«der arbeitsmarkt» 05/2015TEXT: Dorothea BerglerFOTO: Simone Gloor
Spitzenfrauen

«Frauen dürfen nicht abwarten, bis sie gefunden werden»

Viele Unternehmen beschäftigen sich mit Diversität, dem Management der Vielfalt. Ihre Verwaltungs- oder Stiftungsräte sind dagegen homogen besetzt mit reiferen, machterprobten und führungserfahrenen Männern. Die Firma Getdiversity will hier mehr Vielfalt und vermittelt Frauen für die oberste Ebene. Co-Gründerin Michèle Etienne nimmt aufstiegsorientierte Frauen selbst in die Pflicht.

Michèle Etienne, wie sind Sie zu Ihrem ersten Mandat in einem Verwaltungsrat (VR) gekommen?
Bei meinem ersten Verwaltungsratsmandat war ich 34 Jahre alt. Aufgrund einer Beratung wurde ich vom Verwaltungsratspräsidenten angefragt, ob ich mir eine Mitwirkung im VR eines Spitals vorstellen könnte. Ich musste ins kalte Wasser springen. Ich hätte mir zu diesem Zeitpunkt gewünscht, mich mit anderen Verwaltungsrätinnen austauschen zu können.

Warum brauchen Frauen die Unterstützung Ihrer Firma?
Verwaltungsräte werden noch immer von Männern dominiert. Männer portieren Männer, weil sie vor allem Männer kennen. Männer kennen sich, sind verbunden durch gemeinsames Studium, die Zeit beim Militär oder die Mitwirkung in Serviceclubs und Verbänden. Erfahrungsgemäss werden 90 Prozent der Mandate auf persönliche Anfrage vergeben. Getdiversity agiert in der Nische der verbleibenden zehn Prozent, wo über einen externen Partner gesucht wird. Die Unternehmen sind offener geworden, in den letzten fünf Jahren hat sich einiges bewegt.  

Wie arbeiten Sie, und wie bringt Ihre Firma Frauen in Verwaltungsräte?
Wir haben zwei Standbeine, das eine ist die Vermittlung in die Verwaltungsräte, das andere das von uns gepflegte Netzwerk. Es dient dem persönlichen Austausch, dem Coaching und der Weiterbildung. Firmen vergüten die Vermittlung. Frauen für das Netzwerk, von dem sie profitieren. Dafür zahlen sie eine jährliche Teilnahmegebühr von 750 Franken und eine Aufnahmegebühr. Bei der Preisbildung haben wir uns an Serviceclubs orientiert und an dem, was eine Frau für einen schönen Businessanzug ausgeben würde. Firmen oder Stiftungen beauftragen uns, wenn sie eine Gremienposition explizit mit einer Frau besetzen oder ihre Auswahl über ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis verbessern möchten. Wir rekrutieren diese Kandidatinnen in unserem Netzwerk.

Wie viele Kandidatinnen finden mit Ihrer Hilfe in einen Verwaltungsrat?
Seit der Gründung 2007 haben sich 450 Frauen beworben, die ihr Portfolio in Richtung VR-Mandate erweitern möchten. In einem mehrstufigen Aufnahmeprozess wählen wir Frauen für das Getdiversity-Netzwerk aus, das zurzeit aus 120 Führungsfrauen besteht. Darüber hinaus kennen wir weitere in Frage kommende Kandidatinnen. Bis Ende 2014 haben wir 70 Positionen in VR oder SR mit qualifizierten Frauen besetzt.

Welche Hürden müssen Frauen für einen Sitz im Verwaltungsrat oder in einem Stiftungsrat überwinden?
Wer in einen Verwaltungsrat möchte, muss diesen Wunsch als strategisches Projekt mit einer Zeitperspektive zwischen drei und fünf Jahren betrachten. Von heute auf morgen geht nichts. Der Markt rund um strategische Positionen ist sehr kompetitiv, die Nachfrage grösser als das Angebot. Gute Bewerbungsunterlagen, die konkret Bezug nehmen auf das Mandat und die Entscheidungsträger überzeugen, die Kandidatin persönlich kennenzulernen, sind essenziell. Letztlich kann man nur im persönlichen Kontakt überzeugen, und wenn die schriftliche Präsentation nicht neugierig macht, ist diese Chance bereits verspielt.

