«der arbeitsmarkt» 10/2013TEXT: Melinda Melcher
Philosophie der Selbstverwirklichung

«Das Glücksstreben entspringt einer uralten Sehnsucht des Menschen»

Hat die Philosophie noch Raum in der heutigen Zeit? Denken, der Inbegriff der Philosophie, ist stets relevant, sagt der philosophische Berater Harry Wolf. Im Interview erläutert er, wie Einzelne die Philosophie der Selbstverwirklichung für den Alltag fruchtbar machen können.

Harry Wolf, wie viel Platz hat die Philosophie in der heutigen Zeit?

Die Philosophie befasst sich seit jeher mit dem Denken. Wir alle denken. Wir alle haben eigene philosophische Gedanken. Diese Gedanken eingängiger und in einem grösseren Kontext zu verstehen, dazu kann die Philosophie beitragen. Denn sie versucht, die Welt und die menschliche Existenz zu deuten und zu verstehen. Das ist zu jeder Zeit relevant.

Welchen Beitrag zur Alltagsbewältigung liefert die Philosophie?

Unser Denken ist stark durch unsere Umwelt geprägt. Im Alltag entstehen individuelle Konzepte und Denkmodelle. Diese mit klassischen oder modernen philosophischen Konzepten zu vergleichen oder in Kombination zu bringen, kann für den Einzelnen ein neues, anderes oder angereichertes Verständnis bringen.

Welchen Stellenwert hat dabei im Speziellen die Glücksphilosophie?

Dieses Thema hat die Sachbuchliteratur in den letzten Jahren vermehrt behandelt. Das Glück ist für den Menschen ohne Zweifel ein zentrales Thema. Sowohl die klassische westliche Philosophie, die Philosophie der Antike, als auch die östlichen Philosophieströmungen beschäftigen sich seit ihren Anfängen mit Glück. Das Glücksstreben entspringt einer uralten Sehnsucht des Menschen. Daher zählt der Themenkreis zu den Kernelementen dieser Wissenschaft. In der Nikomachischen Ethik – einer seiner wichtigsten ethischen Schriften – geht Aristoteles davon aus, dass Glück und Tugend eine Einheit bilden. Auch bringt der Philosoph aus der Antike Gerechtigkeitsfragen und Glücksfragen in direkten Zusammenhang. Er stellt die Frage nach dem guten Leben. Dabei spielt auf der individuellen Ebene die Ausbildung eines guten Charakters eine wesentliche Rolle. Auf der politischen Ebene stehen Gerechtigkeitsfragen im Vordergrund und damit verbunden die Frage, was ein guter Staatsbürger ist. Für Aristoteles ist Glück etwas, das zu einem grossen Teil auch – durch die Ausbildung eines guten Charakters – selbst herstellbar ist. Glück ist für ihn aber auch abhängig von der Gunst externer Umstände. So trägt beispielsweise materieller Besitz zum Glück bei. Glück ist also nicht primär die vollständige Befriedigung aller Bedürfnisse und Neigungen, sondern ein tätiges überlegtes und praktisches Handeln.

Welche weiteren Philosophen geben uns in Sachen Glück wertvolle Anregungen?

Speziell die Epikureer situierten das Glück als zentrales Thema im Alltag. Ihr Ansatz ist: Unlust zu vermeiden und Lust zu steigern. Dazu bedarf es aber der Vernunft. Nach Epikur lehrt die Vernunft nämlich, dass das Leben nicht angenehm ist, wenn es nicht vernünftig, gut und gerecht ist.

Ist das lustbetonte Glücksstreben der Epikureer mit dem Streben nach Sinnesgenüssen der früheren Hedonisten zu vergleichen?

Ja. Die Epikureer waren Hedonisten. Der Epikureismus war bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert hinein eine einflussreiche philosophische Schule. Anhänger wurden jedoch von christlichen Gegnern auch verfolgt und bestraft. In der philosophischen Geschichte sind die Epikureer generell eher schlecht weggekommen. Denn ihre Betonung auf die Lust wurde häufig negativ bewertet und missverstanden.

Heisst das, wir sollten die Unlust im Alltag prinzipiell vermeiden? Sind wir dann glücklich?

Ganz so einfach ist die Sache nun doch nicht. Die Epikureer sprachen sich nämlich auch für das Masshalten aus. So kann das Ertragen von Schmerzen sinnvoll sein, wenn es einem danach wieder besser geht. Auch Freuden, die kurzzeitigen Genuss verschaffen – etwa übermässiger Alkohol- oder Drogenkonsum –, sind langfristig schädlich. Wir alle müssen bei der Arbeit immer wieder Hindernisse überwinden, um das gewünschte Resultat zu erreichen. Auch wenn wir nicht unbedingt behaupten würden, dass diese Tätigkeiten uns Lust bereiten. Die Lust steht da im Widerspruch zu unserer Vorstellung von Pflichterfüllung. Diese wiederum steht in direktem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit. Arbeit hat ja auch einen Last- und Zwangscharakter, und häufig ist sie fremdbestimmt. Unsere Arbeitswelt ist davon geprägt, dass wir Bedingungen erfüllen müssen. Wir sind dann glücklich bei der Arbeit, wenn die unumgängliche Fremdbestimmung – die gestellten Bedingungen – eine hohe Deckung mit unserer eigenen Vorstellung von Freude und Lust aufweist.

Glücklich sind wir also dann, wenn sich die Arbeit mit unserer Vorstellung von Freude und Lust deckt. Wie prägte die Philosophie das Denkmodell der beruflichen Selbstverwirklichung?

