«der arbeitsmarkt» 01/2012

Die Sarasin-Dynastie

Vor 384 Jahren erlangte in Basel ein Immigrant das Bürgerrecht. Sein Name: Gedeon Sarasin. Dessen Nachkommen wurden als Händler, Fabrikanten und schliesslich Bankiers bekannt. Die Geschichte einer Schweizer Unternehmerfamilie mit Migrationshintergrund.

Burckhardt, Koechlin, Merian, Stähelin, Vischer, Wackernagel – alles wohl tönende Namen der Basler Patrizierfamilien. Nicht fehlen darf freilich: Sarasin. Wer heute diesen Namen hört, denkt an die Privatbank. Die Unternehmerdynastie gehört zum Basler «Daig», einem exklusiven Kreis alteingesessener, diskret wohlhabender Familien. Doch die Wurzeln dieser heute als urbaslerisch wahrgenommenen Sarasins reichen zurück nach Frankreich zu den Hugenotten.

Gedeon Sarasin, Emigrant

Am Anfang stand die Flucht. Im 16. Jahrhundert hatte Gedeon Sarasins Vater Regnault seine Heimat im lothringischen Pont-à-Mousson im Zuge der Gegenreformation verlassen müssen. Grund: Der Mann reformierten Glaubens weigerte sich, in die katholische Kirche zu gehen und der «reinen Lehre Christi» zu folgen. Als die Verhältnisse für Reformierte in der Stadtrepublik Metz, im Nordosten Frankreichs, auch für Sohn Gedeon unhaltbar wurden, sah er sich zum Auswandern gezwungen. Sein Weg: Frankenthal, Strassburg, Mariakirch, Colmar. Sein Ziel: Basel, welches zu jener Zeit ein Verkehrszentrum ersten Ranges mit regem Handel und Gewerbe war. Im Jahr 1628 wurde der Flüchtling und Händler Gedeon Sarasin Basler Bürger. Aus armer Familie stammte der gläubige Hugenotte nicht: Schon der Stammherr Regnault hatte in Metz Magistratsämter inne und gehörte dem Patriziatsadel an.

Asyl in der Alten Eidgenossenschaft

Zur Zeit, als Gedeon Sarasin als Glaubensflüchtling nach Basel kam, sah die Asylpolitik in der Alten Eidgenossenschaft in wesentlichen Aspekten nicht anders aus als heute in der Schweiz. Die Behörden nahmen die – hugenottischen – Flüchtlinge auf, verpflegten sie und gaben ihnen eine Gelegenheit zum Schlafen, aber sie stellten ihnen auch Reisepässe aus, damit sie weiterreisten. Die Alte Eidgenossenschaft war damals ein armes Land; die eigenen Leute hatten kaum genug zu essen. So gab es schon damals Klagen über Asylrechtsmissbrauch und Diskussionen darüber, was echte und was unechte «Exulanten» seien.

Im boomenden Basel dagegen konnten viele eingewanderte Händler wie Gedeon Sarasin das Bürgerrecht erwerben. Von hier aus führten sie ihre Transport-, Handels- und Geldgeschäfte weiter. Sie waren in der Stadt willkommen, da sie lukrative Gewerbe und wichtige Handelsbeziehungen mitbrachten und die Stadt damit wirtschaftlich belebten. Öffentliche Ämter konnten Einwanderer im Jahr ihrer Aufnahme in das Basler Bürgerrecht noch keine bekleiden. Schon ab der dritten Sarasin-Generation jedoch finden sich ihre Sprösslinge im Grossen Rat, im Kleinen Rat, im Dreizehnerrat, in Kirchenämtern, als Richter. Und sie werden auch bald «zünftig» – angesehene Zunftmitglieder.

