«der arbeitsmarkt» 02/2010

«Der Nutzen der Migration überwiegt die Kosten»

Gianni D’Amato, Professor am SFM – Swiss Forum for Migration and Population Studies der Universität Neuenburg, beleuchtet die Migration aus wissenschaftlicher Perspektive und setzt sie in einen grösseren Zusammenhang.

Seit dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit 2002 und insbesondere dem Wegfall der Kontingente 2007 hat sich die Zahl der Zuwanderer praktisch verdreifacht. Wie kann die Schweiz den grossen Zustrom bewältigen?
Gianni D'Amato: Wie es scheint, recht gut. Der Aufschwung der letzten Jahre wäre ohne die Zuwanderer nicht möglich gewesen. Dank ihnen konnten Firmen Positionen besetzen, für die keine Schweizer zu finden waren. Hochqualifizierte Zuwanderer schaffen auch Arbeitsplätze, indem sie einen Beitrag zur Erhöhung der Produktivität und der Innovationskraft unseres Landes leisten. Sie tragen dazu bei, die Qualifikationen der einheimischen Arbeitskräfte zu erhöhen. Sie benötigen Dienstleistungen aller Art, die helfen, die Nachfrage nach weniger qualifizierten Personen aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zu früheren Krisen wie etwa jener in den 70er-Jahren haben die Migranten heute nicht mehr die Funktion von Konjunkturpuffern.

Man hört immer wieder, die Migranten nähmen den Einheimischen die Arbeitsplätze nicht weg. Serge Gaillard sagt, durch Zuwanderung entstünden neue Arbeitsplätze ...
Hier muss man differenzieren: Mit Hochqualifizierten werden in der Regel Positionen besetzt, die Schweizer nicht ausfüllen können. Niedrigqualifizierte üben hingegen Tätigkeiten aus, die Schweizer nicht übernehmen wollen. Eine Verdrängung findet allenfalls in Branchen statt, die früher von der Gesetzgebung «national» geschützt waren und in denen es heute zu einem Wettbewerb kommt. Neue Arbeitsplätze entstehen, wenn beispielsweise Ärzte oder Banker ganze Bereiche neu organisieren und neue Teams aufbauen. Nicht selten bringen sie aber ihre Vertrauensleute gleich mit.

Weshalb ist die Schweiz für Einwanderer derart attraktiv?
Zweifellos macht das Lohnniveau die Schweiz für Migranten attraktiv, obwohl auch die Kosten in unserem Land hoch sind. Zudem bietet sie günstige Soft Factors wie Toleranz, Stabilität, internationale Schulen, ein vielschichtiges Kulturangebot und eine Stimmung, die bislang nicht als diskriminierend wahrgenommen wird. Politische Entwicklungen wie die Annahme der Minarettinitiative sind deshalb aufsehenerregende und gegenläufige Zeichen. Nehmen wir als Gegenbeispiel Ostdeutschland seit der Wende: Obwohl hier praktisch keine Ausländer leben, ist das Klima seit den 90er-Jahren derart vergiftet und nationalistisch aufgeladen, dass Firmen vielfach auf Investitionen verzichteten, obwohl die Arbeitskräfte günstiger gewesen wären als etwa in der Schweiz. Weiche Faktoren, welche die kreativen Klassen anziehen, sind deshalb matchentscheidend. Viele Firmen kommen in die Schweiz, da sie insbesondere im Becken Lausanne-Genf und im Raum Zürich gut ausgebildetes Personal finden, das auch mehrsprachig ist - für einen Firmensitz in Europa ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Micheline Calmy-Rey hat im November dazu aufgerufen, wieder vermehrt Arbeitnehmer in der Schweiz zu rekrutieren. Wie bringt man Unternehmen dazu, diese Aufforderung zu befolgen?
Das ist als politische Intervention zur Beruhigung des internen Arbeitsmarkts zu werten. Das entscheidende Kriterium für ein Unternehmen sollte nicht die Nationalität einer Person sein, sondern ihre Kompetenzen. Die Schweiz muss nicht den Arbeitsmarkt national schützen, sondern ihr Bildungssystem den neuen Gegebenheiten anpassen. Auch hier Auszubildende müssen die Kompetenzen erlangen, um einmal höhere Positionen besetzen zu können, die heute meist Amerikanern vorbehalten sind.

