24.06.2015
FOTO UND TEXT: Hakan Aki

Frank Riklin im Atelier für Sonderaufgaben St. Gallen, seinem «Sandkasten der Möglichkeiten».

Konzeptkünstler

Zwillinge mit Sonderaufgaben 

Dass Kunstschaffende ein eigenes Atelier haben, in dem sie ihre Werke präsentieren, ist nichts Neues. Aber ein Atelier für Sonderaufgaben? Auch das gibt es. Die Zwillinge und Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin aus St. Gallen erlangten damit weltweite Berühmtheit.

Das Atelier ist übersät mit Kisten, bis oben gefüllt mit rot-weissen Tüchern. An der Wand lehnen Stoffballen, ebenso in den Farben Rot-Weiss. Wenn der «Wettergott» mitspielt, sollen die Tücher am nächsten Sonntag zu einem grossen BIGNIK ausgelegt werden. Dafür muss für drei Tage die Sonne scheinen und das ausgesuchte Areal trocken sein. Um die Wiese von rund 2,5 Hektar Grösse auf dem Hummelberg in Hauptwil (TG) ins jährlich wachsende BIGNIK der Region zu verwandeln, müssen inzwischen 120 Auslegerinnen und Ausleger anpacken. 

Pro Einwohner ein Tuch

BIGNIK ist eines der Konzepte der Brüder Frank und Patrik Riklin aus St. Gallen. Da Patrik mit einer Erkältung zuhause liegt, ist Frank heute allein im Atelier. Immer wieder greift der grossgewachsene, bärtige Mann hastig in eine der unzähligen Kisten und holt ein Tuch hervor. «Durch das BIGNIK wollen wir gedankliche Konventionen sprengen», so der 41-Jährige. Für das BIGNIK sammeln die Brüder Bettlaken, Tücher und Vorhänge in den besagten Farben mit den Massen 1,40 x 1,40 Meter. Seit drei Jahren nähen Freiwillige die Stoffe zu Tuchmodulen zusammen. Ein Tuchmodul besteht aus vier Tüchern, an deren Enden sich ein Klettstreifen befindet, mit dem die Tuchmodule zusammengefügt werden können. Einmal jährlich wird die wachsende BIGNIK-Skulptur sichtbar. «Im Vergleich zum letzten Jahr ist das Tuch um 25 Prozent gewachsen», sagt Frank Riklin. BIGNIK ist ein Langzeitprojekt, das bis ins Jahr 2040 reicht. Ziel ist es, bis dahin ein BIGNIK-Tuch bestehend aus 252 140 einzelnen Tüchern auszulegen – ein Tuch pro Einwohner. Dies entspricht exakt der Einwohnerzahl der Region Appenzell AR–St. Gallen–Bodensee. Am Ende entspricht die bedeckte Fläche etwa 100 Fussballfeldern. Wege, Strassen und Häuser werden ausgespart und im BIGNIK-Tuch integriert.

Foto: Foto: Hakan Aki

«Die Fragen, die wir hatten, wurden in der Schule nicht behandelt»

An den Wänden des Ateliers in St. Gallen hängen wirre Skizzen, an mehreren Wandtafeln befinden sich Zeichnungen, die als Gedankenstütze für weitere künstlerische Projekte dienen. Frank Riklin will innerlich Kind geblieben sein, das Atelier sieht er als seinen persönlichen Spielplatz. Bekleidet mit einem schwarzen Hemd, einer schwarzen Jeans und einer gleichfarbigen Wollmütze auf dem Kopf, wirkt Frank dennoch warmherzig. Angst muss man vor diesem «schwarzen Mann» sicherlich nicht haben. Im Atelier für Sonderaufgaben kümmert sich Frank um das Finanzielle und die Buchhaltung. Er ist eher der ruhende Pol der Zwillinge. Patrik hingegen ist für die Medienarbeit zuständig und ist das Sprachrohr nach aussen. Helle Köpfe sind sie beide. Frank und Patrik Riklin kommen 1973 als Zwillinge von Alois und Ursula auf die Welt. Der Vater, ein grosser Musikliebhaber, lehrt Politikwissenschaften an einer Universität. Mutter Ursula ist Lyrikerin. Schon als Kinder rebellieren sie gegen Normen, Regeln und Standards und geniessen eine liberale Erziehung. In der Schule fühlen sich die Brüder nicht wohl und zu etwas anderem berufen. «Die Fragen, die wir hatten, wurden in der Schule nicht behandelt», so Frank Riklin. Gemeint sind philosophische Fragen, die beide von klein auf interessieren. Die Zwillinge ecken an und schaffen sich eine eigene Welt, in die sie immer wieder abtauchen. Sie entwickeln sogar eine eigene Zeichensprache. Nach der Schule machen Frank und Patrik Riklin eine Ausbildung als Hochbauzeichner. Während Frank anschliessend bildende Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich studiert, zieht es Patrik nach Frankfurt am Main an die Staatliche Hochschule für Bildende Kunst und danach nach Berlin.