Warenhandel, erste Manufaktur

Ursprünglich war der Handel das Kerngeschäft der Sarasins, wie auch vieler anderer Hugenotten. Tuche aus Paris und Seidenstoffe aus Savoyen transportierten sie hauptsächlich nach Deutschland und verkauften sie dort. Basel war für dieses Geschäft ein idealer Ausgangspunkt. Bereits die älteren Sarasins hatten in Frankreich Tuchhandel betrieben. Diese französischen Vorfahren schrieben sich oftmals noch Sarazin – im Mittelalter waren damit Sarazenen gemeint, und einer Familiengeschichte zufolge war der Urstammvater der Sarasins tatsächlich ein Sarazene, ein Muslim also.

Der 1649 geborene Hans Franz Sarasin, ein Sohn Gedeons, begründete zwischen 1680 und 1690 die erste Bandfabrikation Basels. Die Bandfabrikation bildete im 17. Jahrhundert einen wichtigen Wirtschaftszweig. Sie ist eine Technik zur Herstellung von Bändern und anderen schmalen Textilien mit beidseitig festen Kanten. Textile Bänder fanden für technische Zwecke Verwendung und wurden für Zieranwendungen benutzt.

Dieses prosperierende Gewerbe blieb während mehrerer Generationen in den Händen der Familie Sarasin. Das Blaue und das Weisse Haus an der Martinsgasse zeugen noch heute vom damit früh erworbenen Reichtum der Familie. Die beiden Brüder Lukas und Jakob hatten sie in den Jahren 1762 bis 1769 erbauen lassen.

Neue Fabriken, erste Geldgeschäfte

Am Anfang der erfolgreichen Tätigkeiten der nunmehr 13 Sarasin-Generationen in der Schweiz stand also der Zwischenhandel. Sie waren nicht mehr «Pariser Warenkrämer», sondern «Basler Warenkrämer». Das Geschäftsfeld erweiterte sich sukzessive. Neben der Bandfabrikation beteiligte sich Hans Franz Sarasin bereits 1660 an Firmen, die im Verlagssystem und in Manufakturen wollene und seidene Strümpfe produzierten: die «Strümpf-Fabrique»; später kam eine «Floret-Band-Fabrique» dazu. Diese Firma Leisler, Sarasin und Leisler machte auch Geldgeschäfte. Sie finanzierte unter anderem einen grossen Teil der Kriegsgeldbeträge, die das Herzogtum Württemberg an Frankreich bezahlen musste – der erstmalige Auftritt der Sarasins als «Banquiers».

Die Sarasins engagierten sich im Verlauf der ersten zehn Generationen in vielen Bereichen. Der Historiker Hans Joneli stellt in seiner 1928 publizierten Chronik «Gedeon Sarasin und seine Nachkommen» eine Statistik der «Berufsabteilungen» und «Berufsarten» auf: 31 Prozent der Sarasins waren als Bandfabrikanten tätig; 27 Prozent als Handelsleute. Unter den übrigen finden sich, wenig zahlreich und gleichmässig verteilt: Gutsbesitzer, Tabakfabrikanten, Architekten, Baumwollfabrikanten, Lohnherren, Ärzte, Lehrer, Pfarrer, Gelehrte, Kunstmaler, Rentner, Lehrlinge und Bankiers.

Die calvinistischen Tugenden

Die aus Frankreich stammende Sarasin-Dynastie war geprägt durch den reformierten Glauben, der sie aus der einstigen Heimat getrieben hatte. Offensichtlich führten die calvinistischen Tugenden zum Erfolg. Ernst Sarasin beschreibt diese im Vorwort der Familienchronik von Hans Joneli so: «Eine Besonderheit der Puritaner war äusserste Einfachheit in ihrer Lebenshaltung: die Sparsamkeit trieben viele bis in die unwahrscheinlichsten Kleinigkeiten direkt als Sport. Diese Züge finden wir wieder in den Refugianten aus Frankreich, und in manchen Hugenottengeschlechtern in Basel und anderwärts haben sie sich bis auf den heutigen Tag unverkennbar erhalten.» Die Kerntugend eines Privatbankiers, die Diskretion, geht damit Hand in Hand.

