«der arbeitsmarkt» 11/2008

«Für viele ist Selbständigkeit die letzte Option»

Die Zürcher Fachstelle für Selbständigerwerbende berät jedes Jahr 1200 bis 1600 Stellensuchende, die den Schritt in die Selbständigkeit erwägen. Donato Ponzio, der Leiter der Fachstelle, über Coaching, Motivationen und Liquidität.

Herr Ponzio, woran erkennt man, dass jemand selbständig ist?

Donato Ponzio: In der Arbeitswelt ist jemand selbständig, der in eigenem Namen, auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko unterschiedlichste Kunden sucht und betreut. Selbständige ­schauen selbst für ihre Arbeit, für ihr Einkommen, für ihre soziale Sicherheit. Rechtlich betrachtet, definiert einzig und allein die AHV, was Selbständigkeit ist. Sie muss den Antragsteller als selbständig erwerbend anerkennen.

Weshalb fördern Sie die berufliche Selbständigkeit?

Die Frage ist, was man unter Förderung versteht. Die Arbeitslosenversicherung (ALV) versichert einen Schaden, nämlich den Stellenverlust. Wie jede Versicherung will sie den Schaden möglichst schnell behoben haben. Der Schaden ist dann behoben, wenn jemand wieder eine Stelle hat. Oder eben, wenn er selbständig ist. Als Grundprinzip gilt: Wer selbständig ist, ist nach dem Gesetz nicht bei der ALV versichert, der Schaden ist somit behoben. Die Förderung der Selbständigkeit besteht schlichtweg darin, dass den Leuten die Vorbereitung auf die selbständige Erwerbs­arbeit erleichtert wird. Sie erhalten Zeit, diese zu planen bis zu dem Zeitpunkt, da sie ihr Business starten. Von da an bezahlt die ALV nichts mehr. Korrekt wäre daher, nicht von einer Förderung, sondern von Erleichterungen bei der Vorbereitung auf eine Selbständigkeit zu sprechen.

In Zeiten des Stellenabbaus wird die Selbständigkeit vermehrt propagiert. Motiviert der Staat die Stellensuchenden dazu?

Die Arbeitslosenkassen animieren ihre «Kunden» nicht dazu. Sie sind froh, wenn jemand wieder Arbeit hat, egal wie und wo. Immerhin ist man ja nicht gleich «draussen», wenn man in die Selbständigkeit aufbricht. Es gibt eine Rückkehrklausel: Sofern man noch Taggelder übrig hat, die während der Arbeitslosigkeit nicht bezogen worden sind, kann man die Selbständigkeit aufgeben und wieder «stempeln» gehen. Zwei Jahre hat man Zeit, sich selbständig erwerbend zu bewähren, in denen man jederzeit in den Schutz der Arbeitslosenkasse zurückkehren kann, ohne
dass ein einziges Taggeld verloren geht. Ein Notnagel besteht also immer.

Welche Aufgaben nimmt Ihre Fachstelle wahr?

Wir sind dazu da, den Leuten aufzuzeigen, worauf sie achten sollten, wenn sie den Weg der Selbständigkeit wählen. Unsere Kernkompetenz ist die Beratung im Zusammenhang mit der ­Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitsvermittlungszentren im Kanton Zürich verweisen, wer die Selbständigkeit ins Auge fasst, an unsere Fachstelle. Selbständigkeit darf nicht erzwungen werden, sie ist keine zumutbare Tätigkeit laut Arbeitslosenversicherungsgesetz. Sie ist ein freiwilliger Entscheid. Wenn jemand ­diesen Weg in Betracht zieht, sind wir aber da, um ihn zu unterstützen. Wir blicken mit diesen Leuten in dieselbe Richtung, in der sie ihre Selbständigkeit sehen, und beschreiben ihnen die Dinge, die sie nicht sehen. Es ist ganz klar nicht unser Job, ­jemanden aktiv zu motivieren, selbständig erwerbend zu werden. Denn wir wissen: Selbständige sind nachher alleine und müssen selbst klarkommen.

Was machen Sie konkret für die «Selbständigkeitsanwärter»?

