«der arbeitsmarkt» 12/2013TEXT: Mario Walser
Massschuhe

Edles Leder aus dem Koffer

Die Brüder Gian-Luca und Florian Cavigelli versorgen ihre anspruchsvolle Kundschaft mit massgeschneiderten Schuhen. Mit ihrem mobilen Unternehmen «lemajordome» stellen sie sicher, dass sich die Füsse nicht nur abends in Finken wohl fühlen. 

London, Barcelona, Seoul, Moskau, St. Moritz – Gian-Luca Cavigelli, 25, war in seiner Zeit als Spitzensnowboarder für Wettkämpfe und Werbeaufträge weltweit erfolgreich unterwegs. Florian, sein um eineinhalb Jahre älterer Bruder, war ein aufstrebender Banker. Beide haben ihre vielversprechenden Karrieren aufgegeben, um den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Nicht etwa als Finanzberater oder Snowboardproduzenten, was naheliegen würde. Die beiden Freiburger mit Bündner Herkunft verkaufen seit zehn Monaten elegante, rahmengenähte Schuhe, die im sogenannten «Goodyear welted»-Verfahren (siehe Kasten) angefertigt werden. Damit sind sie nicht die Ersten. Liebhaber edler Massschuhe werden in der Schweiz bereits von diversen Anbietern umsorgt. Auch drängen im Zuge der E-Commerce-Revolution immer mehr Onlineshops in den Markt, die individuell angepasstes Schuhwerk feilbieten. Das Besondere am Konzept von «lemajordome» ist die Einfachheit.

Geschäft im Überseekoffer

Ihr Schuhladen, der eigentlich gar keiner ist, besteht aus ein paar abgewetzten Überseekoffern, die es in sich haben. Ausgestattet mit einem Fussscanner, Leder- und Sohlenmustern, verschiedenen Vorzeigemodellen und Accessoires wie Schuhspannern, Pflegecremen und Schuhlöffeln, dienen sie gleichzeitig als Ausstellungs- und Arbeitsfläche. Zwei iPads mit Zugang zur Website, auf der die Schuhe bestellt werden können, ergänzen die mobile Ausstattung. Nebst der Kundenbetreuung im Geschäft können die beiden Schuhfetischisten so problemlos Firmen besuchen oder ihr Konzept an Ausstellungen präsentieren.

In einem Haus aus dem 13. Jahrhundert an der Marktgasse im Niederdorf befindet sich die Zürcher Niederlassung. Die hohen, mit der Patina der Zeit versehenen Räumlichkeiten sind gefüllt mit alten, übereinandergestapelten Holztischen, mächtigen Spiegeln und ausgestopften Greifvögeln. Die zwei quicklebendigen Katzen Kaia und Mia betrachten den Laden als ihr Wohnzimmer. Sie gewähren, zusammen mit ihrem Besitzer Dölf Bachmann, einem alteingesessenen Tischbauer, dem Start-up Gastrecht. Nach dem gleichen Prinzip ist auch die Lausanner Dépendance von «lemajordome» an der Avenue de Sévelin aufgebaut. Diese Niederlassung führt der Dritte im Bunde, Gonzague Bongard, Mitbegründer und Partner der Cavigelli-Brüder.

Wer auf die Schnelle Schuhe kaufen will, ist bei «lemajordome» an der falschen Adresse. Hier werden diese erst nach einer intensiven Verkaufsberatung in Auftrag gegeben. Der Prozess setzt sich zusammen aus einem Vorgespräch, dem digitalen Massnehmen mittels Fussscanner, dem gemeinsamen Zusammenstellen des gewünschten Schuhs und der Anprobe eines Musterexemplars. Ist der Auftrag unterschrieben und die Bezahlung erfolgt, gehen die neuen Treter in die Produktion. Nach rund zwei Monaten wird der Schuhbesitzer zur Anprobe geladen – Geduld ist also gefragt. «In einem Paar Schuhe stecken 40 Arbeitsschritte. Allein das Vorgespräch beim ersten Rendezvous in unserem Laden dauert mindestens eine halbe Stunde», sagt Gian-Luca Cavigelli.