Ein einziger Hinweis auf ein schwarzes Schaf im weit verzweigten Clan liess sich finden. Von mehr als einem Skandälchen ist jedoch nicht zu berichten. Und das liegt schon weit zurück (Jakob Sarasin wurde 1742 geboren). Über ihn berichtet ein Chronist: «Jakob befand sich allerdings mit den Traditionen der Familie im Widerspruch, wenn er als Schöngeist und Freund so vieler Dichter und Gelehrter Einnahmen und Ausgaben nicht in das rechte Verhältnis brachte und statt Reichtümer zu sammeln, mit vornehmer Generosität Freunde und allerlei Unternehmungen mit seinem Vermögen unterstützte.» Zu diesen Freunden gehörte etwa der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi.

Und die Frauen?

Wenn es darum geht, eine Dynastie zu festigen und für die Zukunft fit zu machen, kommt der richtigen Wahl der Ehepartnerin eine wichtige Rolle zu. Es genügt, aus der Chronik einige Doppelnamen zu lesen, und man stellt fest, dass sich in Sachen strategische Heiratspolitik die Sarasins wie Adlige verhielten: Peter Sarasin-Du Fay, Peter Sarasin-Burckhardt, Hans Franz Sarasin-Burckhardt, Jakob Sarasin-Battier, Benedikt Sarasin-Sarasin, Ludwig August Sarasin-Merian, Karl Sarasin-Vischer, Wilhelm Emanuel Sarasin-Iselin, Jakob Albert Sarasin-Geigy, Gedeon Karl Sarasin-Speiser – alle Zutaten des Basler Daigs sind hier versammelt. Die «Sarazenen» gehörten zum Kuchen der Stadtbasler Oberschicht.

Das Bankgeschäft wird zur Hauptsache

Im 20. Jahrhundert wurde das Geldgeschäft schliesslich zum wichtigsten Tätigkeitsfeld. Im Jahr 1900 übernahm Alfred Sarasin-Iselin, der schon zuvor Teilhaber gewesen war, das Ruder des 1841 von Johannes Riggenbach gegründeten Geldinstituts. Unter seiner Führung entwickelte sich die Bank Sarasin & Cie zu einer der renommiertesten und traditionsreichsten Schweizer Privatbanken. Alfred Sarasin-Iselin, Musterbeispiel eines Patrons und Unternehmers, war auch an vielen anderen Fronten tätig: Mitgründer der Schweizerischen Bankiervereinigung, Präsident des Bankrates der Nationalbank, Förderer der Elektrizitätswirtschaft und des Eisenbahnbaus, Politiker.

Alfred Sarasin-Iselin führte die Bank mit dem Eichbaum, der das Eisengitter über der Eingangstüre schmückte, während Jahrzehnten erfolgreich, «in der Vermögensverwaltung festen Prinzipien folgend», wie Thomas Vonaesch, Leiter Private Banking Basel der Bank Sarasin, im Geldmagazin «Private» schreibt. Gemeint ist wohl in erster Linie die Diskretion.

1987 wurde die Privatbank in die Rechtsform einer Kommanditgesellschaft überführt. Dabei hafteten die teilhabenden Bankiers weiterhin mit ihrem persönlichen Vermögen.

Ende 2006 erwarb die holländische Rabobank zusätzliche Anteile und hielt damit 46 Prozent des Aktienkapitals und 69 Prozent der Stimmrechte. Kommentar der «Bilanz»: «Fast ging dabei unter, dass sich mit diesem Schnitt die Gründerfamilie verabschiedete.» Wie konnte es geschehen, dass sich fast die gesamte Familie vom eigenen Unternehmen trennte? Nochmals die «Bilanz»: «445 Millionen Franken, heisst die Antwort. So viel lösten die zwölf Teilhaber.» Dies waren mehrheitlich Angehörige der weit verzweigten Familie Sarasin.