Jeden Freitagmorgen bieten wir eine öffentliche Veranstaltung zum Thema an, die im Kanton Zürich wöchentlich rund 50 Perso­nen besuchen. Dort erläutern wir die Anforderungen für die Selbständigkeit und wie die Arbeitslosenversicherung Hand bietet, wenn sich ein Arbeitsloser selbständig machen will. Wer mit uns sein Projekt oder seine Fragen besprechen will, muss zwingend einen Fragebogen ausgefüllt und eingereicht haben. So sind wir auf die individuellen Anliegen vorbereitet und entscheiden, welche Fachperson den Betreffenden bestmöglich über den Themenkreis Arbeitslosigkeit und Selbständigkeit beraten kann. Manchmal reicht ein Gespräch von einer halben Stunde, bis alles geklärt ist, ein andermal braucht es zehn Sitzungen von je eineinhalb Stunden.

Wer soll zu Ihnen in die Beratung kommen?

Grundsätzlich kann sich bei uns jede Person anmelden – auch wer nicht arbeitslos ist und selbständig werden möchte. Das trifft auf rund 20 Prozent unserer Klienten zu – etwa Angestellte und Ausgesteuerte. Darunter sind viele, denen gekündigt wurde und die sich gar nicht erst auf Stellensuche begeben, sondern sich gleich selbständig machen wollen. Uns soll eher nicht aufsuchen, wer Geld erwartet, denn solches haben wir nicht.

Und wer nimmt das Angebot Ihrer Fachstelle an?

Wir haben eine extrem durchmischte Kundschaft: Alte und Junge, Frauen wie Männer, Schweizer und Ausländer. Etwa die Hälfte sind Leute ohne Schweizer Pass, sehr viele Menschen aus der EU, die uns direkt von ihrem Heimatland aus ansprechen, ob sie in der Schweiz selbständig werden können. Das sind natürlich sehr spannende Fragestellungen. Zum Beispiel sind der Status des Selbständigerwerbenden und die Bedingungen für eine Selbständigkeit in Deutschland und in der Schweiz nicht die gleichen, was man den Anfragenden zuerst erläutern muss. So sind in Deutschland die Hürden zwar nicht höher, aber das Verfahren ist viel komplizierter.

Was treibt Ihre Kunden dazu, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen?

Es gibt eine grosse Gruppe, für welche die Selbständigkeit die letzte Option angesichts der Aussteuerung bedeutet. Die andere Gruppe möchte es ausprobieren, weil sie schon länger darüber nachgedacht hat, dann die Kündigung erhält und sich denkt: ­Warum denn nicht? Diese Leute sind positiver eingestellt, gehen die Sache experimenteller an.

Wie zeigen sich die Unterschiede?

Die Selbständigkeit als Notlösung finden wir tendenziell bei älteren, die Selbständigkeit als Herausforderung eher bei jüngeren Menschen. Die Älteren beeinflusst oft die Erfahrung, dass ihnen ein Arbeitgeber eine bestimmte Aufgabe übertragen will, ohne sie aber anzustellen. Zwangsläufig müssen sie eine Form finden, wie sie den Job dennoch machen können. Eine Lösung wäre die Selbständigkeit. Oft geht das aber nicht, weil die AHV keine Scheinselbständigkeit zulässt, die dann vorliegt, wenn man faktisch vom einen Auftraggeber abhängt. Falls ein solcher Arbeitsuchender nicht als selbständig erwerbend anerkannt wird, ­suchen wir Alternativen. Dann schlägt man einen Kompromiss vor, der juristisch einwandfrei ist und für den Arbeitsuchenden wie für den Arbeitgeber stimmt – etwa eine GmbH oder ein ­Payrolling, also eine Art Temporäranstellung.

Wie viele Ihrer Klienten machen sich wirklich selbständig?

Neuere Zahlen existieren nicht, die letzten stammen aus dem Jahr 2000. Sie besagen, dass rund 70 Prozent derjenigen, die sich aus einer Arbeitslosigkeit heraus selbständig machen, es nach zwei Jahren noch sind. Von allen neuen Selbständigen ist es nach dieser Zeit noch etwa die Hälfte. Wer also mit der Arbeitslosen­versicherung startet, ist sicherer unterwegs als ohne, wäre die Schlussfolgerung aus diesen Zahlen. Allerdings bedeuten die
50 Prozent nicht, dass die andere Hälfte als Selbständigerwerbende gescheitert sei. Vielleicht haben sich einige wieder anstellen lassen, andere haben möglicherweise ihr erfolgreiches Kleinst­unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, deren angestellter Geschäftsleiter sie sind.