In der Antike und im Mittelalter hatte die Arbeit keinen hohen Stellenwert. Sie erlangte ihn erst in der Neuzeit durch das Bürgertum. Die neuzeitliche Philosophie rückte die Freiheit und das Individuum ins Zentrum. Im Zuge der Modernisierung wurden religiöse Konzepte fragwürdiger. Der Mensch sah sich nicht mehr auf eine Ewigkeit hin ausgerichtet. Er erfährt sich als endlich, auf eine bestimmte Lebenszeit von sagen wir 80 Jahren reduziert. Die Zeit möchte er möglichst gut und sinnvoll ausgestalten. Da Arbeit einen wesentlichen Teil davon beansprucht, ist es verständlich, dass wir uns darin selber verwirklichen möchten, das heisst eine Tätigkeit ausüben möchten, die uns fordert und befriedigt.

Welche philosophische Strömung kommt dieser Einstellung am nächsten?

Der Existentialismus, eine philosophische Strömung des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel sieht den Menschen als allumfassend selbstverantwortliches Wesen. In Begriffen wie Selbstentwurf, Freiheit und Selbstbestimmung zeigt sich seine Zentrierung auf die Eigenverantwortung des Menschen. Jean-Paul Sartre äusserte sich in diesem Zusammenhang: «Wir sind zur Freiheit verdammt.» Das Denkmodell mutet dem Einzelnen viel zu: Ich bin das, was ich aus mir mache, und nicht das, was andere meinen, was ich aus mir machen müsste. Häufig leben wir das Leben, das andere für uns ausgedacht haben, sei dies der Partner, die Partnerin, die Eltern, das soziale Umfeld, die Gesellschaft. Wir haben nicht den Mut, im eigenen Leben Regie zu führen.

Wir leben in einer Zeit, in der rasante Veränderungen das Berufsleben prägen. Laufen wir dabei nicht Gefahr, dass wir uns von der Arbeit steuern lassen?

Grundsätzlich sind grössere Veränderungen schon länger im Gang. Mit dem Beginn der Neuzeit trat auch die Technik ihren Siegeszug an. Die Industrialisierung hat gewaltige Veränderungen mit sich gebracht. Der Kapitalismus und die Marktwirtschaft sind die treibenden Motoren der Veränderung. Globalisierung, Rationalisierung, Innovations- und Preisoptimierungsdruck sind die Folgen. Der Mensch kann sich diesem System, das Gewinner wie auch Verlierer hervorbringt, nur beschränkt entziehen. Diese Situation betrifft uns alle.

Wie viel Selbstbestimmung im Beruf ist also noch möglich?

An dieser Stelle zitiere ich gerne Epiktet: «Von den Dingen stehen die einen in unserer Gewalt, die anderen nicht. In unserer Gewalt stehen unsere Meinung, unser Handeln, unser Begehren und Meiden.» Die Frage, die sich jedem Einzelnen stellt, ist: Was steht in meiner Macht? Was kann ich im Rahmen meiner Möglichkeiten verändern? So gewinnt die Person Macht über ihre individuelle Situation und kann ihr Handeln bestimmen sowie selbst Einfluss nehmen. Dabei ist wichtig, die eigene Macht nicht zu unterschätzen, sich aber auch zu fragen, welchen Preis man bereit ist zu bezahlen. Gehen wir in Opposition zu einer Sache, nehmen wir den Kampf auf, wird uns dies unruhige Zeiten bescheren. Es kann uns sogar unglücklich machen, aber der Kampf kann sinnvoll sein. Wir müssen wachsam sein, um den Punkt zu erkennen, an dem der Kampf aussichtslos wird. Dann kann es angebracht sein, sich mit der Situation abzufinden, sie zu akzeptieren, auch wenn dies äusserst schwerfällt. Das heisst nicht, dass man die Situation mögen muss, aber es bedeutet, sich von ihr emotional zu distanzieren, um wieder zum Glück zurückzufinden.

Aristoteles betonte, dass Glück von externen Gegebenheiten abhängig ist. Wie verhält sich diese Abhängigkeit im Berufsleben?

Sicherlich begünstigen äussere Umstände auch im Beruf das Glück, oder sie beeinflussen es negativ. Aber nicht ausschliesslich. Schon die Römer empfahlen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Oft bestimmt das Arbeitsmarktangebot die Möglichkeiten, im positiven wie im negativen Sinne. Der Einzelne muss seine individuelle Situation, seine Ideale, Vorstellungen und Fähigkeiten mit diesem Angebot abstimmen und die Schritte tätigen, die im Rahmen seiner Möglichkeiten liegen. Für Selbständige und Unternehmer begrenzt der Markt die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, bietet umgekehrt aber auch grosse Chancen.

Wir leben in einer Individualgesellschaft, bei der persönliche und berufliche Selbstverwirklichung einen hohen Stellenwert geniesst. Wo sehen Sie da die Grenzen?

Nach der Bedürfnishierarchie das amerikanischen Psychologen Abraham Maslow steht die Selbstverwirklichung an der Spitze einer Pyramide. Bevor sie überhaupt zum Tragen kommt, müssen gewisse Grundbedürfnisse abgedeckt sein, wie etwa genügend Nahrung oder ein sicheres Heim. Für viele ist die Selbstverwirklichung in der Arbeit keine reelle Chance. Sie arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nicht jedem steht die Möglichkeit offen, seine Fähigkeiten und Talente so zu entfalten, wie er oder sie möchte. Sei dies wegen ungünstiger Startbedingungen, wegen Unfall, Krankheit oder anderer Umstände, die sie oder ihn zwingen, primär zu arbeiten, um Geld zu verdienen, und nicht, um sich selbst zu verwirklichen. Das ist die Realität.

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