Atelier für Sonderaufgaben 

Die Trennung der Brüder ist nicht von Dauer. «Macht mal etwas zusammen, hiess es von verschiedenen Seiten», erzählt Frank Riklin. Eines Tages finden die beiden ein Schild mit der Aufschrift «Sonderaufgaben». «Während eines Spaziergangs, bei dem wir uns intuitiv treiben liessen, kamen wir an der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt vorbei. Das Gebäude stand leer, nur am Ende des Korridors befanden sich verschiedene Täfelchen mit weisser Aufschrift. Wir nahmen das Schild ‹Sonderaufgaben› mit. Ein Jahr lag es auf meinem Pult.» Spasseshalber hängten die Zwillinge das Schild vor den Eingang zum späteren Atelier. «Eines Tages fragte uns ein Besucher, ob wir denn das Atelier für Sonderaufgaben seien. Danach wussten wir: Das sind wir», schmunzelt Frank Riklin. Mit dem Ziel, künstlerische Sonderaufgaben wahrzunehmen, für die sich keiner zuständig fühlt, gründen die beiden im Jahr 1999 ihr Atelier für Sonderaufgaben. Parallel dazu machen sie Ausstellungen und vernetzen sich mit der Künstlerszene, der sie sich im Laufe der Zeit immer mehr entziehen. «Die beste Kunst ist diejenige, die man gar nicht als Kunst wahrnimmt und die Teil der Gesellschaft wird» lautet ab jetzt ihr Motto. Spitzbübisch und doch humorvoll versuchen die beiden Konzeptkünstler, die Gesellschaft in eine andere Richtung des Denkens zu lenken, durchbrechen so festgefahrene Verhaltensmuster und agieren als «Störenfriede des gesellschaftlichen Systems». Immer wieder und mit Nachdruck sagt Frank Riklin: «Wir wollen die Menschen mit unserer Kunst zum Nachdenken bringen und setzen dort an, wo es weh tut.»

Foto: Foto: Hakan Aki

«The only star is you – wo der einzige Star Sie selber sind»

Frank Riklin unterbricht seine Erzählungen, läuft zu einem Bücherregal, in dem die literarischen Werke der Grösse nach geordnet in Reih und Glied stehen. Er stellt eine Leiter auf, steigt sie empor und holt ein Schild aus dem Regal. «Null Stern Hotel» steht darauf geschrieben. «Das hier ist das Originalschild unseres Schlüsselwerkes», sagt er. Das Jahr 2008 gilt als Jahr des künstlerischen Durchbruchs der Riklin-Brüder. Im schweizerischen Sevelen mitten im Rheintal eröffnen die Zwillinge das weltweit einzige «Null Stern Hotel». Das schlägt wie eine Bombe ein. Als Hotel dient ein stillgelegter Luftschutzbunker. Teppichböden? Fehlanzeige! Aber ein Butler darf nicht fehlen. Er begrüsst die Hotelgäste. Während man in der Hotellerieszene an bestimmte Kriterien gebunden ist, befreien sich die beiden Künstler von den Normen und Vorgaben, indem sie ihrem Hotel einfach null Sterne geben. Unter dem Motto «The only star is you – wo der einzige Star Sie selber sind» lehnen sie sich gegen das etablierte System auf und sorgen so weltweit für Aufsehen.

