«der arbeitsmarkt» 09/2007

«Belastend? Nein, bereichernd.»

Die weltweit aktive Hospizbewegung setzt sich seit 40 Jahren für die umfassende Betreuung sterbender Menschen ein. Auch Freiwillige kommen zum Einsatz. Was motiviert sie, ohne Lohn in diesem hochsensiblen Bereich tätig zu sein? Auf Antwortsuche in Zürich und Liechtenstein.

Franz-Josef Jehle, Präsident der Hospizbewegung Liechtenstein

«Sterbebegleitung ist Lebensbegleitung» ist das Credo der Hospizbewegung Liechtenstein. Für Franz-Josef Jehle, Präsident der gemeinnützigen Organisation, ist das Leitmotiv zugleich persönlicher Beweggrund, sich dort ehrenamtlich zu engagieren, wo es Menschen ans Lebendige geht. Jehle nahm schon vor vielen Jahren wahr, dass etwas faul sein muss im Kleinstaat Liechtenstein, wenn auch noch das menschliche Leben nach ökonomischen Kriterien beurteilt, ergo materialisiert wird. Er entschied sich, etwas zu tun: Anfang der 90er-Jahre initiierte Jehle in seinem Heimatland die Hospizbewegung (siehe Box Seite 56). Seither versucht er, seine Landsleute für die Probleme in der hochsensiblen letzten Lebensphase der Menschen empfänglich zu machen. «Es ist erschreckend, wie mit unheilbar Kranken und Alten umgegangen wird», sagt Jehle. «Dieser Umgang mit Sterben und Tod ist Spiegel einer Gesellschaft, bei der nur das Geld im Vordergrund steht. Ich kann die Gesellschaft nicht ändern. Doch ich kann einen Lichtblick einbringen.»
Diesen Sommer sind es 24 Freiwillige, die es Jehle gleichtun, indem sie sich zur praktischen Hospizarbeit bereit erklärt haben. Die Laien wurden (und werden) darin in Zusammenarbeit mit der staatlich geförderten Erwachsenenbildung ausgebildet. Jehle macht kein Aufheben darum, dass dieses fruchtbare Zusammenwirken von Hospizbewegung und Erwachsenenbildung wegen seiner «Doppelrolle» zustande kam. Der 54-Jährige ist von Beruf diplomierter Erwachsenenbildner FH und seit 25 Jahren vollamtlich als Studienleiter mit Schwerpunkt Persönlichkeitsbildung n der Erwachsenenbildung Liechtenstein tätig. Er nutzte seine beruflichen Möglichkeiten, um das Grundanliegen der Hospizbewegung zu verbreiten.
Zur Ausbildung der Laien steuerte er ihm wichtige Themen wie Sozialkompetenz bei. Mit dem Wortspiel «sich als Person ent-wickeln» erläutert Jehle den tieferen Sinn darin: «Aus dem Knäuel herauskommen, in dem wir alle stecken. Man muss bei sich selbst anfangen, bei sich selbst auf die Suche gehen: Was sind meine Fähigkeiten, meine Stärken? Wie und wo kann ich sie einbringen? Der Lohn ist Teil der Anerkennung, aber letztlich muss ich das, was ich mache, aus einer Berufung heraus machen. Es geht überall im Leben um die gleiche Frage: Mit welcher Grundhaltung mache ich, was ich tue?»