Die Wanderungsbilanz ist deshalb so hoch, weil weniger Ausländer als erwartet in der Krisenzeit in ihre Heimat zurückkehren. Wie könnte man die Rückwanderung aus arbeitsmarktlicher Sicht fördern?
Die Ausländer, die trotz Arbeitslosigkeit in der Schweiz bleiben, tun dies, weil sie sich hier eine bessere Zukunftsperspektive erhoffen. Das sind mitunter die Niedrigqualifizierten. Wer indes überzeugt ist, dass es hier für ihn keine Zukunft gibt, zieht weiter. Das betrifft insbesondere die Gruppe der aussergewöhnlich hoch Qualifizierten. Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob eine Rückwanderung aus arbeitsmarktlicher Sicht sinnvoll ist. Wie erwähnt haben die Migranten in den letzten Jahren massgeblich zum Aufschwung beigetragen. Die Schweiz steht bezüglich ihrer Stärken lediglich mit wenigen ausgesuchten Orten in direkter Konkurrenz. Doch strategische Branchen wie das Finanzwesen oder das Bildungswesen, etwa die renommierte ETH, brauchen Zugang zu Kompetenzen - zu «Brains» -, wie manchmal abschätzig gesagt wird. Es wäre fatal, hier Hürden wie eine Beschränkung der deutschen Einwanderer aufzustellen, die zu über 60 Prozent hochqualifiziert sind. Ohne die Deutschen ginge es uns nicht besser, da Kandidaten für gewisse Positionen fehlen würden. Sicher, bei Universitätsposten konkurrieren sie direkt mit Schweizern, doch steht es diesen dank der bilateralen Verträge ebenfalls frei, ins Ausland zu gehen. Schweizer Uniassistenten beispielsweise tun dies kaum, weil sie zu alt sind, eine ganz andere Lebensplanung haben oder lieber Geld verdienen wollen, als sich als Assistent auf einem unterbezahlten Posten ohne gesicherte Perspektive zu verdingen.

Was kosten die Schweiz die vielen stellenlosen Migranten?
Es ist wichtig, zu wissen, dass die Migranten mehr in die Arbeitslosenkasse einzahlen, als sie beanspruchen. Mit den bilateralen Verträgen sind ihre sozialen Rechte aber geklärt. Wer Anspruch auf Unterstützung hat, wird davon Gebrauch machen. Es ist daher nicht vorgesehen, dass sie das Land bei einem Stellenverlust verlassen.

Die neue Migrationswelle kennzeichnet sich durch den höheren Bildungsstand der Zuwanderer. Es kommen mehrheitlich Hochqualifizierte. Was bedeutet es für Städte und Gemeinden, wenn sie das Land nach wenigen Jahren wieder verlassen?

Wünschenswert wäre natürlich, dass Hochqualifizierte hier blieben und ihr Know-how weitergeben würden. Deshalb ist es für Städte und Gemeinden wichtig, so weit wie möglich ein attraktives Umfeld zu schaffen, wie es etwa in Zürich besteht. Dazu zählen internationale Schulen, die Möglichkeit philanthropischer Tätigkeiten, wie sie im angloamerikanischen Raum normal sind, oder andere Aspekte zu offerieren, die Anschlussmöglichkeiten bieten. Sehr mobile Personen, die von ihren Firmen an verschiedene Orte geschickt werden, gehen auch, wenn es ihnen in der Schweiz gefällt.

Doch mit den Hochqualifizierten kommen weiterhin viele andere. Wie wünschenswert wären Beschränkungen bei der Zuwanderung?
Es braucht die ausländischen Arbeitnehmer. Insbesondere die Niedrigqualifizierten verrichten Tätigkeiten, für die sich keine Schweizer finden. Eine Einwanderungspolitik, die lediglich auf die Hochqualifizierten setzt, ist wenig realistisch und schafft neue Probleme. Wie erwähnt wäre der Aufschwung der letzten Jahre ohne die Zuwanderer nicht möglich gewesen.

Wie sieht die Kosten-Nutzen-Bilanz der Migration aus?
Nun, wenn wir die Einwanderung allein aus utilitaristischer Perspektive betrachten wollen, überwiegt der Nutzen die Kosten. Die neue, arbeitsmarktorientierte Form der Migration bringt mehr Umsatz, erhöht das Sozialprodukt, die Produktivität und die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft. Wie gesagt zahlen die zugewanderten Arbeitnehmer mehr in die Arbeitslosenkasse ein, als sie beanspruchen. Wirkliche Kosten verursachen das Alter und Gebrechen, bei Ausländern wie auch Schweizern. Solange junge Leute in die Schweiz einwandern, tritt dieser Fall nicht ein. Allerdings dürfen wir moralische Aspekte nicht ausser Acht lassen. Wer in diesem Land für die geleistete Arbeit seine Gesundheit geopfert hat, darf nicht im Alter oder bei Krankheit und Invalidität zurückgeschickt werden. Das sind wir uns als moralische Gesellschaft schuldig.

Leben die Leute einmal in der Schweiz, stellt sich die Frage der Integration. Was genau ist eigentlich Integration?
Integration bedeutet, die Möglichkeiten, die die Gesellschaft bietet, für die eigenen Ziele und das eigene Wohlergehen nutzen zu können. In der Schweiz ist Integration ein ganz wichtiger Begriff, weil sie seit ihrer Entstehung immer wieder zentrifugalen Kräften wie Religion und Politik ausgesetzt war. Bestehen indes Zugangsbarrieren für Migranten und strukturelle Unterschiede gegenüber Einheimischen, tut sich eine Gesellschaft schwer mit der Integration.

Wie lässt sich Integration zuverlässig messen? Ein Portugiese, der sich unseren Bräuchen angepasst hat, sich aber seit 30 Jahren in der Schweiz nur unter Landsleuten bewegt, ist nicht unbedingt besser integriert als eine Person aus Ex-Jugoslawien, die hier geboren ist ...
Ein Portugiese, der unter seinesgleichen hier lebt, kann genauso integriert sein. Die Frage ist immer: Wie funktionieren Menschen? Jemand, der seine Arbeit erledigt oder die reguläre Schule besucht, gilt als integriert. Gegenwärtig gilt die Sprache als wichtigster Indikator für Integration genauso, wie Arbeit zu haben. Wenn dann sogenannte Defizite ausgemacht werden - und auf diese ist Integrationspolitik häufig aus -, fallen meist junge Menschen als unangepasst auf oder gelten vordergründig als zu wenig integriert, weil bei ihnen in dieser Betrachtungsweise die «Sozialisierung» nachbearbeitet werden muss. Das war früher bei den Italienern, später bei den Tamilen und ist jüngst bei den Kosovaren so. Ich würde den Spiess umdrehen und fragen: Wie sehr haben sich unsere Institutionen gegenüber den Migranten geöffnet? Institutionen, Firmen und der Arbeitsmarkt müssen sich auf die Migrationssituation und die kulturelle Vielfalt («Diversity Management») in diesem Land ebenfalls einrichten. Implizit spielen auch hier Fragen der Produktivitätssteigerung eine Rolle. Deshalb hilft es niemandem, diskriminierende Stellungen in einem Betrieb aufrechtzuerhalten. Bezüglich Öffnung besteht bei den Institutionen noch Verbesserungspotenzial. Denken wir nur an die jüngsten Abstimmungen. Die Schweiz kann nicht ein attraktives Einwanderungsland sein und alle zwei Jahre trotzig demonstrieren, man wolle Herr im eigenen Haus bleiben. Das ist eine seltsame und wenig zielführende Kommunikation.

Die Sprache gilt als Schlüssel zur Integration. Wie valabel ist dieser Ansatz? Immerhin finden wir den englischsprachigen Manager-Jetset chic, verdonnern aber weniger Qualifizierte zu Deutschkursen ...
Bei den englischsprachigen Managern orientieren wir uns an der Globalisierung. Hier integrieren sich die Schweizer. Wer unter das Ausländergesetz fällt, kann tatsächlich von den zuständigen Behörden verpflichtet werden, sich sprachlich anzupassen. Tut er das nicht, steht die Niederlassungsbewilligung auf dem Spiel. Doch können auch Menschen völlig integriert sein, die seit 40 Jahren hier leben, ohne fliessend Deutsch zu sprechen. Die Sprache ist deshalb keine ultimative Messgrösse für die Integration.

Wie lange ist ein Migrant überhaupt ein Migrant?
Die Antwort auf diese Frage ist verzwickt. Der «Migrant» hat im landläufigen Sprachgebrauch häufig den «Ausländer» ersetzt, den viele als einen diskriminierenden Begriff erachtet haben. Allerdings konnte der «Ausländer» mit der Einbürgerung seinen Status ändern und einer von uns werden. Der «Migrant» kann es nicht: So gibt es bekanntlich Schweizer mit Migrationshintergrund. Fast könnte man meinen, in den Sozialwissenschaften gelte der abgewandelte Spruch «Einmal Migrant, immer Migrant». Für die Politik verheisst dies nichts Gutes. Meiner Ansicht nach ist eine Person, die Zugang zu den Ressourcen einer Gesellschaft hat, kein Migrant mehr, da der Unterschied zu den anderen wegfällt. Der Begriff ist zwar angebracht, wenn man nicht den rechtlichen Ausländerstatus ansprechen will, bleibt aber verwirrend, denn die 18 000 Migrantenkinder, die jährlich hier geboren werden, sind ja nie wirklich gewandert.

