«der arbeitsmarkt» 12/2014TEXT: Annekatrin KapsFOTO: Stefan Zürrer
Reinheitsgebot

Bei Herzberg ist alles koscher

Für den jüdisch-orthodoxen Kaufmann ist Gottes Wort entscheidend. Nach seinen Gesetzen vertreibt Simon Bollag, Geschäftsführer des Familienunternehmens Herzberg, Schokolade und Käse aus eigener Produktion.

Kleinere Lebensmittelgeschäfte haben meistens feste Öffnungszeiten und sind ebenerdig gelegen. Nicht so der Laden von Simon Bollag in der Kalkbreitestrasse in Zürich. Hier im Kreis drei leben viele der orthodoxen Juden. Die traditionell gekleideten Männer in ihren schwarzen Anzügen, Hut oder Kippa tragend, und die meist dunkel angezogenen Frauen mit Perücke prägen das Strassenbild. Simon Bollags Geschäft liegt in der zweiten Etage eines Eckhauses und ist gleichzeitig das Büro des Kaufmanns. Es besteht aus zwei Räumen, im kleineren Entree steht Rachel Bollag und telefoniert mit einem ihrer Urenkel. Ihr Mann sitzt hinter einem wuchtigen Schreibtisch im Nebenzimmer und führt ein geschäftliches Telefonat.

«Ich komme gleich», ruft er lächelnd. Als der weisshaarige Mann mit der Kippa auf dem Kopf den Verkaufsraum betritt, strecke ich ihm automatisch meine Hand zur Begrüssung entgegen. Mein gleichzeitiger Gedankenblitz, einen Fauxpas begangen zu haben, kommt zu spät, und Simon Bollag erwidert den Händedruck. Später wird er mir erklären, dass er einer Nichtjüdin in dieser Situation immer die Hand gebe, um sie nicht zu beschämen. Nur einer jüdischen Frau könne er nicht die Hand reichen, das verbiete seine Religion.

Auf dem runden Tisch in der Mitte des einen Raumes steht eine Pralinéschachtel von Torino, im Regal links vom Eingang liegen verschiedene Schokoladentafeln, welche ebenfalls nach Produkten der Marke Camille Bloch ausschauen. Nur die kleingedruckten, hebräischen Buchstaben verweisen auf die koschere Herstellung. Schoggi und Pralinés werden von der Firma Herzberg, die Simon Bollag gemeinsam mit seinem Sohn führt, beim bekannten Schweizer Chocolatier Camille Bloch in Courtelary (BE) produziert.

Koscher heisst erlaubt

«Unsere Schoggi ist absolut weltbekannt», sagt Simon Bollag mit Nachdruck. Achtzig Prozent der orthodoxen Juden würden Torino oder Ragusa aus der Herzberg- Produktion kennen. In allen jüdischen Ballungszentren werden diese über die entsprechenden Importeure vertrieben.

Der agile 73-Jährige kümmert sich als gelernter Kaufmann um den Vertrieb. Die fünf Jahre Geschäftserfahrung, die er in einer Filiale der israelischen Bank Leumi sammelte, seien ihm als Selbständigem sicher zugutegekommen. Der in Israel lebende Sohn Bernhard leitet die Produktion der 1951 von seinem Grossvater gegründeten Firma.

Herzberg
Firma Das Familienunternehmen Herzberg handelt mit Koscher-Produkten.
Produktion Seit 1951 lässt die Firma verschiedene Schokoladen produzieren, seit 1953 bei der Firma Camille Bloch im Berner Jura. Diese stellt 80 000 KiloSchokolade pro Jahr für Herzberg her. Die Verpackung der koscheren Erzeugnisse ist durch die hebräische Beschriftung unverwechselbar mit den bekannten Camille-Bloch-Produkten. Die Milch, welche für die 10 bis 15 Tonnen Käse jährlich verwendet wird, kommt von deutschen und schweizerischen Höfen im Allgäu und Thurgau. In Zürich sind die Lebensmittel bei Koscher City erhältlich.
Geschäftsführer Simon Bollag,73, ist Kaufmann und Geschäftsführer der Firma Herzberg. Der achtfache Vater hat 56 Enkel und 20 Urenkel. Die Familie Bollag lebt in zehnter Generation in Zürich.

