«der arbeitsmarkt» 01/2007

Die Lehre vor der Lehre

Immer mehr Jugendliche ohne Lehrstelle finden über ein Praktikum den Einstieg in die Arbeitswelt. Drei Beispiele aus den Kantonen Schwyz und Zürich.

Mehr als 250 Bewerbungen hat Fatos Sünbül im 10. Schuljahr der Berufswahlklasse verschickt. Sie versuchte es im Detailhandel, im Service, als Pflegefachfrau, als Kleinkindererzieherin, und immer hörte sie die Antwort: «Nein, danke.» Der Berufsberater gab ihr schliesslich den Tipp, sich als Praktikantin bei der Tamoil-Tankstelle in Dietikon zu melden. Dort konnte sie dann zwei Tage schnuppern und hat sich auf Anhieb bestens mit ihrem Chef und den andern Teammitgliedern verstanden. Seit dem letzten August arbeitet sie dort vier Tage in der Woche und besucht an einem Tag die Berufsschule in Zürich, wo sie zusammen mit andern Praktikantinnen und Praktikanten in Grundfächern wie Deutsch und Mathematik oder auch Englisch geschult wird.
Weil zahlreiche andere Jugendliche ähnlich schlechte Erfahrungen bei der Lehrstellensuche machen, gibt es seit einigen Jahren das so genannte Brückenangebot, damit möglichst viele doch noch zu einer Lehre kommen. Fatos Sünbül ist froh, über diesen (Um-)Weg den Eintritt ins Berufsleben gefunden zu haben. Auch wenn es ihr manchmal noch schwer fällt, für die Frühschicht, die schon um Viertel vor sechs Uhr beginnt, rechtzeitig aufzustehen. Zur Arbeit gehören auch Samstags- und Sonntagsdienste. Im Dietiker Tankstellenshop verrichtet sie dieselben Tätigkeiten wie die übrigen zehn Angestellten: Sie füllt Warengestelle und den Zeitschriftenständer auf, schickt alte Magazine zurück an den Verlag, bedient die Kasse und serviert in der angegliederten Bar Kaffee und Snacks. «Es gefällt mir gut hier und ich hoffe, im nächsten Sommer mit der dreijährigen Lehre als Detailhandelsangestellte beginnen zu können.» Ein Ziel, das auch von ihrem Vorgesetzten unterstützt wird – einzig das Okay von der Valora-Zentrale in Basel ist noch ausstehend.
Bei Valora, die neben Tankstellenshops auch die meisten Kioske der Schweiz bewirtschaftet, sind im Moment rund 40 Jugendliche in Praktika beschäftigt. «Wir haben damit überwiegend positive Erfahrungen gemacht und einige der Praktikanten sind bereits für die Detailhandelslehre ab Sommer 2007 vorgesehen», erklärt dazu Beatrice Thommen, die als Personalfachfrau für die Praktika im Unternehmen zuständig ist.

