«der arbeitsmarkt» 12/2012TEXT: Sara Ferraro
Interkulturelle Übersetzung

Brücken über kulturelle Gräben

Menschen mit Migrationshintergrund ist vieles in der Schweiz fremd. Interkulturelle Übersetzerinnen und Übersetzer helfen ihnen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Eine Pilotstudie im Kanton St. Gallen zeigt, dass auch Sozialämter und RAV von der Zusammenarbeit profitieren.

Die Eltern sind fassungslos. Soeben haben sie gehört, dass ihre Tochter eine Spezialklasse besuchen muss. Das komme für sie nicht in Frage. Lieber kehrten sie in ihr Heimatland zurück, erklären sie der erstaunten Lehrerin. Diese versteht die Welt nicht mehr. Schliesslich hat sie nur mitgeteilt, dass das Kind in der Einführungsklasse besser aufgehoben sei, weil es die deutsche Sprache dort besser lernen könne. Dies wurde den Eltern so in deren Muttersprache übersetzt. Zum Glück hilft eine interkulturelle Übersetzerin weiter. Sie erklärt den Eltern das schweizerische Schulsystem. Die Lehrerin erfährt, dass es im Herkunftsland der Familie keine Klassen für Kinder mit Lernschwierigkeiten gibt. Schliesslich einigen sich die Beteiligten, und das Kind kann eine Klasse besuchen, die seinen Bedürfnissen entspricht.

Die ehemalige Lehrerin Ramona Giarraputo, die diese Geschichte erlebt hat, ist heute Leiterin des Kompetenzzentrums Integration und Gleichstellung des Kantons St. Gallen. «Durch die Einwanderung hat sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Mit dieser Situation müssen wir umgehen», erklärt sie. Die meisten Migrantinnen und Migranten begännen bald nach ihrer Ankunft damit, die lokale Landessprache zu lernen. Aktuell besuchten mehr als 4000 Personen im Kanton St. Gallen Deutschkurse. Doch gerade in der Anfangszeit sei für die Zugewanderten noch vieles fremd und unverständlich. «Vielleicht steht in dieser Zeit ein schwieriges Elterngespräch bevor, oder eine Person muss sich einer Operation unterziehen und kann dem Vorbereitungsgespräch nicht folgen. Deshalb braucht es professionelle interkulturell Übersetzende», führt Giarraputo aus.

Im Gesundheitsbereich sei interkulturelle Übersetzung besonders wichtig und gehöre seit langem zum Arbeitsalltag, da Missverständnisse hier fatale Folgen haben könnten. Oft müssten lebenswichtige Entscheide gefällt oder eine schwerwiegende Diagnose mitgeteilt werden, erklärt Giarraputo. Nun gehe es darum, den Sozialämtern und RAV aufzuzeigen, wie auch sie von interkultureller Übersetzung profitierten.

«Unser Ziel ist, Integrationshürden abzubauen», erklärt Giarraputo. «Damit sich die Leute integrieren können, müssen sie verstehen, wie unsere Institutionen funktionieren.» Die interkulturelle Übersetzung nütze aber auch den Mitarbeitenden von RAV und Sozialämtern. «Man kann sich viele Gespräche sparen, wenn man sich von Anfang an versteht», erklärt Giarraputo. «Dank interkultureller Übersetzung können sich die Beratenden darauf verlassen, dass sie von den Klienten und Versicherten richtig verstanden werden.»

RAV und Sozialämter hatten bisher nur selten von interkultureller Übersetzung Gebrauch gemacht. Deshalb hat das Kompetenzzentrum Integration und Gleichstellung des Kantons St. Gallen 2011 die Pilotstudie «Dolmetschergutscheine» lanciert. Dabei erhielten RAV und Sozialämter des Kantons zwischen November 2011 und April 2012 Gutschriften, die sie beim ostschweizerischen inerkulturellen Übersetzungsdienst Verdi einlösen konnten. Die Übersetzungen waren gratis – einzige Bedingung: Das Sozialamt oder RAV musste an der Auswertung der Studie teilnehmen.

Ein Angebot setzt sich durch

Im April 2012 hat die Sozialforschungsfirma Landert & Partner die Studie evaluiert. Dazu hat sie die Mitarbeitenden von RAV und Sozialämtern befragt, die von den Gutscheinen Gebrauch gemacht haben. Die Auswertung der Fragebögen zeigt, dass interkulturelle Übersetzung bei RAV und Sozialämtern massgeblich dazu beiträgt, sprachliche Barrieren zu überwinden und Gesprächsziele zu erreichen. Sie verbessert die Gesprächsatmosphäre und erleichtert den Sozialarbeiterinnen und RAV-Beratern ganz allgemein die Arbeit. Bei den Beraterinnen wiederum steigert die Übersetzung auch das Verständnis für die Situation der fremdsprachigen Klientel. Missverständnisse werden verhindert, und das gegenseitige Vertrauen wird gestärkt.

Gemäss Bundesverfassung haben alle Personen einen Anspruch auf rechtliches Gehör. Eine Studie der Berner Rechtsprofessoren Alberto Achermann und Jörg Künzli kommt zum Schluss, dass der Staat aufgrund der Rechtslage dazu verpflichtet ist, eine hindernisfreie Kommunikation sicherzustellen, wenn «staatliches Handeln den Charakter einer Verfügung annimmt». Allerdings gibt es noch keine Richtlinien dafür, wann eine Behörde einen interkulturellen Übersetzungsdienst beiziehen muss. Es liegt im Ermessen der Beteiligten, von solchen Angeboten Gebrauch zu machen.