  

Da Herzberg nur sporadisch im Unternehmen von Camille Bloch koscher fabriziert, müssen alle Maschinen vorher penibel gereinigt. werden. «Jedes Fleckchen von nicht koscherer Schokolade muss weg», erklärt Simon Bollag. Allein die Reinigung dauere einige Tage. Das sei ein Kostenpunkt, der sie teurer als andere Schoggi mache.

Während der Produktion kontrolliert ein Begleiter, der sogenannte Maschgiach, die Einhaltung der jüdischen Speisegesetze. Neben dem Reinheitsgebot ist bei der Schokoladenherstellung wichtig, dass nur reine Schokolade ohne Geschmacksverstärker oder Emulgatoren verwendet wird. Bei Fragen des christlichen Personals oder etwaigen Unklarheiten wende sich der Maschgiach an den zuständigen Rabbiner. Dessen Name muss auf jedem Produkt erwähnt werden, seine Mitarbeit wird ihm vergütet. Die fertigen Köstlichkeiten werden in den Kühlräumen der jurassischen Schokoladenfabrik gelagert.

Eine Auswahl liegt zum Verkauf in der Kalkbreitestrasse auf. «Eigentlich führe ich kein Ladengeschäft, bin nur auf Voranmeldung zu sprechen», sagt Simon Bollag, der täglich in seinem Geschäft anzutreffen ist. Ausser am Sabbat, «da könnte einer kommen und sagen, ich kaufe für eine Million, da ist nichts zu machen». Simon Bollag lacht. Viele seiner Kunden oder Freunde gehen trotzdem spontan an anderen Tagen vorbei. Die meisten verlangen den ebenfalls von der Firma Herzberg hergestellten Käse.

In zwei grossen Kühlschränken lagern die runden Käselaeibe diverser Sorten. «Es ist uns nicht erlaubt, sie nach den bekannten Schweizer Käsemarken zu benennen», hält der Geschäftsführer fest. Man könnte es eher als einen im Holzofen produzierten Käse oder als Bergkäse bezeichnen, überlegt er. Die umständliche Beschreibung, um koschere von nicht koscheren Arten zu unterscheiden, ist ihm bewusst. Trotzdem fragt er zur Sicherheit telefonisch beim Sohn in Israel nach. Bernhard Bollag war anfänglich bei jeder Produktion in der Schweiz dabei.   Seit 2008 kommt er nur noch hierher, um mit den Bauern, welche die Milch liefern, Verbesserungen zu besprechen.

Milchiges und Fleischiges getrennt

Kunden klingeln, Simon Bollag drückt mir kurzentschlossen das Telefon in die Hand und geht Käse abwiegen. Gekäst wird in der Schweiz, erfahre ich nun direkt von seinem Sohn. Dabei braucht es zwei Maschgiachs: Einer überwacht die anfängliche Reinigung, der andere ist bis zum Ende der mehrstündigen Produktion dabei.

Das Verfahren unterscheidet sich insofern von der traditionellen Käseherstellung, als kein tierisches Lab verwendet werden darf. Das Milchige vom Fleischigen zu trennen, ist einer der entscheidenden Aspekte der Speisegesetze. Das Enzym Lab, welches die Milch eindicken lässt, ohne dass sie sauer wird, kann heutzutage mit mikrobiellem Lab hergestellt werden. Die religiösen Vorschriften seien schon eine komplizierte Angelegenheit, meint Bernhard Bollag abschliessend.

Neben den beiden Maschgiachs habe er noch einen weiteren Mitarbeiter, erzählt der Vater weiter. In Teilzeitarbeit verpacke dieser den Käse. Eine andere Angestellte übernimmt bei Abwesenheiten die organisatorischen Aufgaben der Firma.

Simon Bollag kommt bei den vielen Kunden an diesem Nachmittag kaum nach mit Käseabschneiden, Abwiegen, Verpacken und Geldeinkassieren. Er gibt mir ein Stück vom Bergkäse zum Probieren, der cremig und mild schmeckt. Ob ich in einer Blindverkostung von koscher und traditionell hergestellten Käsen das Original erkennen würde, bin ich mir nicht sicher.