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Die Ideen-Werkstatt: Das Atelier für Sonderaufgaben Video: Caspar Türler

«Vom Schweizer Fernsehen über das ZDF in Deutschland bis hin zur BBC aus England und zu CNN aus Amerika haben uns nach Bekanntwerden des Projekts alle die Bude eingetreten», so Frank Riklin. Seine Augen funkeln. Die Zufriedenheit über das Erreichte ist Frank Riklin ins Gesicht geschrieben. Während eines Jahres haben 29 Gäste aus verschiedenen Ländern im ehemaligen Bunker übernachtet. Heute dient das sogenannte «Null Stern Hotel» als Museum. Den Namen des Hotels haben die Zwillinge rechtlich schützen lassen. Helle Köpfe eben. «Wir versuchen, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Das bedeutet, Dinge, die den Alltag betreffen, von einer anderen Perspektive zu durchleuchten und mit der Waffe der Kunst in den Alltag einzugreifen», so beschreibt Frank Riklin seine tägliche Arbeit als Künstler. Was als Vision begonnen hat, neben dem Studium zu Geld zu kommen, habe sich heute zu einem «artonomistischen Unternehmen» entwickelt, erklärt er. Unter Artonomie verstehen sie die Schnittstelle zwischen Kunst und Ökonomie. «Wir machen unabhängige und kompromisslose Kunst. Nicht der Kunde, sondern der Inhalt ist König. Das Wesen der Kunst regiert. Anders ausgedrückt spielen wir im Sandhaufen der Möglichkeiten», so Frank Riklin, der sich selbst als offen, hartnäckig und auch teilweise manisch beschreibt. «Da wir Zwillinge sind, trifft das auch auf Patrik zu», lacht er verschmitzt.

Foto: Foto: zVg

«Wie viel Wert hat eine Fliege?»

Während Frank Riklin von der «Fliege Erika» erzählt, kocht er Kaffee. «Bei Kaffee und Kuchen ist auch unser Projekt ‹Erika› entstanden.» Eigentlich sollen Frank und Patrik Riklin im Jahr 2012 die Markteinführung einer neuen Fliegenfalle in Deutschland bewerben. Die beiden St. Galler Konzeptkünstler drehen den Spiess einfach um. Statt wie ursprünglich geplant Fliegen zu töten, werden in Deppendorf, nahe dem deutschen Bielefeld, nun Fliegen gerettet. Die Riklins bringen den Hersteller der Fliegenfalle zum Umdenken, indem sie gemeinsam mit ihm das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Fliege thematisieren. Unter dem Titel «Fliegen retten in Deppendorf» realisieren sie 2012 eine kafkaeske Kunstaktion. Insgesamt werden 902 Fliegen «eingefangen» und in einen artgerechten Glaskasten gebracht. Höhepunkt der Aktion ist die Verlosung eines Wellness-Ausfluges für zwei Fliegenretter nach Oberbayern. Deren gerettete «Fliege Erika» bekommt sogar eine eigene Bordkarte und geniesst das Privileg, neben ihren Rettern im Flieger zu sitzen.

Vom Fliegenfänger zum Insektenschützer

Durch die Aktion geben die Künstler gleichzeitig die Antwort auf die von ihnen gestellte Frage: «Wie viel Wert hat eine Fliege?» Denn: Der Unternehmer, der ursprünglich seine Fliegenfalle vermarkten wollte, hat heute hoch über den Dächern seines Firmengebäudes ein Biotop errichtet. Für die «Fliege Erika» selbst war der mediale Aufschrei zu viel des Guten. Sie verabschiedete sich in die ewigen Jagdgründe. Ihre letzte Ruhestätte fand Erika in einem Glassarkophag im Fussboden der renommierten Kunstsammlung der Universität St. Gallen – neben Werken von Gerhard Richter, Roman Signer und Alberto Giacometti. Dass Konzeptkünstler ihr Projekt ausgerechnet dort und somit im öffentlichen Raum ausstellen, sorgte wieder für Furore. Ganz nach dem Geschmack der Riklins. Warum sich die Zwillinge ausgerechnet für Deppendorf als Ort für das «Fliegenretten» entschieden haben, wird auch klar. «In Deppendorf waren keine Deppen», so Frank Riklin. Just in diesem Moment setzt sich eine Fliege auf den Arm des Künstlers. «Erika hat uns gehört und ist wiederauferstanden», lacht er.