Welche Frauen nehmen Sie in Ihr Netzwerk auf und lassen sich vermitteln? 
Wir nehmen Frauen auf, deren Kompetenzen und Erfahrungen in einem Verwaltungsratsgremium einen Mehrwert bringen. Wir brauchen einen breiten Mix aus Branchenerfahrung und Fachwissen. Wir vereinen in unserem Netzwerk Juristinnen, Betriebswirtschafterinnen, Ingenieurinnen, Naturwissenschaftlerinnen und Unternehmerinnen. Mehr Mühe haben wir bei der Vermittlung von Frauen, die selbständig erwerbstätig sind. Die Entscheidungsträger messen eine Berufslaufbahn oft an sich selbst. Ihre Karrieren sind eher stromlinienförmig mit Aufstieg in grossen Unternehmen.

Welche Fähigkeiten und Eigenschaften bringt eine geeignete Kandidatin mit?
Sie muss das Anforderungsprofil erfüllen, in der Branche erfahren sein und in der Lage sein, ihre «Flughöhe» von der operativen auf die strategische Ebene zu verändern. Dieser Wechsel in Denken und Handeln gelingt nicht allen. Zudem braucht es eine gesunde Portion Selbstbewusstsein und Humor sowie die Fähigkeit, sich im Alphatier-Club gerne und sicher zu bewegen. Bei den Referenzen und im persönlichen Gespräch fragen wir gezielt die Fertigkeiten zu kooperieren, zu kommunizieren ab und den Umgang mit Konflikten.

Eine Spezialität von Getdiversity im Auswahlprozess für einen Verwaltungs- oder Stiftungsrat sind geschlechtergemischte Kandidatenlisten. Wie hilft dies Frauen?
Wir stellen fest, dass Entscheidungsgremien, die erstmals eine Verwaltungsrats- oder Stiftungsratsposition mit einer Frau besetzen möchten, aufgrund der fehlenden Erfahrung Vorbehalte oder Berührungsängste haben. Gemischte Listen können dazu beitragen, diese Bedenken abzubauen. So macht in der Regel die Frau das Rennen.

Bei den Kurzprofilen des Netzwerks auf Ihrer Website entsteht der Eindruck, dass Juristinnen und Ökonominnen besonders gefragt sind.
Für einen Verwaltungsrat sehr gefragt sind Unternehmerinnen grösserer KMU aus der Industrie, Frauen mit Erfahrung in der Industrie oder Frauen, die Marktexpansionen ins Ausland vorangetrieben haben. Bei den Fachkompetenzen wird oft nach Finanzexpertise gefragt, wie derjenigen von Treuhänderinnen oder CFO. Weniger Nachfrage erleben wir nach Human-Resources-Spezialistinnen. In vielen Gremien herrscht hierzu die Meinung, dass die aktuellen Mitglieder selbst genügend Personalerfahrung haben. Wenn Frauen Marketing und Vertriebserfahrung kombinieren, ist dies auch interessant. Der Verwaltungsratspräsident ist nicht selten ein Jurist, das schmälert die Nachfrage nach weiteren Juristen. Derzeit sind Ingenieurinnen, Naturwissenschaftlerinnen und IT-Spezialistinnen besonders gefragt. Dies hängt mit der Wirtschaftsentwicklung sowie den strategischen Herausforderungen vieler Firmen ab.

