«der arbeitsmarkt» 10/2005

Das Amt wird zur Begegnungsstätte

Weg mit abgetrennten Beratungszimmern, das Grossraumbüro kommt. Ab Oktober 2005 will sich das RAV Pratteln moderner, offener, professioneller und freundlicher präsentieren.

Wer schon einmal ein RAV betreten hat, kennt das typische Erscheinungsbild: ein eher dunkler Empfangsbereich, ein verschlungener Weg zu den Beratungszimmern, durch Treppenhäuser und Korridore, vorbei an geschlossenen Türen. Eine Tür steht jeweils offen, aber nur für einige Sekunden. Kaum wurde der Raum betreten, wird sie  wieder geschlossen.
Wohl wahr: Wer arbeitslos ist, hat andere Probleme, als sich über die Ästhetik und Atmosphäre der RAV Gedanken zu machen. Trotzdem, ein bedrückendes Gefühl bleibt. Dem muss nicht so sein. Peter Thommen, Leiter des RAV Pratteln, ist sich sicher. Das RAV sollte ein Ort sein, an dem für die Stellensuchenden neue Türen aufgehen, an dem sie neue Perspektiven erhalten. Thommens Vision: «Die erfolgs- und akzeptanzfördernde Synchronisation einer modernen Problematik mit einer modernen Begegnungsstätte.»

Weg von der Stigmatisierung der Arbeitslosigkeit

Bereits Anfang Oktober soll diese Vision Wirklichkeit werden. Dann nämlich bezieht das RAV Pratteln seine neuen Räumlichkeiten an der Güterstrasse 107, in einem ehemaligen Gebäude der Firma Bombardier Transportation Schweiz. Vor dem Hintergrund der Schliessung des Bombardier-Werks Pratteln im vergangenen Juli und des dadurch bedingten Verlusts von rund 520 industriellen Arbeitsplätzen fällt es schwer, von einem Glücksfall zu sprechen. Aber der neue Standort biete, so Thommen, eine einzigartige Gelegenheit zur Schaffung eines zeitgemässen «Kompetenzzentrums gegen Arbeitslosigkeit».
Anstelle der üblichen Beratungsbüros wird hier ein «lichtdurchflutetes, offenes und freundliches» Grossraumbüro entstehen. Empfangs- und  Beratungsbereich bleiben weiterhin getrennt. Im Beratungsbereich werden die einzelnen Arbeitsplätze jedoch nur noch durch Stellwände von 1,6 Metern Höhe voneinander abgegrenzt.
Diese Durchlässigkeit sowohl in visueller als auch akustischer Hinsicht wurde bewusst gewählt. Man will den Stellensuchenden signalisieren, dass Arbeitslosigkeit nichts Ungewöhnliches ist, nichts, das hinter
verschlossenen Türen und zugezogenen Gardinen verhandelt werden muss. Die Grossraumstruktur soll zu mehr
Offenheit im Umgang mit Arbeitslosigkeit und zu deren Entstigmatisierung beitragen. Die Stellensuchenden sollen ganz konkret sehen können, dass es noch andere Leute gibt, die sich in derselben Situation befinden wie sie. «In Anbetracht der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation, in der es mehr Stellensuchende als offene Stellen gibt, ist Arbeitslosigkeit längst nicht mehr etwas Disqualifizierendes, sondern vielmehr eine mathematische Konsequenz. Stellenlosigkeit ist ein Schadensfall, den die Versicherten erleiden», betont Thommen und fügt hinzu: «Die Stellensuchenden haben Prämien bezahlt. Dafür haben sie einen Anspruch auf Taggelder und eine professionelle Beratung – nicht mehr und nicht weniger. So arbeitet jede andere Versicherung auch.»
Peter Thommen weiss, wovon er spricht. Fünfzehn Jahre leitete er die Abteilung Infrastruktur und Finanzen am Institut für Immunologie der Firma Hoffmann-La Roche. Dann wurde das Forschungszentrum geschlossen, und er stand plötzlich ohne Job da. Obwohl er eine kaufmännische und technische Ausbildung sowie jahrelange Führungserfahrung vorweisen konnte, war es für ihn alles andere als einfach, eine neue Stelle zu finden. Nach ungefähr neun Monaten erfolglosen Bewerbens meldete er sich schliesslich beim RAV Gelterkinden an. Aufgrund eines Kader-Assessments wurde das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA) Baselland auf ihn aufmerksam. Seit einem Jahr leitet er nun das RAV Pratteln.
Seine Herkunft aus der Privatwirtschaft betrachtet er angesichts der neuen Aufgabe als grossen Vorteil, gerade wenn es darum gehe, bestehende Strukturen zu hinterfragen und Arbeitsprozesse zu optimieren. Thommen ist überzeugt, dass sich die RAV den veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt anpassen müssen. Aufgrund der hohen Arbeitslosenquote sind die Personalberater völlig überlastet. «Ob dasjenige, was man tut, nicht nur recht, sondern auch das Richtige ist», diese Frage werde heute in den RAV oft gar nicht gestellt. Es finde niemand die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, kritisiert Thommen. Der von ihm initiierte «Club Jeudi» versucht, diesem Mangel an Reflexion entgegentreten. Einmal pro Woche, jeweils am Donnerstag, nehmen sich die Berater in Pratteln eine Stunde lang Zeit, um über solche Fragen oder aktuelle Themen wie beispielsweise das Personenfreizügigkeitsabkommen nachzudenken.