Ein Bergkäse, ähnlich dem Gruyère, und der Mutschli sind ebenfalls im Laden vorrätig. In seinem Privathaus lagert Simon Bollag in riesigen Kühlschränken weitere Käsesorten, einschliesslich Pizza- und Fetakäse. Zum Lichterfest Chanukka steige der Käseabsatz in der Schweiz unter der jüdischen Bevölkerung jeweils an. Nicht nur bei den zahlreichen Fonduepartys und Raclette-Einladungen ist der koschere Käse gefragt. «Mit Käse können Sie ein günstigeres Essen als mit Fleisch zubereiten», sagt Simon Bollag.

Veganer als Kunde

Dreimal täglich geht der gebürtige Zürcher in die Synagoge. «Die Religion begleitet praktisch mein ganzes Leben.» Vor dem morgendlichen Gottesdienst studiert er zusätzlich den Talmud. Über den Tag verteilt finden in den Synagogen im Quartier so viele verschiedene Gottesdienste statt, dass «man es sich jeden Tag aussuchen kann, wie es einem bequem ist». In diversen jüdischen Tagesschulen für Mädchen hält er gelegentlich Vorträge, wie beispielsweise zur Vorbereitung auf den Versöhnungstag Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag.

Über seinen Verdienst und den Umsatz des Geschäftes möchte Simon Bollag nicht sprechen. Doch es sei genug zum Leben. «Selbstverständlich spende ich zehn Prozent meines Einkommens an die jüdischen Institutionen», das sei vom Religionsgesetz so geregelt. Das Geld werde für Schulen, aber auch für arme Leute in Israel verwendet. Für diese sei das Leben in einer Grossfamilie bei den kleinen Einkommen und den hohen Steuern praktisch unmöglich. Ausserdem gibt er zu bedenken, dass «kein Land der Welt für den Krieg so viel Geld vom Bruttosozialprodukt ausgibt wie Israel».

Dass er an seinem Beruf den menschlichen Kontakt liebt, glaubt man dem jovialen Mann mit den vielen Lachfältchen unbesehen. «Und es macht mich stolz, etwas zur Religion beizutragen oder für die Leute.» Amüsiert berichtet er, dass seine Süssigkeiten nicht nur in seinem jüdischen Umfeld geschätzt werden. Einer seiner Kunden war zwar lediglich Veganer, habe aber unbedingt seine Produkte gewollt und sogar via Internet damit gehandelt. Obwohl koschere Schoggi teurer ist, «hat er nur dem Rabbiner vertraut, dass in der dunklen Schokolade wirklich keine Milch drin ist».

Religiöse Vorschriften
Speisegesetze Die Kaschrut (die jüdischen Speisegesetze) regeln die Zubereitung der Lebensmittel, welche in erlaubte – auf Jiddisch koscher – und nicht erlaubte – treife – eingeteilt werden. Die Grundlagen der religiösen Vorschriften stammen aus der Thora und betreffen drei Aspekte: zum einem die Unterscheidung von erlaubten und nicht erlaubten Tieren, zum anderen das Verbot des Blutgenusses und drittens die Trennung von fleischigen und milchigen Lebensmitteln. Der zuständige Rabbiner beantwortet die Fragen zur Einhaltung und Auslegung der Kaschrut. Sein Name wird aus diesem Grunde auf den Erzeugnissen vermerkt.
Feierlichkeiten Das jüdische Jahr geht ebenfalls von der Thora aus. Die Monate werden nach den Monden gezählt. Durch Schaltmonate werden die kürzeren Mondmonate im Jahr ausgeglichen. Deshalb fallen die Feiertage jedes Jahr auf andere konventionelle Kalendertage. Das jüdische Lichterfest Chanukka wird so Ende November oder Anfang Dezember gefeiert. Der Sabbat ist als Ruhetag für orthodox lebende Juden heilig und arbeitsfrei. Er beginnt mit dem Eindunkeln am Freitagabend und endet mit der Dunkelheit am Samstag.