Überraschung aus dem Scanner

Genau dieses Konzept begeistert den Kunden, der in diesem Moment den Laden betritt und sich ganz spontan auf das Schuhabenteuer einlässt. Nachdem der obligate Kaffee serviert und das Herstellungsprinzip in charmanten Worten erklärt ist, zieht sich der Mann mit dem rauschenden grauen Vollbart die Schuhe aus und steht barfuss auf den Scanner. Er ist überrascht, dass sein linker Fuss rund einen halben Zentimeter länger ist als der rechte. Für Gian-Luca Cavigelli, der den Kunden bedient, ist das nicht ungewöhnlich: «Wichtig ist, dass das Schuhwerk diese anatomischen Voraussetzungen berücksichtigt und der Kunde sich wohl fühlt, wenn er die Schuhe trägt.»

Sind die Füsse digital erfasst, geht der Kunde im Laden einige Meter in Musterschuhen. Denn die persönliche Wahrnehmung des Kunden ist ebenso wichtig wie die gemessenen Ergebnisse.Anschliessend hinterlegen die Jungunternehmer die Daten im digitalen Leistenbuch und im Kundenprofil. «Von diesem Moment an kann unser Kunde jeden Schuh aus unserer Kollektion auch online bestellen», sagt der ehemalige Snowboardprofi.

Nun erfolgt die eigentliche Komposition des Objektes der Begierde. «Im Prinzip ist alles machbar, aber beim ersten Paar raten wir unseren Kunden zu einem klassischen Modell in Schwarz oder Braun mit einer Ledersohle. Denn der Schuh soll kein Ausstellungsobjekt sein, sondern möglichst oft getragen werden», sagt der ehemalige Banker Florian Cavigelli.

Bei der Kreation kann der Kunde zwischen zwei verschiedenen Schuhspitzen, 20 Lederfarben sowie sechs verschiedenen Sohlen wählen. «Wir bieten zudem die Option, die Schuhe mit Lammfell zu füttern», fügt Florian Cavigelli hinzu.

Der von Gian-Luca Cavigelli beratene Kunde hat genaue Vorstellungen. Seine Wahl fällt auf eine Chelsea-Stiefelette in mehrfarbig schimmerndem Rainbowleder mit klassischer Ledersohle zum Preis von 630 Franken. Nachdem er die Einkaufstaschen geschultert hat, bedankt er sich für die kompetente Beratung und verlässt den Laden.

Passion als Fundament

Das ist Balsam für die Seelen der beiden Schuhverkäufer, denn sie können weder auf eine Verkäuferlehre noch auf eine lange Familientradition im Schuhmachergewerbe zurückgreifen. Ihr Fachwissen über Schuhe und deren Herstellung haben sie sich während der vielen Reisen durch Italien, Spanien, Portugal und die Türkei zu den möglichen Produktionsstätten und Manufakturen erworben, die der detaillierteren Ausarbeitung des Konzeptes dienten.

Inneres Feuer und Unternehmergeist bilden das geschäftliche Fundament der Freiburger: «Schöne, ästhetische Objekte, auch Schuhe, haben uns schon immer magisch angezogen», sagt Florian, der Ältere. Sein Bruder nickt. Doch auch bei ihren früheren Tätigkeiten konnten sie Rüstzeug für ihr Unternehmen sammeln: «Wollte ich als Snowboarder einen neuen Sprung erlernen, geschah das anhand von präzisen Abläufen. Das kommt mir heute auch als Geschäftsmann zugute», ist Gian-Luca Cavigelli überzeugt.

Das zur Umsetzung ihrer Geschäftsidee notwendige kleine Finanzpolster stammt aus der Familie. So übernahmen die beiden Väter der drei Geschäftspartner – selbst Kompagnons in einem Immobilienunternehmen – die Funktion als «Business Angels»; sie beteiligten sich an der Finanzierung des Startkapitals. Bei der Ausarbeitung des Businessplans standen sie ebenfalls mit Rat und Tat zur Seite.

Der familiäre Hintergrund gibt den Jungunternehmern Sicherheit und Kraft, stellt sie aber auch immer wieder vor neue Herausforderungen: «Familiäre und geschäftliche Angelegenheiten zu trennen, ist nicht immer leicht, weil eine gewisse Emotionalität mitschwingt», sagt Florian Cavigelli mit einem verschmitzten Lachen. Sein Bruder ergänzt: «Wir wählen die Worte bei unseren wenigen geschäftlichen Meinungsverschiedenheiten sicher bedachter, als wenn wir nur Geschäftspartner wären.» 

