«der arbeitsmarkt» 04/2007

Der Tausendsassa von Chur

Er begleitet Jugendliche durch verschiedene Lebenslagen und kennt ihre Fragen und Probleme oft aus eigener Erfahrung. Lars Gschwend, ein junger Bündner Jugendarbeiter, erzählt von seinem Werdegang und erklärt, warum er sich mit Haut und Haar für die Sache der Kinder und Jugendlichen engagiert.

Auf die Frage, wann er denn das letzte Mal Ferien gemacht habe, muss Lars Gschwend eine Weile nachdenken. «Das ist schon länger her. So richtig Ferien habe ich das letzte Mal während der Lehre gemacht», erzählt der 24-jährige, eher unscheinbare, aber auf eine natürliche Weise selbstbewusste Bündner. Zurzeit macht er eine Ausbildung zum Religionspädagogen an der Theologischen Fakultät in Luzern. Daneben arbeitet er 20 Prozent in einem Präventionsprojekt des Blauen Kreuzes gegen Alkoholmissbrauch von Jugendlichen. Zudem ist er Präsident des von ihm gegründeten Vereins für Kinder- und Jugendevents «kidsevent.gr», gibt Leiterkurse für die Landeskirchen und organisiert das Bündner Adventstreffen.

Die erste Stelle gleich selbst geschaffen

Es ist etwas los im Leben von Lars Gschwend. Das war nicht immer so. Er war ursprünglich als Kind so introvertiert, dass ihm die Kindergärtnerin verbot, mehr als eine Zeichnung pro Tag zu machen, da er sonst gar nie mit den anderen gespielt hätte. «In der zweiten Primarklasse steckten mich meine Eltern in die Jungwacht, damit ich rauskäme und Kontakt zu anderen Kindern erhielte», erzählt er schmunzelnd. Das habe ihm in den ersten Jahren zwar nicht wirklich gefallen, denn er hätte an diesen Samstagnachmittagen lieber etwas für sich alleine gemacht. Doch nach ein paar Jahren, vor allem auch als er erste Leitungsaufgaben anvertraut bekam, sei ihm bewusst geworden, was für eine Bereicherung die Jungwacht für sein Leben darstellte. Damit wuchs auch sein Wunsch, dies anderen weiterzugeben. Denn die Verbandsaktivitäten bei Blauring/Jungwacht ermöglichen es, Verantwortung füreinander zu übernehmen, erste Führungserfahrung zu sammeln und Eigeninitiative zu entwickeln. Lars sieht darin allgemeine Fähigkeiten, die einen im Leben weiterbringen können. Er ist deshalb auch froh, dass es unterdessen einen Sozialzeitausweis gibt, in dem Jugendliche ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten bestätigen lassen können. Lars geht davon aus, dass gerade bei der heute oft schwierigen Lehrstellensuche solche Aktivitäten eine wichtige Zusatzqualifikation darstellen können.
Aus seiner Tätigkeit bei der Jungwacht heraus entstand mit der Zeit ein breiteres Engagement für die Anliegen der Jugend in Chur. Denn: «In Graubünden bestand bis vor kurzem ein grosser Nachholbedarf an Kinder- und Jugendarbeit.» Noch während er eine Lehre als Elektroniker absolvierte, gründete er zusammen mit Freunden den Jugendverein «Jugendstufe Chur» und setzte sich dafür ein, dass die katholische Kirche Räumlichkeiten für einen Jugendtreff zur Verfügung stellte. Die Kirchenverantwortlichen reagierten anfänglich etwas skeptisch, zumal sie mit vorhergehenden Projekten schlechte Erfahrungen gemacht hatten. In den Diskussionen wies Lars Gschwend darauf hin, dass sie eine Jugendarbeitsstelle schaffen sollten, wenn sie die Jugendarbeit professioneller betreut haben wollten. Er ahnte nicht, dass er mit diesem Vorschlag gerade seine erste eigene Stelle geschaffen hatte. Denn wenig später kamen die Verantwortlichen auf ihn zu und fragten ihn, ob er nicht die neu gegründete katholische Jugendarbeit übernehmen wolle. Für ihn war in jenem Moment klar, dass dies die Chance war, seine bisher ehrenamtlich gelebte Berufung zum Beruf zu machen.
Der katholische Kontext sowohl von Blauring/Jungwacht als auch der Jugendarbeit ist für ihn persönlich zwar von Bedeutung, aber er sieht sich selber als kritisch-katholischen Christen. Von missionarischen Ansprüchen an die Jugendarbeit ist er weit entfernt: «Die Jungen sollen einfach etwas Sinnvolles unternehmen, Spass haben und Gemeinschaft erleben.» Die meisten dieser Jugendaktivitäten sind deshalb auch nicht konfessionell oder religiös ausgerichtet, und gerade bei Blauring/Jungwacht gibt es viele Mitglieder, die der katholischen Kirche sehr kritisch gegenüberstehen.