Gemäss dem Evaluationsbericht der Pilotstudie setzten die meisten Sozialämter bereits früher interkulturell Übersetzende ein. Einige gaben sogar an, den Bedarf weitgehend durch die Sprachkenntnisse ihrer Mitarbeitenden abdecken zu können. Doch wenn ein Entscheid mit gravierenden Folgen getroffen werden müsse oder der Fall komplex sei, sei den Sozialämtern eine interkulturelle Übersetzung wichtig, ist dem Bericht zu entnehmen.

Bei den RAV stiess das Angebot zuerst auf geringes Interesse. Nur gerade neunmal wurde das Angebot während der Pilotphase genutzt – möglich wären 50 kostenlose Stunden gewesen. «Am Anfang war von Seiten der RAV eine gewisse Skepsis spürbar. Bei neuen Angeboten braucht es eben eine gewisse Anlaufzeit, bis ein Erfolg sichtbar wird», erklärt Walter Abderhalden, Leiter der Hauptabteilung Arbeitslosenversicherung des Kantons St. Gallen. Die Pilotstudie habe aber den Nutzen dieser Dienstleistung klar gezeigt und die Mitarbeitenden überzeugt. Nach Abschluss der Pilotstudie im April bis Ende August 2012 seien 23 Übersetzungstermine beim Übersetzungsdienst Verdi gebucht worden. Dies entspreche dem geschätzten tatsächlichen Bedarf.

Gerade bei heiklen Gesprächen, in denen es um Abklärungen gehe und bei denen mehrere Institutionen beteiligt seien, sollten Übersetzer selbstverständlich sein, sagt Abderhalden. «Es geht doch nicht, dass zum Beispiel die Tochter für den Vater ein Gespräch über dessen Arbeitsunfähigkeit übersetzt.»

Oft geht es auch darum, Ängste abzubauen und kulturelle Barrieren zu überwinden. Malini Sivakumar aus Sri Lanka hat damit viel Erfahrung. Sie wohnt seit 18 Jahren in der Schweiz und hat schon für zahlreiche Landsleute übersetzt. Die Vermittlerin bei Verdi hat sich berufsbegleitend zur interkulturellen Übersetzerin weitergebildet und das Zertifikat «Interpret» erworben. Jetzt strebt sie den eidgenössischen Fachausweis für interkulturell Übersetzende an und besucht dazu regelmässig Weiterbildungen und Supervisionsstunden.

Weniger Missverständnisse

Während der Pilotstudie übersetzte Sivakumar für eine Tamilin, die auf einem RAV gemeldet war. Sie war teilweise arbeitsunfähig und litt an verschiedenen Beschwerden. Bei dem Gespräch war ausser der RAV-Beraterin auch eine Fachperson der IV beteiligt. Die RAV-Beraterin wollte die Versicherte in ein spezielles Programm schicken, um den Grad der Arbeitsunfähigkeit festzustellen und herauszufinden, welche Arbeiten noch möglich sind. «Die arme Frau war völlig ratlos. Sie war überzeugt, dass man ihr nicht glaubte und sie zu einer Arbeit zwingen wollte, die sie überforderte», erzählt Sivakumar. «Nur dank der Übersetzung verstand die Klientin, was man von ihr erwartet und wie die Sozialversicherungen in der Schweiz arbeiten.»

Nicht nur das Sozialversicherungssystem sei hier anders als in Sri Lanka. Auch einzelne Fachbegriffe hätten eine andere Bedeutung. «Ich kann einem tamilischen Klienten zum Beispiel nicht einfach sagen, er müsse zu einem Psychiater.» Deshalb müsse sie solche Begriffe umschreiben. Tamilische Eltern hätten auch Mühe, zu verstehen, warum ihr Kind zum Beispiel eine Sprachheilschule besuchen soll oder ein Schuljahr wiederholen muss. «Sprachheilschulen sind eine grossartige Sache, und oft ist es sinnvoll, dass ein Kind ein Schuljahr wiederholt. Aber ich muss zuerst erklären, dass dies keine Schande ist und den Interessen des Kindes dient.» Dies teile sie auch den schweizerischen Lehrkräften und Amtspersonen mit. Transparenz sei sehr wichtig. Die Übersetzerin dürfe nichts hinzufügen oder weglassen und schon gar nicht versuchen, auf den Gesprächspartner, zum Beispiel den Klassenlehrer, Einfluss zu nehmen.

Im Kanton St. Gallen würden in Zukunft pro Jahr 50 bis 60 RAV-Gespräche mit Übersetzerinnen stattfinden, schätzt Abderhalden. Die meisten beträfen Fälle, die eine interinstitutionelle Zusammenarbeit nötig machten. «Interkulturelle Übersetzung erleichtert den RAV-Beratenden und IV-Fachpersonen die Arbeit und trägt dazu bei, die Versicherten rascher und nachhaltiger wiedereinzugliedern. Schliesslich können Versicherte nur Abmachungen einhalten, die sie wirklich verstanden haben.»

Auch beim Bundesamt für Migration (BFM) geniesst die interkulturelle Übersetzung einen hohen Stellenwert. «Unser Ziel ist eine professionelle Ausbildung und Vermittlung von interkulturell Übersetzenden in der ganzen Schweiz», erklärt Eric Kaser, Chef der Sektion Integrationsförderung des BFM. Das Amt unterstützt den Aufbau solcher Strukturen finanziell, unter anderem auch das Vermittlungsbüro Verdi. «Wenn eine RAV-Leiterin oder ein Sozialarbeiter interkulturelle Übersetzung benötigt, gibt es heute überall eine Anlaufstelle.»