In seinem beruflichen Alltag ist Franz-Josef Jehle «aussenorientiert, das Zugehen auf andere Leute ist da sehr wichtig». Warum tut er, was er tut? «Ich möchte bewusster leben. Ich möchte meinem Gegenüber möglichst würdevoll und ohne Vorurteile begegnen.» Und Franz-Josef Jehle will ein anderes «Mannsbild» sein als das, welches sein Vater ihm nach damaligem Geschlechterrollenverständnis vorgelebt hat. Franz-Josef Jehle betont auch: «Ich hatte Glück. Ich habe eine tolle und verständnisvolle Frau, bin Vater von zwei wunderbaren Kindern, die glücklich in ihrem Beruf sind. Ich habe ein gutes familiäres Fundament, kann offene Gespräche führen. Mit Oberflächlichem habe ich Mühe. Ich suche und brauche die Tiefe.»
Jehle war auch Mitgründer und viele Jahre lang Mitglied des Kriseninterventionsteams Liechtenstein, das bei ausserordentlichen Todesfällen von der Polizei zur Begleitung und Stützung von Angehörigen aufgeboten wird. Er erzählt: «Als der Pager mich wieder einmal in der Nacht zu einem Einsatz rief, war mein Sohn vom Ausgang noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Mich durchfuhr der Gedanke: ‹Und was, wenn es mein eigener Sohn ist?› Es schüttelte mich gehörig durch und löste etwas viel Tieferes aus: die intensive Auseinandersetzung mit mir selbst.» Definitiver Impuls, Sterben und Tod im Fürstentum Liechtenstein zum öffentlichen Thema zu machen, war für Jehle Ende 80er-Jahre «die sagenhafte Resonanz» auf den Caritas-Pilotkurs «Sterbebegleitung und Trauerarbeit» im Kanton Zürich. Franz-Josef Jehle absolvierte als erster Liechtensteiner in Wien die Ausbildung zum Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleiter und erlernte therapeutische Methoden zur Aussöhnung. Den theoretischen Hintergrund eignete er sich mit dem Studium der Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl an. In dieser Lehre geht es, kurz gesagt, darum, dass das Leben einen wertbegründeten Sinn haben soll. Jehle: «Es ist ür jeden einzelnen Menschen eine ständige Arbeit, seinen Sinn zu finden. »
Die persönliche Dimension des Sterbens erfuhr Franz-Josef Jehle, als innert kurzer Zeit vier ihm nahe Menschen starben: die 90-jährige Mutter, der älteste Bruder und seine Schwiegereltern. «Ich war schon damals topmotiviert, in dem Bereich zu arbeiten, in dem alle Betroffenen ziemlich allein gelassen sind.»
Jehle, der publiziert, referiert und Seminare über Hospizarbeit im In- und Ausland leitet, wird häufig gefragt, ob Sterbebegleitung denn nicht sehr belastend sei. «Nein, bereichernd, wenn die Empathie, Energie fliesst. Und wenn es mir gelingt, mich positiv, aber empathisch von meinem Gegenüber abzugrenzen und ich eine gesunde Psychohygiene aufrechterhalten kann. Schlussendlich erhalte ich Lebensqualität für mich selber. Im Sinne von Mehrwert.» Jehle ist «felsenfest» überzeugt: «Um etwas loslassen zu können, muss ich mich damit ausgesöhnt haben. In Liebe loslassen, in Liebe in Erinnerung behalten – das ist für mich das Wichtigste.» Ein warmes Lachen breitet sich über Franz-Josef Jehles Gesicht: «Die Leichtigkeit des Seins müssen wir als Gesellschaft wieder lernen.»