Kein verlorenes Jahr, auch wenn es manche so sehen

Dass Jugendliche den Einstieg ins Berufsleben erst über ein Praktikum schaffen, liegt nach Meinung von Stefan Zehnder, Rektor des Berufsbildungszentrums Pfäffikon SZ, einerseits an den Jugendlichen selbst, weil in ihrem Wunschberuf keine Lehrstellen verfügbar oder Kompetenzen und Reife noch nicht genügend entwickelt sind, andererseits aber auch an der Volksschule, wo die Jungen zum Teil falsch vorbereitet würden: «Oft machen die Lehrpersonen ihren Schülern falsche Hoffnungen. Wenn sich etwa ein Realschüler für eine Lehre als Informatiker bewerben soll, wo er sowieso keine Chance hat.» Er sieht es denn auch nicht als verlorenes Jahr für die Jugendlichen, wenn sie vor der eigentlichen Lehre ein Jahr als Praktikanten gearbeitet haben.
Anders beurteilt dies Hajriz Berisha, der zurzeit für ein Jahr im Hausdienst der Pfäffiker Berufsschule beschäftigt ist: «Ich rate allen Jugendlichen, möglichst gleich nach der Schule mit der Lehre zu starten. Damit sie kein Jahr verlieren.» Er selber hatte aber als Absolvent einer Werkklasse trotz guter Schulnoten keine Chance, auf Anhieb eine Lehrstelle in seinen Wunschberufen Sanitär-installateur oder Carrosseriespengler zu finden. Und auch zwei seiner Freunde haben erst nach einem Praktikum die Lehre antreten können. Jetzt sieht es für Hajriz Berisha ebenfalls besser aus und wahrscheinlich kann er im nächsten Sommer bei einer Sanitärfirma mit der Lehre beginnen. Im Hausdienst der Schule ist er vor allem mit dem Putzen von Schulzimmern und Fluren beschäftigt. Manchmal muss er sich auch um die Umgebung kümmern, kleinere Gärtnerarbeiten ausführen oder mit einer Kneifzange die Zigarettenkippen einsammeln, die Schülerinnen und Schülern auf dem Boden statt im Aschenbecher entsorgten. Für die vier Tage Arbeit pro Woche erhält er im
Monat 450 Franken. «Das ist ein bisschen wenig, denn schon das Billett für Bahn und Bus für den Arbeitsweg kostet 80 Franken im Monat.» Damit trotzdem noch etwas übrig bleibt für Ausgang und Sparbuch, nimmt er jeweils das Mittagessen von zu Hause mit. Entschädigt wird er dafür vom guten Arbeitsklima: «Meine beiden Chefs sind die nettesten Menschen, die ich überhaupt je kennen gelernt habe.»
Zusammen mit Hajriz Berisha besucht auch Mirella Sarli aus Brunnen jeweils am Freitag die Schule des Berufseinführungsjahrs in Pfäffikon SZ. Sie hatte die Realschule abgeschlossen und eine Lehrstelle im Detailhandel gesucht, aber nicht gefunden. Dann wurde sie auf das Brückenangebot aufmerksam und legte im August die Aufnahmeprüfung dafür ab. Im Oktober hat sie von ihrem Berufsberater den Tipp bekommen, sich beim Bingo-Schuhdiscount, einem Vertriebskanal von «Vögele Shoes», zu bewerben. In der Folge hat sie eine Woche geschnuppert und konnte sofort mit dem Praktikum beginnen. Sie arbeitet schon fast wie eine gestandene Schuhverkäuferin und kümmert sich um angelieferte Waren, Dekoration und natürlich die Beratung der Kundinnen und Kunden. Dafür erhält sie im Monat 600 Franken. Und sie hofft, im nächsten Jahr bei
Vögele mit der Lehre als Detailhandelsangestellte beginnen zu können. Sie empfiehlt allen Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden, das Brückenangebot: «Ich habe schon viel im Betrieb und auch in der Schule gelernt. Wobei ich mir wünschen würde, dass dort noch mehr Sprachen unterrichtet würden.» Sehr zufrieden mit ihrer Praktikantin ist Ursula Schmidig, die Filialleiterin des Bingo-Schuhdiscounts. «Sie ist auf jeden Fall eine Bereicherung fürs ganze Team», lobt sie und betont auch die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit ihrer jüngsten Angestellten.
Weil Mirella Sarli ihr Praktikum bei Vögele macht, wird sie zusätzlich zur Berufsschule an zwei Tagen pro Semester in der Firmenzentrale in Uznach unterrichtet. Themen sind Verkaufskunde, spezielle Branchenkunde Schuhe, Warenbewirtschaftung, kaufmännisches Rechnen, Betriebskunde und Lebenskunde. In der ganzen Firma sind im Moment sechs Praktikantinnen und Praktikanten angestellt. «Schülern mit minimaler Ausbildung oder ‹Spätzündern› bieten die Praktikumsstellen eine Möglichkeit, sich während eines Jahres zu bewähren und das notwendige Rüstzeug für eine Ausbildung nachzuholen. Aus diesem Grund beschäftigen wir Jugendliche, die keine Ausbildungsstelle gefunden haben, in Filialen mit pädagogisch erfahrenen Berufsbildnerinnen», erklärt Rudolf Anselm, der bei Vögele für die Ausbildung zuständig ist.

Schriftlicher Praktikumsvertrag und 450 Franken Mindestlohn

Als Lehrer beim Schwyzer Brückenangebot hat Roland Jost in den vergangenen acht Jahren fast nur gute Erfahrungen gesammelt: «Durch die klare Haltung der Lehrpersonen, eine entsprechende Schulvereinbarung und durch das Coaching sind die Jugendlichen eng begleitet. Viele hatten vorher genug von der Schule und haben nun Freude am praktischen Arbeiten. Der Schultag wird dann oft schon als Abwechslung angesehen und geschätzt.» Er glaubt auch nicht, dass die Praktikantinnen und Praktikanten als billige Arbeitskräfte ausgenützt werden: «Sie erhalten einen Mindestlohn von 450 Franken pro Monat. Ein schriftlicher Praktikumsvertrag regelt die Art und die Dauer des Arbeitseinsatzes, die Entschädigung, den Schultag, das Schulgeld, die Versicherungen, die Arbeitszeiten und die Ferien.»
Wie beliebt das Brückenangebot bei den Jugendlichen ist, zeigt auch die Tatsache, dass fast keine der Schülerinnen und Schüler während des Praktikumsjahrs die Schule abbrechen. Und die meisten finden danach auch tatsächlich eine Lehrstelle – oft sogar im Betrieb, wo sie das Praktikum absolviert haben. Auf der anderen Seite ermöglicht das Brückenangebot auch Betrieben, die sonst keine Lehrlinge ausbilden können, etwas für die Ausbildung des Nachwuchses zu tun. Wie zum Beispiel die Schaumstofffabrik Bruhin in Altendorf SZ. «Wir beschäftigen jugendliche Schulabgänger in Praktika, weil ich glaube, dass jeder Unternehmer seine gesellschaftlichen Pflichten wahrnehmen muss und für unsere Jugend etwas tun kann», erklärt Mitinhaber und Geschäftsführer Heinz Winet. In seinem Betrieb bekommen die Praktikanten denn auch die notwendige Freizeit, um auf Lehrstellensuche zu gehen.

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