Nicht günstig, aber langlebig

Um Schuhe von «lemajordome» zu erstehen, ist zuerst einmal ein tieferer Griff ins Portemonnaie nötig als bei bekannten Schuhhandelsketten – rund 430 Franken kosten die günstigsten Modelle. Je nach Qualität von Leder, Innenfutter und Sohle muss ein Kunde für einen etwas ausgefalleneren Schuh mit bis zu 800 Franken rechnen.

Günstig ist anders. Das ist auch den beiden Schuhliebhabern klar. Trotzdem sind sie sich einig: «Ein hochwertiger, rahmengenähter Schuh ist auf die Länge nicht teurer als ein in Massenproduktion gefertigter Schuh mit geklebter Sohle, der meist schon nach einem Jahr in der Mülltonne landet», sagt Gian-Luca Cavigelli.

Die Brüder lassen die erlesene Ware deshalb im Südosten Spaniens von Schuhhandwerkern mit langjähriger Erfahrung anfertigen, so wie das auch namhafte englische Schuhhersteller tun. «Trägt der Kunde den rahmengenähten Schuh nur jeden zweiten Tag und wird dieser bei Bedarf fachmännisch repariert, hat er eine Lebensdauer von mindestens fünf Jahren», sagt Florian Cavigelli. Würden im Verlauf der Jahre mehrere Paare angeschafft, seien auch Lebensdauern von 15 bis 20 Jahren keine Seltenheit. Deshalb sehen die Cavigelli-Brüder im Kauf von hochwertigen Schuhen auch einen Beitrag zu nachhaltigem Konsumverhalten.

Die Cavigellis sind von ihrer Geschäftsidee überzeugt, auch wenn sie damit kein neues Produkt auf den Markt bringen: «Wir wollten das Rad nicht neu erfinden, aber durch die Verknüpfung von Onlineauftritt und physischer Präsenz in Form unserer beiden Läden in Zürich und Lausanne können wir unsere Kunden Schritt für Schritt bei der Kreation ihrer Schuhe begleiten», sagt Gian-Luca Cavigelli.

Das Kofferkonzept findet vermehrt auch bei ausländischen Kunden Anklang. Nicht nur Schweizer Banker und Studenten mit einem Schuhtick leisten sich die exklusiven Treter. Dank der guten Passantenlage des Geschäftes, mitten im Zürcher Niederdorf, lassen sich Touristen aus aller Welt die Füsse ausmessen, ein Kundenprofil anlegen und sich das edle Schuhwerk nach Hause liefern.  

Genäht oder geklebt 
Geschichte
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts massen Schuhmacher die Kundenfüsse immer individuell aus. Anhand dieser Daten fertigten sie die Schuhe in Handarbeit. Nachdem findige Köpfe in den USA die ersten Maschinen zur industriellen Produktion entwickelt hatten, kamen die Konfektionsschuhe auf. Heute besteht der grösste Teil der verkauften Ware aus Konfektionsschuhen. Pro Jahr erwerben Herr und Frau Schweizer fünf bis sieben Paar davon und verhelfen dem Schweizer Schuhmarkt so zu einem geschätzten Umsatz von rund zwei Milliarden Franken. Massschuhanbieter sind heute eher auf einen gutbetuchten Kundenkreis ausgerichtet. 
Herstellung Der Ausdruck «rahmengenäht» bezeichnet eine spezielle Machart: Die Verbindung des Schuhschaftes, also des oberen Teils aus Leder, und der Sohle ist bei rahmengenähten Schuhen nicht verklebt, sondern vernäht. Der Rahmen – ein schmaler Lederstreifen – wird von unten an den Schaft genäht. Eine weitere Naht, die Doppelnaht, verbindet die Laufsohle mit dem Rahmen. Werden spezielle, von Charles Goodyear Junior patentierte Nähmaschinen für die Verbindung von Laufsohle und Rahmen eingesetzt, ist von «Goodyear welted» die Rede. Der Löwenanteil aller rahmengenähten Schuhe wird so hergestellt.  

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