Als sich im Jahr 2007 Eric und Andreas Sarasin aus der Geschäftsleitung der Bank zurückzogen, blieb Yves Sarasin als letzter Angehöriger des Sarasin-Clans dabei – in fünfter Bankergeneration. Seit 2009 zieht er mit der Vertretung der Bank Sarasin in Warschau polnische Privatvermögen an. Somit ist die 160-jährige Bankgeschichte der Hugenottenfamilie doch noch nicht am Ende. Geblieben ist auch der gute Name «Sarasin & Cie AG».

Sarasin – heute ein Name unter vielen

Werfen wir noch einen Blick auf die anderen zeitgenössischen Sprösslinge und googeln den klangvollen Namen Sarasin. Wir finden: die Irma Sarasin-Imfeld-Stiftung, den Genfer Filmemacher Jacques Sarasin, den Geschichtsprofessor Philipp Sarasin, die Antoinette Sarasin Weight & Vitality Concepts, das Sarasin Swiss Open-Tennisturnier, die Fritz Sarasin-Stiftung, die Puppenspielerin Barbara Sarasin-Reich, Charles Eric Sarasin, Internal Auditor bei Georg Fischer, und die Schauspielerin Stephanie Sarasin.

Zu Ende ist damit die Ära eines relativ homogenen Familienclans, der im Handel, in der Textilbranche und im Bankenwesen Geschichte schrieb und dessen Migrationsspuren mit der Zeit verblassten. Den heutigen Sarasins geht es nicht anders als den Hubers und Meiers: Sie behaupten sich in einer komplexer gewordenen Gesellschaft in verschiedenartigen Berufen und Bereichen.

Bestens integriert

Glaubensflüchtlinge Im Jahr 1525 verliessen die ersten evangelischen Glaubensflüchtlinge Frankreich – die Hugenotten. Die katholische Kirche hatte sie in der Zeit der Gegenreformation immer stärker unter Druck gesetzt und vertrieben. Insgesamt waren es mehr als eine Viertelmillion Menschen, die bis 1685 Frankreich verliessen und in den umliegenden protestantischen Ländern ihr «Refuge» fanden. Da sie meist der bürgerlichen Oberschicht oder dem Adel entstammten, umwarben sie die Fluchtländer zum Teil und statteten sie mit Privilegien aus.

Schweizer «Refuge» In den reformierten Kantonen (Genf, Neuenburg, Waadt, Bern, Graubünden, Schaffhausen, St. Gallen, Zürich, Bern) liessen sich etwa 20 000 Hugenotten dauerhaft nieder. Sie machten in einigen Städten bis zu 30 Prozent der Einwohnerzahl aus: Genf etwa wuchs zwischen 1680 und 1720 um 4000 Einwohner. Viele Hugenotten reisten weiter.

Die Städte bürgerten die Flüchtlinge nur schleppend ein. Für das Verfahren mussten die Hugenotten in der Regel viel Geld bezahlen.

Schweizer Unternehmer Im 16. Jahrhundert florierte die schweizerische Wirtschaft. Viele hugenottische Einwanderer trugen zum Wachstum von Handwerk und Gewerbe bei. Sie bereicherten und belebten das Textilgewerbe: Seidengewebe wie Lamé, Taft und Rips, gefärbte und bedruckte Baumwollstoffe, Mousseline, seidene Halstücher und Strümpfe und seidene Bänder – alles modische Neuheiten aus hugenottischer Produktion. Im Handel – Import von Rohstoffen und Export von Fertigwaren – und bei den Banken standen die Hugenotten an vorderster Front. Diese Wirtschaftszweige gehörten um 1700 noch eng zusammen. Wenige Familien hatten diese Branche in der Hand, darunter viele hugenottische wie die Sarasins in Basel. Diese sind ein Paradebeispiel dafür, wie schnell die Hugenotten in der Schweizer Gesellschaft ihren Platz fanden.

Zur PDF-Version: