«der arbeitsmarkt» 06/2006

Der Mann, der aus der Kälte kam

Er kämpft seit Jahrzehnten für mehr Gerechtigkeit in diesem Land. Nun verarbeitet Paul Ignaz Vogel, Herausgeber
eines Mediendienstes zur Erwerbslosigkeit, seine Erlebnisse in einem Buch.

Dunkler Nebel wabert über dem Land. In «Napf. Eine Gratwanderung im Kalten Krieg» wandert der Autor über einsame Wiesen und sinniert über prägende Erfahrungen in den 60er-Jahren.
Es war Hochkonjunktur, aber unterschwellig regierte die Angst vor dem Atomkrieg. Oder die Furcht vor Wühlern, die das demokratische Staatswesen unterminierten. Vogel, damals Herausgeber der aufmüpfigen Zeitschrift «neutralität», erhält eine Einladung nach Rumänien. SP-Freunde haben, so scheint es, diese Reise ins Reich von Nikolai Ceausescu vermittelt. Schon vor dem Abflug wird Vogel von einer inneren Unruhe gepackt. Er hat das Gefühl, in einer Falle zu 
sitzen. Fliegt dann doch los. In Bukarest steigt er wie die anderen Vertreter aus aller Herren Ländern in eine der schwarzen altmodischen Präsentations-Limousinen und fährt über eine lange Strasse gegen Osten «in die rosazarte Abenddämmerung hinein». Später hört er Propagandareden, wird – wie die andern – dauernd fotografiert. Von den übrigen Reisegästen fühlt er sich abgeschnitten. Irgendwann schläft er in einem Bus ein, wacht wieder auf, als sie in eine Stadt einfahren. «Dann», schreibt er, «verliere ich jede Erinnerung.»
Nach dem Aufwachen hat Vogel Mühe, die Schuhe zu binden. Im Restaurant sieht er alles wie durch eine weisse Wand, entfernt und entrückt. Weiss nicht, wie viel Uhr es ist. Müdigkeit, Dämmerzustand. Die Reise geht weiter. In einem waldigen Gebiet taucht ein Pope auf, der auf ihn wie ein satanischer Zwerg wirkt. Später schiebt man dem Schweizer Pazifisten den angeblichen Text eines Dichters zu, den er veröffentlichen soll. Bei einer Einkaufstour für Souvenirs beobachtet er immer wieder Männer in schwarzen Ledermänteln. Sie gehören zum berüchtigten Geheimdienst Securitate. In die Schweiz zurückgekehrt, muss er sich erholen. Vogel geht davon aus, dass er unter Drogeneinfluss gesetzt worden war. Wollten die rumänischen Organisatoren Mitarbeiter für ihre ausländischen Agentennetze gewinnen?

Ein offenes Ohr und Kaffee für Erwerbslose

An einem milden Frühlingstag empfängt uns Paul Ignaz Vogel, 66, an der Tür seiner Zweizimmerwohnung in Liebefeld bei Bern. Nichts von düsterer «Napf»-Stimmung. Er wirkt munter und unternehmungslustig. Auf einem Tischchen hat der Gastgeber Kaffeegeschirr und Guetzli hingestellt. Er zeigt seine Wohnung. Im Wohnzimmer stehen Pult und Bett einträchtig nebeneinander. Vom Balkon aus sieht man auf eine flache, zersiedelte Landschaft. «Ich mag diese Zerfaserung, wo ländliche und städtische Elemente ineinander übergehen.» Von ferne glänzt der schneebedeckte Chasseral. Und gleich in der Nähe, zwischen Wohnblöcken, steht der Migros-Laden, wo Leute mit bescheidenem Einkommen wie Vogel ihre Lebensmittel einkaufen. Bern-Liebefeld ist Teil von Köniz, einer Gemeinde von rund 37000 Einwohnern. Zu Fuss geht Paul Ignaz Vogel ins Zentrum von Bern, wo er in einer Bibliothek die Zeitungen liest.
Zwei erwachsene Töchter leben ihr eigenes Leben. Von der Frau ist er geschieden. Was macht der Pensionist – so nennt er sich auch – den ganzen Tag? Am liebsten arbeitet er. Sitzt an seinem Computer, recherchiert, schreibt. Mindestens drei Mal im Monat nimmt er sich Zeit für erwerbslose Menschen, die ihr Herz erleichtern möchten. Die Kontakte für Beratungen laufen informell, zum Teil vermittelt durch Sozialarbeiter.
Eine Frau aus der Bundesverwaltung hatte ihre Stelle verloren. «Sie war geschockt, ich musste sie zuerst drei Monate aufbauen, bis sie aus sich herausgekommen ist. Sie hat mich immer bei sich zu Hause empfangen, weil sie sich dort sicher fühlte.» Rose-Marie Chervet (Name geändert) war zuerst gemobbt worden. Dann wurde sie umplatziert und schliesslich durch einen Coach ausgetrickst – dieser hatte ihr geraten, auf eine rechtliche Verteidigung ihrer Ansprüche zu verzichten. Vogel bot ihr an, ihren Fall in seinem Mediendienst «Hälfte» zu veröffentlichen. Sie ging zu seiner Überraschung sofort darauf ein. «Sie war sehr begierig darauf, dass es herauskommt.» Die Mitteilung wurde von einer Zeitschrift des Bundespersonalverbandes abgedruckt und wirbelte intern Staub auf.
Vogel lächelt und meint befriedigt: «So hat das Ganze auch einen Sinn. Ich mache Journalismus im Lebendigen.» Er muss den Betroffenen nicht nachlaufen. Sie docken sich von selbst an. Zuerst erkundigt er sich immer nach der Gesundheit und empfiehlt ihnen, beim Hausarzt zu bleiben, falls er gut ist. Und gut sei er immer. Zum Glück könnten die Menschen den Hausärzten vertrauen. Dann folgt jeweils die Frage: «Was ist eigentlich passiert?» Alles kommt noch einmal herauf, die Erniedrigungen und die Beleidigungen.  «Da erfahre ich backstage unglaubliche Vorfälle. Viele Verursacher von Arbeitslosigkeit sind sich gar nicht bewusst, welche 
Effekte sie auslösen – solche Geschichten gehen herum.» Viele weinen, wenn sie erzählen. Er bekundet sein Mitgefühl. Nach einer Pause, einer Tasse Kaffee, will Vogel von den Besuchern wissen, was sie eigentlich gerne arbeiten würden. Oft ist es etwas anderes, als sie gelernt haben. Etwas mit Menschen und Natur, eine Arbeit, die Wertschätzung bringt und Selbstverwirklichung ermöglicht.
Einsatz für eine menschlichere Bürokratie
Der Graben zwischen Arm und Reich wächst. Vogel möchte jenen Politikern und Forschern einmal die Meinung sagen, die nur abstrakt von der Arbeitslosigkeit und Armut reden. Er wehrt sich gegen eine Bürokratie, die die Arbeitssuchenden wie Objekte herumdirigiert. Die Bürokratie braucht es zwar. Aber wie soll der Einzelne sein Leben noch als sinnvoll erfahren, wenn er trotz krampfhafter Suche keine Arbeit findet und trotzdem ständig neue Bewerbungen schreiben muss?
Was Vogel andern vorwirft, passiert ihm gelegentlich auch selbst. Die Neigung zu Schwarz-Weiss, zu abstrakten Kampfwörtern. Aus einer einzelnen gemobbten Bundesangestellten wird im Titel seines Mediendienstes «Gemobbtes Bundespersonal». Die persönliche Biografie von Paul Ignaz Vogel wirkt nach. Es ist eine Geschichte von Grabenkämpfen.
Früh erfuhr er, wie die Welt im Kleinen und im Grossen bedroht ist. Vogel marschierte an Ostermärschen mit. «Es herrschte ein panische Angst vor dem Atomkrieg», erinnert er sich. Als er vor einer Kaserne Flugblätter gegen die Atombome verteilte, fiel er unangenehm auf und verlor seine Stelle als Zeitungskorrespondent. In Berlin, wo er zeitweise Soziologie studierte, begegnete er dem Vermittler zwischen Ost und West, Erich Müller-Gangloff. Der drückte ihm ein Manuskript über seine Begegnung mit dem sowjetischen Chef Chruschtschow in die Hand. Es soll auch in der Schweiz veröffentlicht werden – gerade in der Schweiz, wegen ihrer Neutralität. 

Von eigenen Ängsten und äusseren Einflüssen

In der Heimat gründete er 1963 die Zeitschrift «neutralität». Die kleine Zeitschrift mit zeitweise fast 4000 Exemplaren machte von sich reden. Unbekümmert kochte sie Themen auf,  von der Armee über den Jurakonflikt bis zu Vietnam. Bundesrat Ludwig von Moos, ehemaliger Chef des «Obwaldner Volksblatts», wurde an nazifreundliche Äusserungen erinnert. «Es sind schon gewaltige Auseinandersetzungen auch über meine Person gelaufen, zumindest während drei bis vier Jahren.»  Im roten Heft mit dem Schweizerkreuz meldete sich Max Frisch zu Wort. Friedrich Dürrenmatt reichte Vogel einen Teil seines Preises weiter, den er von der Stadt Bern erhalten hatte.
Dann kamen die 68er. Timothy Leary verkündete die  Bewusstseinsveränderung dank LSD. Vogel hat die Zaubertablette nie probiert, nicht einmal Hasch geraucht. «Zum Glück nicht, ich hätte es nicht überlebt. Nein, mit den Frusts und Problemen, nein, das hätte ich nicht überlebt.»
Finanziell war es schwierig. Zu Beginn der 70er-Jahre hatte die «neutralität» ihren Zenit überschritten. SP und Schweizerischer Gewerkschaftsbund kamen als Mitherausgeber hinzu. Das Heft ging 1974 ein. Vogel sollte bei der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) eine Hauszeitung aufbauen. Doch er fiel in ein dunkles Loch. Er glaubte Zusammenhänge zu erkennen, die wohl von wahnhafter Natur waren. 1979 verlor er seine Stelle und war lange erwerbslos. Nachträglich deutet er seine psychische Erkrankung als Zusammenwirken von eigenen Ängsten und äusseren Einflüssen. 
Wer sich von aussen ferngesteuert und überwacht sieht, muss ja nicht immer Unrecht haben. Die Bundespolizei hatte ihn lange im Visier. Erst mit der Öffnung der schweizerischen Archive nach dem Fall der Berliner Mauer erfuhr Vogel vom Ausmass der Bespitzelung. 
Das führte zur Niederschrift der grau getönten Lebensbilanz «Napf», die 1992 in einer ersten Fassung entstand und 2005 im eigenen Verlag publiziert wurde. Nur 200 Exemplare wurden gedruckt, aber das kümmert Vogel nicht. Er musste reinen Tisch machen und die alten Gespenster verscheuchen. So hat er mehr Energie für neue Projekte. Wie wäre es zum Beispiel mit einem existenzsichernden Grundeinkommen für alle?
Paul Ignaz Vogel: Napf. Eine Gratwanderung im Kalten Krieg.
Edition Hälfte, haelfte@freesurf.ch
ISBN 3-033-00509-8
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