Wie häufig vermitteln Sie Frauen in unbezahlte oder gering bezahlte gemeinnützige Stiftungsräte oder in Nichtregierungsorganisationen (NGOs)?
Rund 80 Prozent der Mandate sind wirtschaftsnah und werden entsprechend honoriert. Seit vergangenem Jahr engagieren wir uns in Expertenkommissionen des Bundes. Diese Positionen werden durch den Bundesrat gewählt und sind mit ihren fixen Sitzungsgeldern mit VR-Positionen aus dem KMU-Umfeld vergleichbar. Bei der Besetzung von NGO-Positionen haben wir eine andere Vorgehensweise. Dort arbeiten wir zu vergünstigten Konditionen, dafür müssen die Organisationen einen Teil des Suchprozesses selber an die Hand nehmen. Wir ermöglichen den Zugang zu unserem Pool. Mit diesem Angebot haben Stiftungen und kleine Organisationen eine Chance auf profilierte Bewerbungen.

Was qualifiziert Managerinnen aus der Wirtschaft für einen gemeinnützig tätigen Stiftungsrat?
Sie qualifizieren sich mit ihren Fachkompetenzen aus Marketing und Finanzen und mit der Führungserfahrung auf oberster operativer Ebene. Die Ansprüche sind die gleichen, auch wenn viele glauben, dass ein Stiftungsrat eine Art «Verwaltungsrat light» sei. Sie unterschätzen die Verantwortung. Es tut umgekehrt aber auch Profit-Aktiengesellschaften gut, ein Mitglied aus einer NGO zu haben. Im Management von Anspruchsgruppen, gesellschaftlichen Entwicklungen oder ethischen Aspekten könnten Wirtschaft und NGOs voneinander lernen. Dies findet noch wenig statt.

Haben Spezialistinnen aus dem gemeinnützigen Sektor umgekehrt Chancen auf eine strategische Position in einem KMU?
Eher rekrutieren NGOs Fachpersonen aus der Wirtschaft als umgekehrt. In strategischen Gremien von NGOs gibt es in der Schweiz signifikant mehr Frauen als in Aktiengesellschaften. Hier ist erkennbar, dass Frauen eher bereit sind, unentgeltlich zu arbeiten. Dies wird abnehmen. Ich meine, dass ein professionelles Gremium eine professionelle Honorierung benötigt.

Laut Schillingreport 2014 haben VR einen Frauenanteil von 13 Prozent. Warum lehnt Getdiversity eine gesetzliche Quote für Frauen ab?
Eine gesetzliche Quote betrifft lediglich börsenkotierte Unternehmen und diejenigen, in denen Bund, Kantone oder Gemeinden eine Mehrheit haben. Wir sprechen konkret von weniger als 1000 Unternehmen, die von einem Gesetz betroffen wären. Ein verschwindend kleiner Anteil an den rund 300 000 Aktiengesellschaften in der Schweiz. Das Argument der Vorbildfunktion gilt leider auch nicht, wie Norwegen zeigt. Dort gibt es seit vielen Jahren eine gesetzliche Quote. Der Anteil an Frauen in den Unternehmen, welche dieser Quote nicht unterliegen, ist jedoch nicht signifikant angestiegen.  

Welche Massnahme empfehlen Sie stattdessen?
Getdiversity propagiert die Quote im Auswahlprozess. Untersuchungen zeigen, dass dort viele Fallstricke liegen. Wenn neun Männer und eine Frau als Kandidaten nominiert sind, hat die Frau fast keine Chance, weil Kriterien zur Anwendung kommen, die für Männer sprechen. Allerdings habe ich persönlich kein Problem damit, als Quotenfrau in ein Gremium gewählt zu werden. Denn nur wer im Gremium drin ist, kann seine Kompetenz unter Beweis stellen und die Gegner Lügen strafen.