Barbara Brugger, freiwillige Sterbebegleiterin im Zürcher Hospiz Lighthouse

«Wie der Mensch gelebt hat, so stirbt er auch», vermutet Barbara Brugger. «Der eine wehrt sich, der andere kann loslassen.» Das Sterben, wie alt man dabei auch ist, stellt sie sich vor wie einen Kreis, der sich schliesst. Und den Sterbeprozess davor: «Wenn es immer runder wird.» Wer lange nicht abschliessen kann, dem
ist irgendetwas im Weg, denkt sie. Dabei zuzusehen, «wie ein Mensch einfach nicht gehen kann, im einen Moment völlig da ist und noch einen Schwarztee verlangt, im nächsten wieder völlig weg», empfindet Barbara Brugger als etwas vom Schwierigsten an ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Für sich selbst hofft sie, dass «es möglichst rund kommt», wenn es so weit ist.
Barbara Brugger ist freiwillige Sterbebegleiterin im Zürcher Hospiz Lighthouse (ZHLH), das 1991 als Sterbehaus für Aids-Kranke eröffnet wurde und sich zum Kompetenzzentrum für Palliative Care entwickelt hat. Es steht heute allen schwer kranken Menschen offen, für die es keine Heilung gibt. Barbara Brugger wirkt auf Abruf als Bezugsperson für Menschen, die es in einer Situation nicht mehr aushalten. «Viele Patientinnen und Patienten kommen heute erst dann ins Hospiz, wenn sie ganz schlecht zwäg sind», sagt sie. «Es ist nicht einfach, wenn ich die Person nicht kennenlernen konnte, als es ihr noch besser ging, und sie innert kürzester Zeit zerfällt, so dass ich nur noch das Nonverbale habe, um mich diesem Menschen zuzuwenden. Das Schweigen aushalten zu müssen, das ist schwierig.»
Die 41-jährige Barbara Brugger ist verheiratet, Mutter von drei Kindern im Alter von 8, 11 und 13 Jahren und besorgt Haus und Garten in einem grünen Quartier in Zürich-Altstetten. Als sich das Bedürfnis meldete, nebenbei wieder etwas Eigenes zu haben, stieg sie mit Spitex-Einsätzen ins Gesundheitswesen ein, wo sie früher als Medizinlaborantin berufstätig war. Auf den Spitex-Touren, bei denen sie jeweils nur kurz bei den einzelnen Patienten ist, geriet sie in Situationen, in denen sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte: «Wenn es jemandem schlecht geht, wenn es zu Ende geht.» Das Sterben war ihr bis dahin fremd. Deshalb bildete sie sich mit dem Caritas-Kurs «Sterbebegleitung» weiter.
Der Eigennutzen genügte ihr aber nicht. Barbara Brugger macht mit angeeignetem Wissen und ihren Fähigkeiten gerne «etwas Handfestes». Es lag ihr nahe, persönlich mitzuhelfen, das aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängte Tabu Sterben zu thematisieren und dem menschenwürdigen Sterben mehr
Gewicht zu geben. Sie sah sich um und fand im Lighthouse den richtigen Ort, um sich persönlich einzubringen.
Was Barbara Brugger beim Begleiten von Sterbenden hört und sieht, ist manchmal erschütternd. Zu merken, «ich habe die Fähigkeit, das auszuhalten», bestärkt sie in ihrem Tun. Sie fühle sich selbst gar nicht so stark, sei aber in ihrem Leben verwurzelt wie eine Eiche, bei der es oben «zuslen kann und unten hebt». Ihr Alltag ist die Quelle, aus der sie Energie und Zuversicht schöpft: «Ich brauche das hundskommune Leben, das ich zuhause habe, dieses Im-Leben-Stehen. Ich weiss, hier gehöre ich hin.» Sie habe ein äusserst starkes Netz, sagt Barbara Brugger, «extremen Boden unter den Füssen». Der hilft ihr, Erschütterndes zu ertragen: «Ich kann schauen, was kommt, es an mich heran- und durch mich hindurchlassen.» Und wenn Barbara Brugger etwas zu nahe geht, sie äusserst Belastendes erfährt, kann sie es «dalassen», sei es durch Weitergeben ans interdisziplinäre Team oder durch Abladen in den verschiedenen Gefässen des Lighthouse. «Die Menschen, die ich begleitet habe, kommen mir wieder in den Sinn. Aber die Bilder verfolgen mich nicht mehr.» Das Loslassen ist für Barbara Brugger ein Thema fürs ganze Leben.
Barbara Brugger wird im Umgang mit Menschen, die dem Tod ins Gesicht sehen, immer wieder mit ihren eigenen Vorstellungen konfrontiert: «Ich bin auch bünzlig», sagt sie, «und werte häufig. Hier aber kann man das nicht: Es gibt kein richtiges oder falsches Sterben. Ich kann nicht wissen, wie es für den sterbenden Menschen ist. Ich muss ihn wahrnehmen, herausfinden, wo er jetzt drin ist, ohne zu werten und ohne ihm etwas überzustülpen. Denn was wir anderen denken oder empfinden, ist absolut zweitrangig.»
«Dazu», sagt Barbara Brugger, «muss ich aber auch mich selber wahrnehmen. Man muss bei sich selbst sein, sonst kann man nichts geben und wäre wie eine Puppe, die ans Bett eines sterbenden Menschen gesetzt wird.»

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