Problembewusstsein aus eigener Erfahrung

Da Gschwend in seiner Zeit als Jungwachtleiter und Jugendarbeiter immer wieder mit Glaubensfragen konfrontiert worden war und dabei etliche Male erkennen musste, dass er selber keine Antwort darauf wusste, wuchs sein Interesse, und er entschied sich, eine Ausbildung als Religionspädagoge zu machen. «Ich denke, es ist nicht so wichtig, was man glaubt, sondern dass man etwas glaubt», sagt er und weist darauf hin, dass dies vor allem in schwierigen Zeiten eine wichtige Hilfe sein könne, um nicht abzustürzen. Neben dem Glauben sieht er aber vor allem auch in Gemeinschaftsprojekten, im Engagement für andere und in der Arbeit für eine bessere Gesellschaft sinnstiftende Tätigkeiten, die er an die Jugendlichen weitervermitteln möchte. Gerade junge Menschen, die keine Lehrstelle finden, die von der Gesellschaft enttäuscht wurden und deshalb keinen Lebenssinn mehr sehen oder ihr Selbstwertgefühl verloren haben, können über die Arbeit in Jugendverbänden wieder Wertschätzung und Lebenssinn erfahren.
Gschwend kann sich ein Stück weit aus eigener Erfahrung in die Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz hineinversetzen: Er hatte kurz vor dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit nämlich keine Lehrstelle gefunden, obwohl er sich als Koch, Elektroniker, Tiefbau- und Hochbauzeichner beworben hatte. Also meldete er sich für das zehnte Schuljahr an und besuchte eine Informationsveranstaltung. Diese fand in einem heruntergekommenen Gebäude statt, bei dem es bei starkem Regen durchs Dach tropfte. Da sass er nun und erkannte etliche Gesichter von den diversen Vorstellungsgesprächen wieder. «Das ist nun der Rest, den niemand will», schoss es ihm durch den Kopf.

Verbandsarbeit und politisches Engagement

Für ihn ist deshalb klar, dass im Bereich Ausbildung und Lehrstellen in der Schweiz nach wie vor ein jugendpolitisches Defizit besteht. Projekte wie die von Lehrlingen geführten Betriebe findet er besonders sinnvoll, da die Jugendlichen in ihnen – ähnlich wie in den Jugendverbänden – Eigeninitiative, Verantwortung und Teamarbeit kennen lernen und Selbstbewusstsein aufbauen können.
Die Jugendpolitik ist für ihn jedoch ein eher neues Feld, welches er vor allem über den Zivildienst bei der Jugendsession, die durch die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) organisiert wird, kennen gelernt hat. Er sieht diese jugendpolitische Arbeit als eine logische Fortsetzung seiner Verbandsarbeit, denn schliesslich gehe es darum, die Gesellschaft mitzugestalten, und da komme man früher oder später nicht um die konkrete Politik herum. Er ist deshalb der Freien Liste Chur beigetreten, um sich so besser ins politische Feld einarbeiten zu können.
Wie die Medien im letzten halben Jahr Jugendthemen wie Gewalt und Alkoholkonsum dargestellt haben, hält Lars Gschwend für pauschalisierend und oft übertrieben. Gewisse Probleme mit dem Alkohol kennt er aber aus seiner eigenen Arbeit im Jugendtreff in Chur durchaus. Dort hätten immer wieder welche versucht, Bier hineinzuschmuggeln, oder seien einfach zwischendurch hinausgegangen, um dann betrunken zurückzukommen. Das sei halt so ein Spiel gewesen, denn in diesem Alter gehöre es ja auch dazu, Grenzen abzutasten. Er hat in solchen Fällen immer das Gespräch gesucht, selbst wenn er die Jugendlichen am Schluss vor die Tür stellen musste. Ein bisschen Bauchweh macht ihm die Beobachtung, dass viele Junge von zu Hause her keine Grenzen mehr kennen. Er selber trinkt keinen Alkohol, weil er bei seinen jugendlichen Trinkversuchen feststellen musste, dass er ihn einfach nicht mag. «Ich behalte wohl auch gern die Kontrolle über mich selbst», reflektiert er. «Selbst beim Tandemfahren sitze ich lieber auf dem vorderen Sattel.»
Situationen beeinflussen, eigene Ideen einbringen, sich für seine Überzeugungen einsetzen: Dahinter steckt eine Lebenshaltung, für die ihm sein letzter Lehrmeister ein grosses Vorbild ist. Dieser hatte sich allen Unkenrufen und Spötteleien zum Trotz mit einem selbst entwickelten Steuerungssystem für Pissoirs selbständig gemacht. In diesem kleinen, aber innovativen Betrieb mit mittlerweile zehn Angestellten hat Lars selbst als Lehrling bereits viel Eigenverantwortung bekommen und dies enorm schätzen gelernt. Ihm ist dabei auch aufgefallen, wie wichtig es ist, seine Ideen überzeugend verkaufen zu können und an Projekten dranzubleiben, selbst wenn es Rückschläge gibt.
Woher er den Antrieb nimmt für sein Engagement? Wenn er bei einem Anlass, den er organisiert hat, all die fröhlichen Gesichter sieht oder erleben kann, wie ein Jugendlicher, der in seinem Jugendtreff zum ersten Mal das Mikrofon in der Hand hatte, plötzlich mit dem bekannten Bündner Rapper Gimma auf der Bühne steht, dann ist auch Lars Gschwend ein glücklicher Mensch.

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