. Den Wettbewerb für die Neugestaltung des entleerten Areals gewann das siegesgewohnte Architekturbüro Gigon/Guyer, wo die fünfzig Angestellten zurzeit in der letzten Hektik sind für eine Höchstleistung im wahrsten Sinne des Wortes: Prime Tower – das höchste Gebäude der Schweiz. Es soll auf dem Zürcher Maag-Areal zum Ragen kommen, 126 Meter hoch. Zum Thema Pflegi zurückkehrend, meint der damalige Projektleiter von Gigon/Guyer, Christian Maggioni, mit einer weit ausholenden Armbewegung: «Wir haben das Gelände nicht voll ausgenützt, es ist relativ offen. Wir wollten kein Bollwerk errichten gegen die villenähnlichen Häuser der Umgebung.» Das Resultat sehen wir gleich vor dem Fenster, denn Gigon/Guyer sind hier in dem von ihnen umgestalteten alten Teil der Pflegi gleich selber Mieter geworden. Etwa einen Drittel der Bausubstanz auf dem Areal hatte man stehen lassen und in Büros und Praxen umgewandelt, während zwei Drittel der Altbauten abgerissen wurden und Platz machten für luftig und locker errichtete relativ niedere Wohnhäuser. Dann und wann übers Jahr hin spuckt ein Bus eine Ladung Menschen in den weiten Innenhof. Man schaut sich an, was die Crème der CH-Architekten geschaffen oder – je nach Blickwinkel – verbrochen hat. Über den Kiesplatz mit seinen rund dreissig noch jungen Weiden, die in mit Steinen gefüllten Eisenkäfigen stecken, darf ganz demokratisch gestritten werden. Die sichtbar an akuter Einsamkeit leidenden Designer-Gartenmöbel erregen unser Mitgefühl. Eins ist sicher: Als hier noch der Schwesterngarten war und die «Töchter» miteinander kicherten und den neusten Spitalklatsch austauschten, da war das Leben um einiges bunter.
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