Manch Schweizer Personalvermittler ist der Meinung, dass Frauen für Top-Funktionen fehlen. Wie sehen Sie das?
In der Schweiz gibt es genügend Frauen für Verwaltungs- oder Stiftungsräte. Für ein VR-Mandat kann mit einem durchschnittlichen jährlichen Aufwand von zehn Arbeitstagen gerechnet werden. Ein solches Mandat lässt sich zusätzlich zu einer anspruchsvollen operativen Tätigkeit ausüben. Problematischer sehe ich eine Frauenquote auf operativer Ebene, weil hier die kritische Masse zum aktuellen Zeitpunkt noch fehlt.

Welche Eigenschaften müssen sich Frauen von Männern abschauen, um Karriere zu machen?
Frauen sollen Männer nicht kopieren, sonst bringen sie keinen Mehrwert. Etwas kritisch formuliert, dürften Frauen toleranter für Misserfolge werden. Frauen nehmen vieles schnell persönlich, Männer sind robuster. Frauen suchen Wohlbefinden, Männer das Prestige. Frauen brauchen ein gesundes Selbstbewusstsein, ohne zu Einzelkämpferinnen zu werden. Männer pflegen eine Buddies-Kultur, sie portieren sich gegenseitig. Frauen machen eine Ausbildung nach der anderen und hoffen, dass dies mit einem Karriereschritt honoriert wird. Sie unterschätzen, dass diese geballte Ladung an Wissen und Kompetenz das Gegenüber verschrecken kann. So stellen wir fest, dass Unternehmer aus dem KMU-Umfeld ohne akademische Ausbildung oft Berührungsängste mit Frauen mit MBA und Doppelstudium haben.

Welche drei Massnahmen würden Sie lancieren, um mehr Frauen in Top-Führungspositionen zu bringen?
Erstens würde ich bei allen Rekrutierungen die Quote im Auswahlprozess fordern. Dadurch kämen systematisch mehr Frauen in das Auswahlverfahren. Zweitens sollte jede Frau, die bereits in einem Verwaltungsrat engagiert ist, bei der nächsten Vakanz einen geschlechtergemischten Auswahlprozess anstossen und sich für Frauen stark machen. Dies ist leider nicht immer der Fall. Und drittens müssen Frauen den Mut aufbringen, sich interessiert zu zeigen, beruflich in Erscheinung zu treten und sich auf Vakanzen zu bewerben. Sie dürfen nicht abwarten, bis sie gefunden werden, sondern müssen ihr Netzwerk pflegen und ihre Erwartungen und Ziele äussern.

Wie verändert sich die Vielfalt in einem Verwaltungsrat über den Platz für eine Frau hinaus?
Frauen, die in Verwaltungsräte gewählt werden, sind in der Regel jünger als ihre männlichen Kollegen, sie sind zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig. Für Männer ist es oft die «Karriere nach der Karriere». Getdiversity portiert auch Kandidatinnen, die auf den ersten Blick nicht perfekt zum Anforderungsprofil passen, bei denen wir aber aufgrund des Werdeganges und der Erfahrungen überzeugt sind, dass sie gut ins Gremium passen. In vielen Fällen wurden dann am Schluss genau diese Frauen gewählt.

Warum sollen mehr Frauen in Verwaltungs- oder Stiftungsräte gewählt werden?
Ich bin überzeugt, dass mehr Frauen in der Wirtschaft auch das Wirtschaften verändern würden, denn Frauen denken menschlicher und vielfältiger. Mit mehr Frauen würden mehr Anspruchsgruppen Gehör finden.

Getdiversity
Gründung Getdiversity wurde 2007 von den Unternehmerinnen Barbara Rigassi und Michèle Etienne gegründet. Die beiden Frauen mit Promotion und breiter Erfahrung sind Mitglieder mehrerer Verwaltungsräte.
Co-Inhaberin Neben Getdiversity berät Michèle Etienne, 43, seit 1999 mit eigener Firma Organisationen im Bereich Strategie- und Organisationsentwicklung. Die Mutter zweier Kinder joggt, fährt Velo und geht langlaufen. Michèle Etienne lebt mit ihrer Familie im Kanton Bern.

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