Welche Rolle spielen politische Rechte bei der Integration?
Die politischen Rechte sind mitunter symbolisch wichtig, weil sie Gleichheit schaffen. Geschieht dies nicht, bleibt man immer Bürger zweiter Klasse. Als Nächstes wird sich für die Schweiz wieder die Frage stellen, wie sie die Einbürgerung erleichtert. Momentan ist das kantonal unterschiedlich. Historisch interessant ist, dass Konflikte bei Fragen der politischen Integration dazugehören. Sei es bei den Katholiken, den Juden oder auch den Frauen - die Integration erfolgte immer über lange Auseinandersetzungen und die Anerkennung der Grund- bzw. Bürgerrechte.

Wo liegt die Grenze zwischen gelungener Integration und totaler Assimilation?
Assimilation gilt gemeinhin als schwieriger Begriff und wird im deutschsprachigen Raum vermieden, weil er an die Polen- und Judenpolitik im Deutschen Reich erinnert. Und trotz Assimilation wurden im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs deutsche Juden verfolgt und vernichtet. Politisch war dadurch der Begriff der Assimilation diskreditiert, denn offensichtlich schliesst Assimilation nicht aus, dass Menschen als Andere identifiziert werden. Gebraucht wird der Begriff in der amerikanischen Soziologie, wenn die Übernahme kultureller Werte angesprochen wird. Auch in der Schweiz wurde Assimilation als Begriff in den 80er-Jahren durch Integration ersetzt. Diese gründet auf Gegenseitigkeit. Integration beinhaltet den Zugang zu bestimmten Rechten, Institutionen und zur Teilnahme am normalen Leben. Dies verlangt den Migranten etwas ab, aber auch die Gesellschaft muss sich öffnen. Beim Ausländergesetz ist die Integration in diesem Sinne aufgeführt, aber in der Praxis noch nicht umgesetzt. Wird sie aber nicht realisiert, sondern nur gefordert, gehen wir faktisch zurück zur früheren Assimilationserwartung.

Wie bewusst findet die Integration bei Personen der zweiten und dritten Generation statt, die hier geboren sind?
Es gehört zu den grössten Verirrungen, in die uns unsere bisherige Ausländerpolitik geführt hat, bei Menschen, die hier geboren sind oder gar deren Eltern hier geboren wurden, einen Mangel an Integration zu vermuten. Natürlich sind diese längst integriert. Für sie ist es normal, hier zu leben. Schüler empfinden es heute als selbstverständlich, Mitschüler mit anderen Namen als Müller oder Meier in ihrer Klasse zu haben.


Die Schweiz hat auch so viele Ausländer, weil es etwa im Gegensatz zum klassischen Einwanderungsland USA so lange dauert, bis eine Person den Pass erhält. Sind die Ausländer ein hausgemachtes Problem?

Die Schweiz bürgert heute immerhin 35 000 Personen pro Jahr ordentlich ein anstatt 6000 wie vor 20 Jahren. Das ist möglich, weil mehr und mehr Menschen aufgrund ihrer Aufenthaltsjahre ein Einbürgerungsgesuch stellen können. Jährlich werden aber rund 18 000 Kinder als Migranten geboren. Würde in der Schweiz das «ius soli» gelten, wären diese, wie ich meine, «fiktiven» Ausländer automatisch Schweizer. Beim «ius soli» verleiht der Staat, weil es seinen Interessen entspricht, allen Kindern, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden, die Staatsbürgerschaft. Weil dies nicht passiert, hat sich der Ausländerstatus in den letzten 20 Jahren auf rund 350 000 in der Schweiz geborene Personen übertragen, was bei der Betrachtung der Statistik nicht unerheblich ist.

Welches sind Ihre Prognosen für die Zuwanderung in den kommenden fünf bis zehn Jahren?
Ich bin kein Prognostiker. Doch wird die Zuwanderung anhalten, da der Arbeitsmarkt die Migranten weiterhin braucht und wir davon ausgehen können, dass diese Frage mit der Personenfreizügigkeit geregelt ist.

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