Sicherheit vor Eskalation und Gewalt

Neben dem Signal für mehr Offenheit sprechen noch andere Gründe für das RAV als Grossraumbüro. Thommen hat eine ganze Liste von Beurteilungskriterien zusammengestellt. Ein Kriterium ist die Flexibilität:
Die Eröffnung und Schliessung eines RAV ist eine kostspielige Angelegenheit. Durch die Grossraumstruktur kann schneller und einfacher auf die arbeitsmarktliche Situation reagiert werden. Ein weiterer wesentlicher Vorteil liegt im Bereich der «Leistung»: Ein Grossraumbüro ermöglicht ein wirksameres Controlling, vereinfacht die Einarbeitung neuer Personalberater und fördert den gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Ein wichtiger Aspekt ist auch das Thema «Sicherheit». In abgetrennten Einzelbüros bemerkt man nicht sofort, wenn es zur Eskalation von Gewalt kommt. Das ist im Grossraumbüro anders. Hier können die Kollegen im Notfall sofort eingreifen. Zudem ist zu erwarten, dass sich die öffentlichere Atmosphäre des Grossraumbüros zivilisierend auf das Gesprächsverhalten zwischen Beratern und Stellensuchenden auswirkt. Nicht zu unterschätzen sind ebenfalls die Akzeptanz und das Image der RAV, die durch einen modernen und professionellen Marktauftritt gestärkt werden können. Dies ist gerade in den gegenwärtigen Zeiten, in denen immer noch wenig offene Stellen dem RAV gemeldet werden, von grosser Wichtigkeit.
Trotz all dieser Gründe stösst die Idee eines Grossraumbüros bei RAV-Beratern auch auf Skepsis. Ein häufiger Einwand lautet: «Aber wo bleibt denn da die Geheimhaltung, die Vertraulichkeit?» Für viele Stellenlose ist die Tatsache, arbeitslos zu sein, immer noch ein psychisches Problem, das sie nicht gerne an die grosse Glocke
hängen wollen.
Dieses Argument lässt Thommen jedoch nicht gelten. «Geheimhaltung» sei auch heute nicht gewährleistet, meint er. Wer ein RAV betrete, werde unweigerlich von anderen Leuten gesehen, dies lasse sich nicht vermeiden. Was die Vertraulichkeit der Beratungsgespräche angeht, so sieht er die Aufgabe dieser Gespräche nicht darin, die persönlichen Probleme der Stellensuchenden immer wieder durchzukauen, sondern den Stellensuchenden im Rahmen einer effizienten Beratung aktive Inputs zu liefern, damit sie möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Auch diesbezüglich verortet Thommen in den offenen Strukturen des Grossraumbüros eine Chance, die Gespräche thematisch auf eine sachlichere Ebene zu lenken. Für besondere Fälle stehen im Übrigen zwei separate Beratungsräume zur Verfügung.
Die Diskussion um das Für und Wider von Grossraumbüros ist nichts Neues. In den letzten Jahren haben sich bereits einige RAV für den Wechsel zu Grossraumstrukturen entschieden. Im RAV Olten werden beispielsweise seit dem 1. April 2004  die Beratungen in einem Grossraumbüro durchgeführt. Ebenso im RAV Zürich-Oerlikon, das bereits am 1. Juli 2002 einen entsprechenden Versuch gestartet hat. Haben sich die Neuerungen bewährt?

Konzentration auf sachliche Themen

Rolf Allemann, Leiter des RAV Olten, zieht eine positive Bilanz. «Ich würde es sofort wieder machen», bekräftigt er. Als Vorteile nennt er die mögliche Flexibilität, den Sicherheitsaspekt und die Konzentration der Gesprächsinhalte auf sachlichere Themen. Von Seiten der Erwerbslosen hat er keine negativen Rückmeldungen erhalten. Die separaten Besprechungszimmer, die man für den Fall eingerichtet hat, dass sich jemand durch die offene Struktur gestört fühlt, werden so gut wie nie genutzt. Mühe bekundeten hingegen einige Mitarbeitende. Etwa ein Drittel der Personalberater empfand das Vorhaben im Vorfeld als unzumutbar. Vor allem die stärkere soziale Kontrolle unter den Beratenden bereitete anfangs Bedenken.
Allemann räumt ein, dass man die Personalberater damals besser auf den Wechsel zum Grossraumbüro hätte vorbereiten sollen.
Die Umstellung sei doch einschneidender gewesen, als man zunächst erwartet hatte. Mittlerweile hätten sich aber die meisten gut mit der neuen Situation arrangiert. Auch Marie Helene Birchler Balbuena, Leiterin des RAV Zürich-Oerlikon, spricht von einem «vollen Erfolg». Stellensuchende wie Berater schätzten die «helle, grosse und offene Atmosphäre». Ähnliche Widerstände bei den Personalberatern wie in Olten hat sie nicht erlebt. Sie könne sich aber vorstellen, dass gerade Berater, die bereits vorher in einem RAV tätig gewesen seien, grössere Schwierigkeiten hätten, sich auf die neue Situation einzulassen, als neu rekrutierte Mitarbeiter. Auch sie nennt als Vorteile die verbesserte Sicherheit und die positive Auswirkung auf die Gesprächskultur. Als Nachteil weiss Birchler Balbuena einzig die Geräuschkulisse zu nennen, die gelegentlich als störend empfunden werde.
Peter Thommen ist sich bewusst, dass Probleme auftauchen werden. Deshalb ist es ihm wichtig, das Ganze als «Versuch» zu verstehen. Sollte sich herausstellen, dass eine effiziente Beratung unter den neuen Bedingungen nicht möglich sei, liesse sich der Raum ohne grossen Aufwand mittels Elementwänden umrüsten, die Struktur des Gebäudes sei explizit auf diese Möglichkeit ausgerichtet. Dies jedoch nur als Ultima Ratio. Denn vom Erfolg des Projekts ist Peter Thommen fest überzeugt.

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