Aus welchen Berufsfeldern kommen die Leute, die sich ­selbständig machen?

Wir haben eine Klientel aus den eher gängigen Berufen – aus dem kreativen Bereich, dem Handwerk, dem Handel, der Beratung und zu einem grossen Teil aus der Gastronomie. Die Leute machen sich mit dem Fachwissen, das sie schon besitzen, selbständig. Umsteiger oder Trendberufe, wohin es ehemalige Arbeitnehmende anderer Branchen zieht, gibt es praktisch nicht. Ausser mal einen Maurer, der Pizzaiolo wird. Zwei Drittel gründen eine Einzel- oder eine Kollektivgesellschaft, ein Drittel eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder – allerdings weniger häufig – eine Aktiengesellschaft.

Existieren für die ALV auch alternative Formen der selbständigen Erwerbsarbeit?

Ja. Es gibt auch die selbständige Arbeit als Zwischenverdienst, während dem man Taggelder bezieht. Das ist der Fall, wenn man eine Stelle sucht, nicht selbständig werden will, aber Aufträge angeboten erhält. Im Sinne der Schadensminderung bei Arbeitslosigkeit muss der Versicherte solche Arbeit annehmen und mit der Arbeits­losenkasse abrechnen.
Daneben besteht zudem die Möglichkeit der teilzeitlichen Selbständigkeit, wenn man seine selbständige Erwerbsarbeit zeitlich genau definieren kann und in der übrigen Zeit vermittelbar bleibt und Arbeitslosengeld bezieht. Ein Beispiel: Jemand eröffnet eine Buchhandlung, hat aber nur am Nachmittag den Laden ­offen, um am Morgen eine Teilzeitstelle anzunehmen. Eine solche Person sucht zu 50 Prozent eine Arbeit, ist in diesem Mass arbeitslos und erzielt zu 50 Prozent ein Teileinkommen aus einer selbständigen Tätigkeit. Erwischt man diese Person aber mal morgens im Buchladen, dann hat sie ein ernsthaftes Problem … Diese spezielle Form der Selbständigkeit eignet sich jedoch nur für ganz bestimmte Projekte mit exakt festlegbarem Arbeitsumfang. Genau solche Themen beschäftigen uns in der Beratung der Fachstelle: Was macht im Einzelfall Sinn?

Gibt es ein typisches Persönlichkeitsprofil des Selbständig­erwerbenden?

Eigentlich nicht. Hingegen gibt es typische Auswirkungen der Selbständigkeit auf die Persönlichkeit. Beispielsweise die Isola­tion: Man hat zwar sehr viele soziale Kontakte, aber seine Freundschaften kann man mangels Zeit oder Energie nicht mehr pflegen. In der Planungsphase sollte man sich Strategien dagegen überlegen. Ein weiterer Konfliktherd ist die Beziehung, wenn man sich nicht im Voraus darüber ausspricht, dass einiges anders wird. Denn die Selbständigkeit verändert die Partnerschaft. Und wenn man sich nicht wohl fühlt, wenn man nicht frisch und fröhlich ist in der Selbständigkeit, dann ist das ­Thema vom Tisch.

Zu guter Letzt: Was ist Ihr wichtigster Tipp für Leute, die sich selbständig ­machen wollen?

Eine gute Liquiditätsrechnung erstellen! 75 Prozent der Selbständigen, die scheitern, geht das Geld aus, bevor der erste Kunde zahlt. Wenn die Leute beachten würden, dass sie rund sechs Monate leben können müssen – mit Miete, Essen, Telefon und so weiter –, ohne dass Geld reinkommt, dann würden viel weniger Selbständige straucheln. Nur weil die Kunden längstens nicht so schnell zahlen, wie sie gedacht haben. Denn das Budget geht zwar wie geplant auf, aber die Ausgaben sind getätigt, ehe die Einnahmen da sind. Verrückt!

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